***** hervorragend **** hörenswert *** Licht und Schatten
** nur bedingtes Vergnügen * überflüssig
Don McLean: American Boys ***
BFD (USA 2024)
Produced by Michael Severs
13 Tracks - 48:47 Min.
Im Oktober 1971 überraschte Don McLean die Musikwelt mit seinem Song „American Pie“, der mit einer Länge von 8:42 Minuten erzählt, wie die amerikanische Rock-Musik ihre Unschuld verloren hat. Der tragische Tod von Buddy Holly bei einem Flugzeugabsturz und die Schießereien bei dem Open-Air-Festival von Altamont sind für McLean die Tage, an denen die Musik gestorben ist und ihre reichen Quellen ausgetrocknet wurden. Trotz mancher verrätselter poetischer Bilder und der epischen Länge stand der Song 19 Wochen an Nummer 1 der US-amerikanischen Billboard-Charts. Doch die Zeitabstände zwischen den neuen Alben wurden ab den 1980er Jahren immer größer, die Anzahl neuer Eigenkompositionen immer kleiner. Insofern darf man es fast als Überraschung werten, dass McLean nun mit einer Sammlung von 13 neuen Songs (alle selbst geschrieben, vier davon in Kooperation mit seinem Freund Vip Vipperman) wieder ein Lebenszeichen abgibt. Zudem markiert er mit dem Titelsong einen bewussten Bezug zu seinem unvergesslichen Jahrhundert-Lied.
Dieser neue Titelsong hat aber gar keinen morbiden oder lyrischen Charakter, er ist vielmehr eine eher naive Hommage an die alten weißen und schwarzen Männer, die den Rock & Roll, den Rhythm & Blues und den Hillbilly-Country erfunden haben. Musikalisch bewegt er sich im geradlinigen Mainstream-Rocksound irgendwo zwischen Albert Hammond und Bob Seger, im Hintergrund sorgt die Country-A-Capella-Band Home Free für Schönklang. Der Text ist auch nicht sonderlich verklausuliert, es zeigt sich schon beim ersten Anhören, dass hier die Herren Fats Domino, Little Richard, Elvis Presley, Chuck Berry. Buddy Holly, Hank Williams Marty Robbins und Johnny Cash gefeiert werden. Der Unterschied zwischen „American Pie“ und „American Boys“ ist also ungefähr so wie zwischen einer psychedelisch gewürzten Bio-Vollkorn-Genussschnitte und einer maschinell hergestellten Sahnetorte mit synthetischen Farbstoffen.
Überhaupt scheint Don McLean in den 1970er Jahren steckengeblieben zu sein, denn seine Kompositionen bewegen sich in der äußerst konventionellen Stilistik des Mainstream-Rock, des Blues-Rock oder des Country-Rock. Inhaltlich schwankt er zwischen gefälligen Love Songs (bei „Mexicali Gal“ bewegt er sich auf dem Niveau von Bands wie Smokie!) und holzschnittartigen Kommentaren zur Zeit. Fast pflichtschuldig erscheint sein Kommentar zum Fall George Floyd, der durch den Anruf seiner Mutter verniedlicht wird, und bei „Resurrection Man“ kommt er gar mit einer christlichen Botschaft daher. In einem Interview hat er die Lage der Obdachlosen in den USA beklagt, dies aber mit der These verbunden, man solle sich lieber das Geld für die Unterstützung der Ukraine sparen. Nur zwei Songs können ein bisschen überraschen: zum einen der Sprechgesang „Vacant Luxury“, der nur von einer Bassgitarre begleitet wird und die Thematik des reichen Jedermann beleuchtet („If you have no love to give / You will never be free of vacant luxury“), zum anderen der schräge Love Song „The Meanest Girl“, der aus der Feder von Randy Newman stammen könnte.
Bei den Cover Notes erklärt der alte, weiße Mann Don McLean (geboren 1945), dass er eigentlich gar kein neues Album mehr machen wollte, dass ihm aber die Corona-Pandemie plötzlich Zeit für Songwriting schenkte. Das Ergebnis ist trotz unveränderter vokaler Präsenz bescheiden, und wir greifen lieber zu den Best-Of-Kompilationen der Vergangenheit.
Greg Copeland: Empire State ****
Hemifran/Paraply Records (Sweden 2024)
Produced by Tyler Chester
5 Tracks - 20:24 Min.
Es ist wirklich musikalisches slow food, das Greg Copeland seinen Anhängern liefert. Seit 1982 hat er gerade mal drei Alben und nun noch eine EP auf den Markt gebracht, das ist wirklich ein dürftiger Output. Dabei ist alles, was Copeland im Studio fertiggestellt hat, von höchster Qualität: „Revenge Will Come“ (1982) war ein meisterliches Debüt, „Diana And James“ (2008) war eine kreative Wiedergeburt und „The Tango Bar“ (2020) ein vollkommen abgeklärtes Alterswerk. Nun gibt’s noch als Draufgabe die vorliegende EP mit vier selbstkomponierten Songs, die wohl schon bei den Tango-Sessions entstanden sind und einem 50 Sekunden dauernden Coyote-Gebell.
Wir haben also Zeit, die hervorragenden Songs genauer unter die Lupe zu nehmen und die Repeat-Taste am Player gedrückt zu halten. „Boon Time“ ist ein akustischer Folk-Blues im Stile von Townes van Zandt, in dem Greg Copeland seine Ratlosigkeit angesichts bedrückender Zeitumstände verdeutlicht: „One day all alone / feather bed long gone / gunshot ringtone / honey what do we do now?“ Stimmlich erinnert er mit kratzigen Vocals an Randy Newman, Lee Clayton oder Steve Earle.
„We The Gathered“ ist dagegen der Versuch einer optimistischen, revolutionären Hymne mit der scheinbar einfachen Botschaft: Sei menschenfreundlich! Doch in den einfachen County-Blues-Rock mischen sich die psychedelisch-verzerrten Gitarren-Flächen von Van McCallum und - passend dazu - verstörende poetische Bilder: „nation in peaces / people in pain / systematic bullshit / thick as sugarcane“.
„4:59:59“ erzählt von einem Charakter aus der Arbeiterklasse, der im Sinne der Drogen-Resozialisierung einem Bautrupp in Utah zugeordnet wurde und nun Stromkabel in die Erde legt: „there is something cold in the ground“. Der Song bekommt eine besondere Qualität durch die Gitarre und die Mandoline von Greg Leisz sowie durch die Violine von Sara Watkins.
Copelands perfektes Storytelling endet mit dem Titelsong, der Geschichte einer jungen Frau (Musikerin?), die New York verlässt und sich mit ungewisser Zukunft Richtung Westen aufmacht: „see you out west if you want a new mistake / see you out west if you want a little more heartbreak“ - der Kalifornier Copeland weiß, wovon er hier spricht. Dazu wählt er einen eher modernen Country-Blues-Sound, der auch in das Repertoire von Jackson Browne passen würde und der durch die Pedal Steel Guitar von Greg Leisz veredelt wird.
Jetzt ist Copeland 78Jahre alt und könnte noch ein Versprechen einlösen. Er sagte nämlich: „Wenn ich eine Band zusammenstellen könnte, für die ich selbst an einem Freitagabend meine Couch verlassen würde, um sie anzusehen, dann gehe ich auf Tour!“ Wir bleiben hoffnungsfroh und empfehlen als Live-Line-Up Val Mc Callum, Greg Leisz, Tyler Chester, Jennifer Condos und Jay Bellerose!
https://www.gregcopelandmusic.com/
https://hemifran.com/news/detail/u/1737/Greg%20Copeland/Empire%20State/
Venice: Stained Glass *****
Lennon Records (USA 2024)
Produced by Michael Lennon
17 Tracks - 70:14 Min.
Es wird bald 50 Jahre her sein, dass sich die vier Lennon-Verwandten Michael, Kipp, Mark und Pat als sonnenverwöhnte Boys am Venice Beach zu einer gemeinsamen musikalischen Reise entschlossen haben. 1986 gab es eine selbstproduzierte EP mit vier Eigenkompositionen („Do It Yourself”), 1990 die erste CD auf einem kommerziellen Label (Atlantic). Seitdem sind etwa 20 weitere Alben erschienen, Touren durch die USA und Europa fanden statt und manche Einladungen als Backing-Vokalisten für große Namen wurden ausgesprochen. Und noch immer gilt das Urteil. vom verstorbenen David Crosby, dass Venice die beste Vocal Group Amerikas ist. Das unterstreichen sie überdeutlich mit ihrer aktuellen CD „Stained Glass“, auf der sie 16 Songs in ihrem unverwechselbaren kalifornischen Soft-Rock-Stil zelebrieren und als Abschluss noch ein schmissiges Live-Instrumental („Wallbender’s Lament“) anfügen, bei dem Michael und Pat mit ihrer Rhythmus-Sektion Mark Harris (b) und Andre Kemp (dr, perc) die Gitarren rauchen lassen.
Das Erfolgsgeheimnis dieser neuen CD ist der gute Plan, sich nicht in den Niederungen des Hausfrauen-Nachmittags-Radio-Pop zu verirren, sondern mit originellem Songwriting auch die rockige Kante nicht zu vergessen. Deshalb sind Vergleiche mit den großen Eagles, mit CSN, Steely Dan, Paul Simon oder John Mayer gar nicht so abwegig.
Zum Auftakt gibt es einen entspannten Blick auf die conditio humana im 21. Jahrhundert („Let’s Call It Human“), gefolgt von einem extrem radiotauglichen Song mit Hitpotential („Fools Gold“). Einige akustisch geprägte Balladen würden auch perfekt ins Repertoire von Christopher Cross oder Richard Marx passen (z. B. „Odds And Ends“), bei „Sun Will Go Down“ taucht noch überraschen ein Trombone-Solo von Evan Dexter auf.
„Morning Star“ klingt wie eine Hommage an die Beach Boys mit den typischen Kompositions-Strukturen eines Brian Wilson. Nicht verwunderlich, dass sich die guten Menschen vom Venice Beach auch Gedanken über den Zustand ihres eigenen Landes machen und eine klare Antwort auf hate speech und gesellschaftliche Spaltung geben: „One kind word can mend a broken heart“. Oder fast schon hymnisch: „A civil war we all can do without … I pray we come together soon“. Dazu passt auch das opus magnus der CD, der 6:19 Minuten dauernde Song „Souls Connected“, und die Betonung der Familien-Tradition, die dazu führt, dass bei einem Song schon die nächste Lennon-Generation mitsingt: Avalon, Rowdy, Roman & Dutch Lennon. Ganz in der Tradition von Crosby, Stills & Nash sind „Beautiful Flower“ (erinnert harmonisch ganz leicht an „Love The One You’re With“) und „Set My Course“ mit typischen Graham-Nash-Vocals.
Venice wirkt aber nie wie eine Cover-Band, sie kreieren ihren eigenen Sound, der allerdings sehr tief im Westcoast-Sound der 70er Jahre verwurzelt ist. Das Ergebnis sind 70 Minuten optimistische und positiv stimmende Musik, ohne dabei in die gefährlichen Heile-Welt-Klischees zu verfallen. Nicht nur die Fan-Gemeinde sollte den musikalischen Blick aus den Kirchen-Fenstern wagen und sich die vielleicht beste Venice-CD aller Zeiten anhören.
Michael Menager: Line In The Water ****
Independent (USA 2023)
Produced by Heath Cullen
10 Tracks - 36:31 Min.
Das Leben von Michael Menager war eine lange Reise, immer auf der Suche nach einem Sinn und immer mit einer roten Gibson J 50 Gitarre im Handgepäck (wird heute gebraucht für ca. 2000 Euro gehandelt!). Der Weg führte ihn von Kalifornien über Algerien, Europa und Oregon nach Australien, wo er nun wohl in New South Wales sesshaft geworden ist. Dort hat er mittlerweile sein drittes Album mit dem Titelsong „Line In The Water“ im Selbstverlag veröffentlicht, eine Art philosophischer Bestandaufnahme mit diversen Blicken zurück in die Vergangenheit.
Die CD wurde aufgenommen in Candelo, New South Wales mit den Devil Creek Rounders (Rusty Lavonne, Bess Maloney und Slim Fitz) und mit seinem deutlich jüngeren Freund Heath Cullen als Produzent. Das musikalische Ergebnis ist ein entspannter Folk-Blues, in den man sich meditativ hineinfallen lassen kann und der an große Namen wie J. J. Cale, Steve Earle, Townes van Zandt oder John Prine erinnert. Die Arrangements sind spartanisch gehalten, alles basierend auf Menagers akustischer Gitarre und geprägt von seiner markanten, konturenreichen (Sprech-)Stimme. Menager erzählt von der lebenslangen Suche, etwa in dem Song „Flesh Agains Bone“, wo es heißt: „I have to find the garden on my own“, aber auch im letzten Titel des Albums (komponiert von Heath Cullen) mit der Botschaft „we all need some place to hang your hat“.
Menager leistet auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Will-Haben-Gesellschaft („All day long they try to sell me“) und über die Notwendigkeit permanenter Veränderung („Baby, I Can Change“). Menager berichtet von den Naturgewalten in seiner neuen Heimat Süd-Australien, von Hochwassern und Waldbränden, die existentiellen Charakter haben.
Wer viel unterwegs war, kann auch viel berichten von Wegen und Irrwegen, von den Studentenprotesten gegen den Vietnam-Krieg, von dem Erlebnis, den Text des Bob-Dylan-Songs „Mr. Tambourine Man“ zu hören, von Entwicklungshilfe in Afrika oder von einem längeren Exkurs in die Bhagwan-Szene. Am Ende verläuft das Leben manchmal recht normal: von einem Sonnenaufgang zum Sonnenuntergang („Just This“). Das führt auch zu der späten Altersweisheit: „It’s alright to be brave / but sometimes you’ve got to duck for cover“.
Michael Menager ist ein nachdenklicher Manager der menschlichen Existenz und seine Musik lädt geradezu magnetisch zum Mitdenken ein. Dicke Empfehlung!
The Immediate Family: Skin In The Game ****
Quarto Valley Records (USA 2024)
Produced by The Immediate Family
14 Tracks - 55:00 Min.
Jahrzehntelang waren sie als Studio-Musiker, Songwriter, musikalische Direktoren und Tour-Band für große Namen wie James Taylor, Jackson Browne, Stevie Nicks, Phil Collins, Keith Richard, Warren Zevon, Linda Ronstadt, Carole King, Don Henley, Joni Mitchell oder Crosby, Stills & Nash unterwegs, nun haben sie vor drei Jahren eine unerwartete Entscheidung getroffen: wir sind eine Band! Das war eine glückliche, aber auch natürliche Fügung, denn so können Waddy Wachtel, Danny Kortchmar, Steve Postell, Leland Sklar und Russ Kunkel ihre überragenden Fähigkeiten einmal ganz für sich selbst präsentieren. Mittlerweile gibt es zwei Alben, mehrere EPs, mehrere Touren und jetzt sogar eine filmische Dokumentation (Regie: Denny Tedesco) mit dem bezeichnenden Untertitel „The Band behind the scene“.
Dass die älteren Herren auch optisch etwas hermachen, wenn sie auf dem blauen oder roten Sofa sitzen, beweist das Cover ihrer aktuellen CD „Skin In The Game“. Diese enthält 14 Songs, davon sind 13 Eigenkompositionen - plus ein sehr überraschendes Cover: „The Toughest Girl In Town“ aus dem Jahr 1988 von den Mael-Brüdern, bekannt als The Sparks. Die Leadvocals sind schön demokratisch aufgeteilt: Waddy Wachtel ist 5x, Danny Kortchmar 6x, und Steve Postell 4x der stimmliche Frontmann. Dahinter steht wie eine Festung die legendäre Rhythmusgruppe mit Leland Sklar (b) und Russ Kunkel (dr), von denen schon viele prominente Künstler gesagt haben, dass sie eben das gewisse Etwas mitbringen.
Wenn man sich die einzelnen Songs anhört, möchte man fast ein bisschen spekulieren, an welchen ihrer großen Klienten der jeweilige Titel erinnert. „Fragile Heart“ wäre ein perfektes Match für Neil Young, bei „Whole Lotta Rock And Roll“ und bei „24/7/365“ wünscht man sich eine Wiederauferstehung von Warren Zevon oder Tom Petty. „Catch You On The Other Side“ hat den lockeren Flow der Doobie Brothers und „Confusion“ den Blues-Rock-Groove von Little Feat. „Party At The Graveyard“ hat den Retro-Touch, den auch der mittlere Jackson Browne bevorzugte (man vergleiche „Somebody’s Baby“!) und „Lost in The Shuffle“ könnte eine Komposition von Stephen Stills für die rockige Seite von CSN sein.
Mein persönlicher Favorit ist „Love Suicide“, ein Song, der auch die Rolle von Steve Postell als Songwriter und Sänger für die high notes unterstreicht. Insgesamt findet hier natürlich keine Rock-Revolution statt, dafür aber ein spannendes Wiedersehen mit lebenden Legenden des Westcoast Rock der 70er und 80er Jahre. Oder sprichwörtlich formuliert: the family that plays together stays together!
Blackberry Smoke: Be Right Here ***
3 Legged Records / Thirty Tigers (USA 2024)
Produced by Dave Cobb
10 Tracks - 40:13 Min.
Kurz nach der Veröffentlichung ihres achten Albums musste Band Blackberry Smoke einen traurigen Schicksalsschlag hinnehmen: ihr Schlagzeuger Brit Turner ist Anfang März 2024 an einem Gehirntumor, der vor zwei Jahren diagnostiziert wurde, gestorben. Im Booklet der CD ist davon natürlich noch nicht die Rede, Brit Turner war sogar für die Art Direktion verantwortlich. Nun müssen die Band und sein Bruder, der Bassist Richard Turner, nach einem Ersatz suchen, denn die Show geht unwiderstehlich weiter und langfristig geplante Tourneen stehen an.
Über die Musik der Blackberries ist nicht allzu viel Neues zu vermelden: sie bleiben im Wesentlichen ihrem erdigen Southern Rock treu und starten mit „Dig A Hole“ in vertrauten stilistischen Gewässern. Dann aber driften sie immer wieder in mainstreamiges Country-Gefilde, schnuppern ein bisschen im schwarzen Gospel-Sound, versuchen sich an konventionellem Blues-Rock und präsentieren mit „Azalea“ (dort findet sich auch die titelgebende Zeile „Home will always be right there“) sogar sehr melodiösen Folk-Rock, der auch auf die frühen Alben von Crosby, Stills & Nash gepasst hätte. Der vielfach Grammy-prämierte Produzent Dave Cobb lässt natürlich auch nichts anbrennen und steuert die Band zielsicher in Richtung Radiotauglichkeit.
Leider muss man feststellen, dass die unverkennbare Stimme von Bandleader Charlie Starr zwar nicht gelitten hat, dass aber seine Kompositionen immer mehr zu Selbstzitaten absinken. Und textlich haben sich die Südstaaten-Rocker aus Georgia sowieso immer im grünen, d.h. im unverfänglichen Bereich bewegt. Das preiswerte Selbstmitleid von „Hammer And The Nail“ und „Be So Lucky“ kann nicht besonders provozieren und „Little Bit Crazy“ ist halt der typische Mitmach-Song fürs Live-Publikum. Bei allen zehn Songs war Charlie Starr am Werk, manchmal mit bekannten Co-Autoren wie Keyboarder Brandon Still, wie Singer/Songwriter Travis Meadows oder wie Buckcherry-Gitarrist Keith Nelson.
So bleibt als vorläufiges Fazit, dass die Band schon deutlich bessere Alben veröffentlicht hat, dass sich aber ein Besuch ihrer Konzerte - z. B. auf der September-2024-Europa-Tournee, die sie auch nach München, Berlin und Köln führen wird - wahrscheinlich immer noch lohnt.
The Burrito Brothers: The Notorious Burrito Brothers ***
The Store For Music (USA 2020)
Produced by The Burrito Brothers
9 Tracks - 42:14 Min.
Die verworrene Geschichte dieser legendären Band startete um 1969 mit der ersten LP der Flying Burrito Brothers: „The Gilded Palace Of Sin” war vor allem ein Produkt der beiden Frontmännern Gram Parsons und Chris Hillman. Doch schon bald gab es einen ständigen Wechsel des Personals und teilweise zwei Bands mit demselben Namen. 1981 wurde der Band-Name auf The Burrito Brothers gekürzt, und nur noch Sneaky Pete Kleinow (pedal steel) war von der Original-Besetzung dabei. Um das Vermächtnis dieser legendären Country-Rock-Band haben sich in der Folge Rick Roberts, Gib Gilbeau und John Beland verdient gemacht.
Mittlerweile ist die soundsovielte Generation der Nachlassverwalter am Werk, das sind derzeit Chris P. James (voc, keyb, harm), Tony Paloetta (pedal steel, dobro), Bob Hatter (g, b) und Peter Young (dr, voc, perc). 2020 haben sie das vorliegende Album in Franklin, Tennessee (mit Peter Young als Recording Engineer) aufgenommen und dabei recht nostalgische Züge entwickelt: der Albumtitel samt Cover ist eine Erinnerung an die 1968 erschiene LP „The Notorious Byrd Brothers“ von den Byrds. Aus dem Turmfenstern schauten damals Roger McGuinn, David Crosby, Chris Hillman und Michael Clarke. Auf der CD findet sich auch „Dark End Of The Street”, der Country-Soul-Klassiker von Dan Penn und Chips Moman (1966), den schon die FBB im Programm hatten. Daran schließt sich ein Song von Ron Guilbeau - dem Sohn von Gib Guilbeau - an, der mit „Do Right Man“ an „Do Right Woman“ vom Penn/Moman erinnert. Und „Sometimes You Can’t Win” von Gram Parsons und Fred Neil passt natürlich auch in die Schiene der Tradition.
Die restlichen sechs Titel stammen von den aktuellen Band-Mitgliedern, die damit dem modernen Tennessee-Country-Rock folgen, aber auch mit „Love Is A River“ einen fast zehnminütigen Ausflug in psychedelische Gewässer wagen. Stilistisch erinnert vieles an Cimarron 615, die Nachlassverwalter von Poco. Der Song „Acrostic“ präsentiert noch ein schönes klassisches Stilmittel, denn die Anfangsbuchstaben der einzelnen Verszeilen ergeben den Satz: „Make us famous, we need to be heard, ok!“ Diesem Auftrag sind wir jedenfalls teilweise gefolgt! Ob das mit der Berühmtheit noch gelingt, wird die Zukunft zeigen.
Ted Russell Kamp: California Son ******
KZZ Records / Blue Elan (USA 2024)
Produced by Ted Russell Kamp
12 Tracks - 46:51 Min.
Seit über 20 Jahren lebt und arbeitet der gebürtige New Yorker Ted Russell Kamp als Produzent, Songwriter, Bassist und Sänger in Los Angeles, er hat die musikalische Tradition von Südkalifornien aufgesogen und findet für sich nun auf seinem 14. Album die Bezeichnung „California Son”. Die 12 Songs, die er selbst (teilweise zusammen mit lokalen Freunden) geschrieben hat, sind eine Hommage an den Westcoast Sound der 1970er Jahre: als die Eagles ihre legendäre erste LP veröffentlichten, als Tom Waits „The Heart Of Saturday Night“ erforschte und als Jackson Browne zusammen mit David Lindley den Sound dieser Epoche prägte.
All das fasst der Titelsong kongenial zusammen: die Atmosphäre in der Stadt, die großen Live-Schauplätze (Palomino und Troubadour), die kreative Landgesellschaft im Laurel Canyon und die Bilder-Magie von Hollywood. Ein weiteres Highlight der CD ist der Song „Shine On“, den Kamp zusammen mit der Band „I See Hawks In L.A.“ (Rob Waller und Paul Lacques) produziert hat und der mit seinen satten Vokal-Harmonien an die frühen Eagles oder an Jack Tempchin erinnert.
TRK präsentiert sich auf dem aktuellen Album vor allem als nachdenklicher Songwriter („One Word At A Time“), als rastloser Live-Musiker („Ballad Of The Troubadour“) und insgesamt als markanter Sänger mit einer unverwechselbaren Stimme. Er kann sich auch perfekt mit der akustischen Gitarre begleiten („Firelight“) und ist der komplette Showman, wenn er nur mit Bass und Vocals allein auf der Bühne steht - hier demonstriert mit dem Blue-Collar-Blues „Hangin‘ On Blues“). Die amerikanische Tradition des Road-Movies übersetzt er stimmungsvoll in Musik bei „High Desert Fever“ und „Miracle Mile“. Gleichzeitig beweist er auch noch sein Gespür für den Mainstream Americana Rock, wie ihn das große Vorbild Tom Petty zelebrierte: man höre sich „Hard To Hold“ oder „Every Little Thing“ an und fühle sich in ein rauschendes Konzert von den Heartbreakers versetzt.
Alle Songs hat TRK in seinem eigenen Den-Studio eingespielt, als zuverlässige Gäste des L.A.-Netzwerks hat er Brian Whelan (g, keyb, voc), John Scheffler (g, pedal steel, voc), Jamie Douglas (dr) und Shane Alexander (co-write & back voc) eingeladen. Schon einmal (2011) landete Ted Russell Kamp mit „Get Back To The Land” einen ähnlichen Nostalgie-Treffer, aber diesmal wirkt der Sound noch frischer, noch unverbrauchter, als wäre die große Zeit des Westcoast-Country-Rock in voller Blüte. Und vielleicht ist ja wirklich auf der CD ein Song drauf, der die Welt ein bisschen besser macht und an den wir uns noch in 50 Jahren erinnern werden?
Ray Bonneville: On The Blind Side ****
Independent (USA 2023)
Produced by Will Sexton & Ray Bonneville
9 Tracks - 30:29 Min.
Es sind mittlerweile 76 Jahre, die Ray Bonneville in Kanada, USA, Vietnam und Teilen von Europa verbracht hat und die seine Musik geprägt haben. In einem früheren Song hat er sich als “Bad Man’s Son” bezeichnet, im Titelsong seines aktuellen Albums (es ist insgesamt die Nr. 10) erinnert er sich an die dunklen Räume seine Kindheit, an einen Jungen mit Schleuder und Klappmesser, an einen prügelnden Vater und an eine Mutter, die ihm mit einer gebrauchten Gitarre neue Wege öffnete.
Da liegt der Blues sehr nahe, und Bonneville hat diesen Lebens-Stil eine Zeitlang in New Orleans begierig aufgesogen. Er wurde zu einem weißen Botschafter des rhythm of slowness, komponiert seine Songs im mittleren Tempo mit entspannter Gitarrenarbeit, einer angerauten Stimme und vereinzelten Einwürfen auf der Harmonica. Schon der Opener „Lucky Moon“ drängt Vergleiche mit J. J. Cale unbedingt auf, hier entfaltet sich ein relaxter Delta-Groove, getragen von zwei Gitarren (seiner eigenen und der von Produzent Will Sexton). Bonnevilles berufliche Exkursionen als Taxifahrer und Pilot, dazu seine Neigung zur Beobachtung einer prekären „Halbwelt“ schlagen sich in dem Song „Night Cab“ nieder, beim „Streetcar Man“ nutzt er Erfahrungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln in Großstädten.
Dazu kommen noch diverse Beziehungs- oder besser: Trennungs-Geschichten, etwa bei „The Way It Was Before“ oder bei „Made Yourself A Home“. Geradezu ikonisch ist das Porträt von Ray Bonneville auf dem Cover: er sitzt entspannt in einem Polstersessel, irgendwo auf einer menschenleeren Veranda. Diese Ansicht symbolisiert die Botschaft seines letzten Songs „Even With Time“: die Zeit heilt alle Wunden, oder zumindest ein paar davon.
Dicke Empfehlung für diese in Austin/Texas produzierte CD von einem in Würde gealterten Singer/Songwriter, der den Blues-Rock mit folkigem Americana-Sound verbunden hat. Da hätte man sich sogar noch etwa drei Songs mehr wünschen können!
Josh Gray: Walk Alone ***
Independent / Continental Record Services (USA/NL 2023)
Produced by Josh Gray
10 Tracks - 40:41 Min.
Nachdem Johnny Cash und Waylon Jennings nicht mehr unter Lebendigen weilen, nachdem Willie Nelson und Kris Kristofferson sichtlich alt geworden sind, muss die Enkel-Generation der Country-Outlaws die Tradition fortsetzen. Zu diesem Genre zählt auch Josh Gray, geboren in San Francisco, aufgewachsen in Maryland und mittlerweile angesiedelt in der Metropole Nashville, der mit „Walk Alone“ sein zweites vollständiges Album vorlegt.
Seine musikalische Karriere ist bislang eher holprig verlaufen, mit der Debut-EP „Josh Gray“ (2015) und dem folgenden Album „Songs Of The Highway“ (2019) ist der Durchbruch trotz vielversprechender Lobeshymnen einzelner Rezensenten noch nicht gelungen, doch Josh Gray will den harten Weg von Crowdfunding-Kickstarter-Aktionen und flächendeckenden Live-Auftritten nicht verlassen. Und mit dem Titelsong, einer blueslastigen Country-Rock-Nummer, unterstreicht er diesen Anspruch: „I’ve been told countless times, / Don’t you know you’ll never be known / But I know myself just fine, / Sometimes you’ve got to walk alone“.
Zu seiner soliden Backing Band „Dark Features“, bestehend aus Julio Matos (b) und Jason Munday (dr), hat er den Gitarristen Sean Thompson und den Pedal Steeler Brett Resnick ins Bomb Shelter Studio in Nashville eingeladen. Herausgekommen sind schließlich zehn „schwere“ Songs, die manchmal an Townes van Zandt, Lee Clayton oder Warren Zevon erinnern, geprägt von Zorn, Verzweiflung und Weltschmerz. Ein bisschen aus dem Rahmen fallen da die Liebes-Ballade „She Think’s The World Of Me“ und die optimistischen Untertöne bei „Burning Paradiese“, einem Duett mit Morgan Conners.
Ansonsten beklagt er die Chancen für neue Künstler bei kommerziellen Radiostationen und den Zustand der Welt überhaupt („Money Or Blood“). Das Highlight des Albums ist für mich die an Jack Kerouac angelehnte On-The-Road-Story „Back East“ mit viel twangy Guitar und rauchigen Organs. Einigen anderen Songs fehlt die Kreativität im Arrangement und die Variabilität des Gesangs - es wirkt ein bisschen „grau“. Somit bleiben wir bei einem kopfnickenden „Ja, aber“ und wünschen Josh Gray auf jeden Fall noch viel Erfolg bei seinen weiteren musikalischen Exkursionen: „I’ve seen the sun go down / In so many different places / Studied lines like road maps / In so many strangers‘ faces“.
https://www.joshgraymusic.com/
https://continentalrecordservices.bandcamp.com/album/walk-alone
Eric Brace & Thomm Jutz: Simple Motion
Red Beet Records (USA 2024)
Produced by Thomm Jutz & Eric Brace
14 Tracks - 48:22 Min.
Wer die zwei Trio-Alben von Eric Brace, Peter Cooper & Thomm Jutz („Profiles in Courage, Frailty and Discomfort” und „Riverland”) nicht in seiner Sammlung hat, hat leider eine Lücke - die sich aber nachträglich noch schließen lässt. Wer das Trio Brace, Cooper & Jutz einmal live gehört hat, hatte ein unvergessliches Erlebnis - das sich leider nicht mehr wiederholen lässt. Denn Peter Cooper starb - viel zu früh - im Dezember 2022 an einem Gehirntumor und hinterließ viele trauernde Freunde und Fans.
Jetzt haben sich Eric und Thomm aber entschlossen, die musikalische Tradition fortzusetzen und ganz im Sinne Peter Coopers ein neues Album zu produzieren. Eric Brace ist gleichzeitig Labelchef von Red Beet Records in Nashville, Thomm Jutz - vor geraumer Zeit von Deutschland nach USA emigriert - hat sich mit seinem Aufnahme-Studio in East Nashville mittlerweile einen gehörigen Ruf in der Folk- und Bluegrass-Szene erarbeitet.
Das Ergebnis ist ein hervorragendes 14-Song-Paket der beiden, das ganz in der Tradition des akustischen Folk & Country der legendären Band Seldom Scene steht. Mark Fain (b) und Lynn Williams (dr) liefern einen dezenten Background, auf dem sich die Stimmen von Eric und Thomm entfalten können. Dazu erleben wir filigrane Gitarren-Arbeit von Thomm Jutz (der aber auch als Sänger gewaltig an Profil gewonnen hat), Tammy Rogers an der Fiddle und Mike Compton am Banjo.
Leitthema der selbst geschrieben Songs ist die Bewegung von A nach B, von Ost nach West, von der Vergangenheit in die Gegenwart, von der Jugend ins Alter. Mittel der Bewegung sind die eigenen Füße im Freien, die Eisenbahn oder das Segelboot. Zentrale Botschaft der Bewegung ist der Optimismus, auch wenn man mal irgendwie glaubt, festzustecken.
Ein bisschen Nostalgie ist auch dabei, wenn Eric auf das swinging Europe in den 1930er Jahren zurückblickt („When London was the world“) oder wenn er an die Gastarbeiter bei der Weizenernte in Kanada etwa zur selben Zeit erinnert („Frost On The South Side“). Schön ist aber auch die Erinnerung an den verstorbenen Kumpel Peter Cooper, der seine Lebensweisheiten immer mit einer Prise Ironie verpackt hat („Can’t Change The Weather“). Für alle, die so alt wie Eric Brace und Thomm Jutz sind (oder noch ein bisschen älter) gilt die Botschaft „What You Get For Getting Older“: Antwort: immer weniger verbleibende Zeit, die dafür aber immer bedeutender und wertvoller wird. All das klingt sehr sympathisch und perfekt musiziert: unaufgeregter semi-akustischer Americana-Sound von zwei intelligenten Musikern.
Vielleicht darf man am Ende noch zwei Wünsche äußern: eine baldige Europa-Tournee mit einigen Stopps in Deutschland und - ganz verwegen - ein Studio-Projekt in Nashville zusammen mit Chris Hillman und Herb Pedersen! Die Telefonnummern der beiden habe ich leider nicht!
Nils Lofgren: Mountains ***
Cattle Track Records (USA 2023)
Produced by Nils & Amy Lofgren
10 Tracks - 38:30 Min.
Nils Lofgren wurde es während der Covid-Pandemie ersichtlich langweilig: keine Tour-Aufträge von Bruce Springsteen oder von Ringo Starr. Was also lag näher, als sich 2022 ins abgesicherte Home-Studio zu setzen und an einer neuen Solo-CD zu basteln. Noch dazu wo es technisch möglich ist, sich die Freunde virtuell an Mischpult zu holen.
Von Ringo Starr bekam er die Zusage für eine Schlagzeug-Spur („Ain’t The Truth Enough“), dafür wird er Alt-Beatle gleich noch in der Weltverbesserungs-Hymne „We Better Find It“ verewigt: „Wise Ringo always says / peace and love / let’s keep our hammers sheated / if you must use them to beat sense / into your raging brother“. Von seinem E-Street-Boss entlieh er sich die Ballade „Back In Your Arms“, die tatsächlich bisher noch niemand gecovert hat. Dazu erklärten sich Neil Young und David Crosby (RIP!) bereit, je einmal Background-Vocals einzusingen (für „Nothin’s Easy“ und für „I Remember Her Name“).
Man sieht also, dass Nils Lofgren (72) - auch ohne Trampolin und Gitarren-Salti - nach wie vor bestens vernetzt ist und mit Andy Newmark (dr) und Kevin McCormick (b) eine außerordentliche Rhythmusgruppe an seiner Seite hat. Das alles ändert aber nichts an der Tatsache, dass die aktuelle CD einen schalen Nachgeschmack hinterlässt. Die zehn Songs pendeln zwischen Weltschmerz und Home-sweet-home-Ideologie, zwischen Mainstream-Gitarren-Rock und poppigen Balladen. Leider sind fast alle Titel überarrangiert, hier wäre ein kritischer Produzent vonnöten gewesen. Dreimal mischt sich auch ein Chor ins Klangbild und transportiert Gospel-Seligkeit oder Kinder-Naivität, ohne den Kompositionen wirkliche Tiefe zu verleihen.
Dass Nils Lofgren ein großer Fan der Rolling Stones ist, hat er schon vor Jahren (1975) mit „Keith Don’t Go“ bewiesen, wo er neben dem verstorbenen Jimi Hendrix Keith Richard als einmalige Inspirationsquelle und als „Captain“ tituliert. Jetzt trauert Lofgren um Charlie Watts („Won’t Cry No More“), dessen Tod er mit einer allgemeinen Weltuntergangstimmung in Einklang bringen will. Ein Highlight bleibt „Only Ticket Out“, in dem Lofgren seine (vergangenen) Probleme mit Alkohol und Drogen thematisiert - für ein ganzes Album ist das aber ein bisschen wenig!
Firefall: Friends & Family ****
Sunset Blvd Records (USA 2023)
Produced by Jock Bartley
13 Tracks - 56:44 Min.
Die Band Firefall wurde 1974 in Boulder/Colorado gegründet und erreichte dank einiger radiotauglicher Hits („Just Remember I Love You“) den Status einer höchst erfolgreichen Gruppe auf dem Feld des melodiösen Westcoast-Rock mit dezenten Country-Einflüssen. Zum Signature-Sound von Firefall gehörte neben den gepflegten Vokal-Harmonien auch die Querflöte von David Muse. Mittlerweile ist von der Original-Besetzung nur noch Jock Bartley übriggeblieben (Rick Roberts, Larry Burnett und Mark Andes haben sich mehr oder weniger aus dem Business verabschiedet, David Muse und Michael Clarke sind schon verstorben).
Das letzte und auch vielversprechende Studio-Album erschien 2020 („Comet“), nun hat Jock Bartley mit dem aktuellen Line-Up ein Cover-Projekt verwirklicht. Family, das sind Bands in denen Firefall-Mitglieder früher gespielt haben (Byrds, Flying Burrito Bros, Spirit, Dan Fogelberg, Heart und Gram Parsons). Friends, das sind Bands, mit denen Firefall in den 70er Jahren gemeinsam auf der Bühne stand (Doobie Bros., Loggins & Messina, The Band, Fleetwood Mac, Lynyrd Skynyrd, Marshall Tucker Band und Poco). So sind insgesamt 13 Songs zusammengekommen und ist ein fast schon nostalgisch anmutendes Panorama der amerikanischen Musik in den späten 60er und 70ern entstanden. Die Playlist reicht von „Long Train Running“ über „In The Heart Of The Night“ und „Simple Man“ bis zu „Ooh Las Vegas“ - wenn ich noch einen Wunsch frei gehabt hätte, wäre auch „Two Lane Highway“ von Pure Prairie League eingebaut worden!
Der neue Firefall-Bassist John Bisaha überzeigt mit seiner druckvollen Lead-Stimme, Jock Bartley bleibt mit geschmackvoller Gitarren-Arbeit der Kopf (und der Produzent) der Gruppe. Steve Weinmeister bringt dezente Country- und Folk-Elemente in den Gesamtsound, Jim Waddell bedient verschiedene Blasinstrumente und Keyboards, Sandy Ficca ist die solide Rhythmus-Maschine im Hintergrund.
Wer also der Meinung ist, dass in all diesen Songs die Substanz dessen steckt, was heute Americana genannt wird, und wer ein perfektes Medley dieser Zeit und dieser Stilrichtung hören will, wird mit dem Bartley-Projekt vollkommen einverstanden sein. Dennoch sei hier die Bitte gestattet, dass Firefall nicht als Cover-Band enden sollte!
John Mellencamp: Orpheus Descending *****
Republic Records (USA 2023)
Produced by John Mellencamp
11 Tracks - 49:02 Min.
Wer ist der Boss auf dem Feld der Mainstream Americana Rock-Musik? Langsam neigt sich die Waagschale zu John Mellencamp, während Bruce Springsteen in verschieden Genres und Retro-Experimenten irrlichtert und Tom Petty nicht mehr unter den Lebenden weilt. Mellencamp hat dagegen mit „Orpheus Descending“ ein kraftvolles neues Album vorgelegt, das gleichermaßen musikalisch und textlich überzeugt.
Auf der CD finden sich elf Songs, die trotz einer akustischen Grundstimmung immer noch der Parole R.O.C.K. in the U.S.A. folgen. Arrangiert von seinem musikalischen Direktor Andrew York (g, b), weiterhin instrumentiert von Dane Clark (dr, perc, voc) und Troye Kinnett (keyb, harm, voc) entstehen geradlinige, aber nie klischeehafte Rock-Nummern mit den unverwechselbaren Vocals von Mr. Mellencamp, der in seiner emotionalen Rauheit an Tom Waits oder an Steve Earle erinnert. Als Sahnehäubchen wird immer wieder die leicht angezerrte Geige von Lisa Germano eingeblendet, die wieder zu Mellencamps Band zurückgefunden hat.
Gleichzeitig ist das Album ein düsteres Statement zu der politischen Situation in den USA. Auf seiner Website klagt er über die all-täglichen Toten, die dank eines sträflich liberalen Waffengesetzes auf den Straßen der USA zu zählen sind - und bald wieder vergessen werden! Deshalb ruft Mellencamp mit einem Schuss Naivität gleich im ersten Song Gott an, er möge doch auf die Erde herunterkommen und nach dem Rechten sehen („Hey God“). Er würde dann das sogenannte Land der Freien sehen und feststellen, dass der Wohlstand höchst ungerecht verteilt ist und die Obdachlosen durch alle Raster fallen („The Eyes Of Portland“). Mit Orpheus steigt er im Titelsong in die dunkle Unterwelt und zweifelt: „Do you think we’ll see the light / Before the blood hits the street“. Damit rekurriert auf das gleichnamige Theaterstück von Tennessee Williams (1957), in dem der Musiker Val Xavier die eurydikehafte Lady Torrance aus dem bigotten und xenophoben Milieu einer Kleinstadt retten will. Die CD endet mit einem leicht resignativen „Backbone“, einer Botschaft des alten weißen Mannes, der schon ein Lebensfazit zieht: „I hope I’ve learned something / Probably nothing at all“. Das erinnert an die wenig ermutigende Kooperation mit Bruce Springsteen auf der letzten CD („Wasted Days“). Von jenem stammt auch die einzige Fremdkomposition auf „Orpheus Descendening“: ein leicht ironischer Blick auf die „nearly perfect world“, von der man immerhin noch träumen kann.
Mellencamps Musik hat definitiv die Merkmale von Rotwein aus besten Lagen: je älter, desto höher die Qualität. Heute kaufen und noch lange lagern!
Wendy Webb: Silver Lining ****
Spooky Moon Records (USA 2023)
Produced by Danny Morgan & John McLane
11 Tracks - 42: 10 Min.
Der 28. September 2022 war für Wendy Webb ein schicksalhafter Tag: der Hurricane Ian zog mit seinem Auge über Sanibel Island, Florida und zerstörte das Haus, in dem sie seit etwa 17 Jahren mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Randy Wayne White lebte. Beide mussten die Insel verlassen, lebten zweitweise in einem Hotel in Fort Myers. Jetzt ist sie wieder zurück, lässt das Haus komplett renovieren und fand das Studio von John McLane unzerstört. Es gibt also einen Silberstreifen am Horizont, und so heißt auch ihr aktuelles Album (das sechste ihrer gesamten Karriere) „Silver Lining“ mit der markanten Zeile im Titelsong: „Silver lining, / everyday I’m finding / That the road I stumbled on is surely winding“.
Wendy Webb hat dafür zehn neue Songs am Piano komponiert und live eingespielt, die sich in der Tradition des leicht angejazzten Westcoast-Songwriter-Pop bewegen und Erinnerungen an Carole King, Laura Nyro, Chi Coltrane oder Marty Gwinn Townsend von den Coyote Sisters wachrufen. Das Pfund der CD ist zum einen die magische Stimme von Wendy Webb, die mit einer traumhaften Intonationssicherheit, mit markanten Blues-Untertönen und mit einer professionellen Mikrofon-Präsenz die Songs zum Vibrieren bringt, zum anderen die geschmackvollen Arrangements von John McLane (der auch die meisten Rest-Instrumente beisteuerte) und dem Perkussionisten Danny Morgan.
Trotz der Naturkatastrophe siedelt Wendy Webb ihre Songs im Themenkreis von Liebe und Optimismus an, sie findet Orientierung im „Rhythm Of Your Love“ und Heimat in den „Jasmine Nights“. Ein Frühwerk aus dem Jahre 1972 bekommt einen geschmackvollen Neuanstrich („Children Of The Blue“) und bei dem My-Fair-Lady-Klassiker „I’ve Grown Accustomed To Her Face“ wird nur das Possessivpronomen ausgetauscht. Weitere Anspieltipps sind die Naturbeobachtungen von „Old Blue Panama“ (mit einem Text von Charles John Quarto) und die Reise-Reflexionen von „I’ve Never Been To Argentina“, die auch hervorragend in ein Rosanne-Cash-Album passen würden.
Wir sind in diesen Zeiten für jeden Silberstreifen dankbar; wir wünschen Wendy Webb ruhigeres Wetter in SW-Florida und den verdienten Erfolg für das neue Album.
Turnpike Troubadours: A Cat In The Rain *****
Bossier City Records / Thirty Tigers (USA 2023)
Produced by Shooter Jennings
10 Tracks - 40:41 Min.
Es gab schlechte Nachrichten von den Turnpike Troubadours: private Probleme, interne Streitereien, Alkoholprobleme - manche hatten die Band schon abgeschrieben. Doch nach einem vierjährigen Ausstieg sind die sechs Musiker aus Oklahoma wieder mit sich und der Welt im Reinen und präsentieren ein Album, das schlichtweg begeistert. Zehn Songs präsentieren sie in ihrem unverwechselbaren Red-Dirt-Country-Stil und reihen einen Ohrwurm an den anderen. Sechsmal ist Frontman und Songschreiber Evan Felker verantwortlich, und seine beiden Auftakt-Nummern setzen gleich ein hohes Niveau. „Mean Old Sun“ ist eine Reflexion von Felkers Scheidung und Wiederversöhnung in molligen Folk-Rock-Harmonien die an Ian Matthews‘ „Darkness Darkness“ erinnern. „Brought Me“ - als Single ausgekoppelt - ist die Botschaft an die Fans, der Dank für ihre Treue und die Erinnerung an das erste Wiedersehen in Cain’s Ballroom im April 2022: „I looked up and you were there“. Im Titelsong schließlich schraubt sich Felker bei einer kritischen Selbstbetrachtung auf poetische Höhenflüge: „You can try to put the past behind / It’s on your clothes like burning pine / Is it gin or turpentine, you keep in your canteen? / If pressure makes a diamond, babe, I still might come out clean“.
Auf dem Album finden sich auch drei Fremdkompositionen, sorgsam und passend ausgewählt: das bluesige „Black Sky“ von Steve Cash, einstmals auf der Debütplatte der Ozark Mountain Daredevils; der ansprechende Roadsong „Three More Days“ vom ehemaligen Troubadour John Fulbright - jetzt ein gefeierter Solo-Star, und das eingängige „Won’t You Give Me One More Chance“ von der Outlaw-Country-Legende Lee Clayton.
Für die Produktion ist Shooter Jennings, der Sohn von Outlaw Waylon, zuständig, und er erreicht einen tollen Schwebezustand zwischen Kommerzialität und Authentizität. Vielleicht hat auch der Ort der Einspielung, das Fame Recording Studio in Muscle Shoals, Al, ein bisschen Südstaaten-Atmosphäre einbringen können.
Das instrumentelle Können und die Vielseitigkeit, das prägnante Songwriting und die stimmigen Vokal-Harmonien neben der Solo-Stimme von Evan Felker machen „A Cat In The Rain“ zu einem Meisterwerk!
Steve Yanek: September ****
Primitive Records (USA 2023)
Produced by Steve Yanek
10 Tracks - 36:48 Min.
Mit einem Dreifach-Wumms hat sich Steve Yanek seit 2022 zurückgemeldet. Erst gab es ein Reissue seiner 2005-Produktion „Across The Landscape“, dann das Album „Long Overdue“ und nun die After-Corona Solo-Produktion „September“. Kein Zweifel: hier klopft jemand unüberhörbar an und bittet um Einlass in die Gehörgänge. Obwohl er aus Ohio stammt, fühlte er sich schon immer der südkalifornischen Singer/Songwriter-Tradition verpflichtet und hat seine Wurzeln in dem Sound, den Jackson Browne in den 1970er Jahren weltbekannt machte.
Doch die sonnigen Geschichten von den „Boys Of Summer“ sind längst auserzählt und so hat Steve Yanek für seine neueste CD den herbstlichen Titel „September“ gewählt. Das Album enthält zehn selbstkomponierte Songs, die ohne größere poetische Verrenkungen von Stimmungs- und Beziehungswechseln erzählen, dabei aber immer einen positiv-optimistischen Grundton vorantragen.
Steve Yanek hat die Songs ganz allein und zu Hause eingespielt: Schlagzeug, Bass, Gitarre, Piano, Orgel und alle Stimmen sind Steve Yanek pur. Das ist aber auch das kleine Problem an diesem Werk: während bei „Long Overdue“ mit Jeff Pevar ein hervorragender Partner als Instrumentalist, Produzent und möglicherweise auch kritischer Begleiter mitwirkte, ist auf „September“ Steve Yanek ganz auf sich gestellt. Die Folge: bei manchen Songs hätte man noch am Gesang feilen können, an einigen Stellen ist der Charakter von Demo-Songs hängen geblieben. Keine Frage: Steve Yanek ist ein Songschreiber, der ein gutes Gespür für eingängige und doch nicht banale Melodien hat und der in dieser Verfassung an Kollegen wie Jack Tempchin, Jon Poussette-Dart oder Jim Photoglo erinnert.
Das Album ist dem 2020 verstorbenen Singer/Songwriter Emmit Rhodes gewidmet. Dieser wurde als „One Man Beatle“ bezeichnet, weil er sich stark an die Kompositionsmuster von Paul McCartney anlehnte. Solche Bezüge schimmern bei Steve Yanek manchmal durch, aber im Kern ist er ein Westcoast-Folkie, der vielleicht einmal als „One Man James Taylor“ in den Geschichtsbüchern stehen wird.
Die ersten drei Songs sind wohl auch gleich die Highlights: „Begin Again“ mit einem sehr symbolkräftigen Titel, „I Could Use A Little Rain“ mit Anleihen bei Modern Country und „Summer Days“ mit einer unwiderstehlichen Hookline. Das folkige Element kommt in den ruhigeren und schlagzeug-freien Songs „Carousel“ oder „September“ zum Tragen.
Insgesamt muss noch abgewartet werden, ob sich Steve Yanek in dem harten Geschäft so durchsetzen kann, wie er das wohl vorhat.
Paul Simon: Seven Psalms ****
Owl Records (USA 2023)
Produced by Paul Simon & Kyle Crusham
1 Track - 33:04 Min.
Das ist eine faustdicke Überraschung: Paul Simon, der 2018 mit seinem Album „In The Blue Light“ - auch wegen des Hörverlusts auf dem linken Ohr - eigentlich das Ende seiner großen musikalischen Karriere angekündigt hat, meldet sich als Sänger von sieben Psalmen („Seven Psalms“) zurück! Ist er jetzt vom scheuen Songwriter („I am A Rock“) und vom ironischen Zweifler („Slip Sliding Away“) zum Prediger geworden, hat er sich vom ungläubigen Saulus in einen gläubigen Paul(us) verwandelt? Hat es gar ein Erweckungserlebnis gegeben, das den notorischen Agnostiker in die Rolle des Gottsuchers drängte?
Die Antwort gibt die etwa 33 Minuten lange, pausenlose CD und ein Interview. Darin erzählt Paul Simon von einem nächtlichen Traum am 15. Januar 2019, in dem ihm „verkündet“ wurde, er werde sieben geistliche Songs komponieren. In mehreren folgenden Nächten flogen ihm Worte und Sätze zu, für die er musikalische Versatzstücke auf seiner akustischen Gitarre komponierte. Er sieht sich also eher als überwiegend passiver menschlicher Kopierer einer höheren Stimme!
In seinem Ranch-Studio nahe Austin, Texas hat er den minimalistischen Psalmen noch ein paar originelle Perkussions-Elemente aus der Welt der Welt-Musik hinzugefügt - von Schweizer Kuhglocken bis zu balinesischen Gamelan-Rasseln. Bei zwei Psalmen übernimmt seine Ehefrau Edie Brickell die Harmonie-Stimme, an anderen Passagen füllt das englische A-Capella-Oktett Voces8 den Hintergrund.
Wer sich auf Paul Simons Ü-80-Alters-Exkurs einlässt, erlebt einen zerbrechlichen Künstler, der einen verbalen Ringkampf mit den Begriffen Glaube und Sterblichkeit austrägt und der schließlich - ganz in der Tradition der Antwort Fausts auf die Gretchenfrage „Wie hast du‘s mit der Religion?“- ein pantheistisches Gottesbild entwirft. Gott ist überall und sehr vielschichtig: er ist - und hier darf man im Original zitieren - für Paul Simon „a meal for the poorest of he poor“, „a welcome door for the stranger“, gleichzeitig aber auch der Verantwortliche für das Ansteigen des Meeresspiegels und das Covid-Virus. Gott ist „the face in the atmosphere“, „a puff of smoke“ und „my reflection in the window“. Das würde die Goethesche Margarethe wohl so kommentieren: „Das ist alles recht schön und gut; / Ungefähr sagt das der Pfarrer auch, / Nur mit ein bisschen andern Worten.“
Simon ist also keiner jener naiven fundamentalistischen Freikirchen-Marktschreier geworden, die in den USA die Gotteshäuser füllen. Er überlässt es ganz den Zuhörern, welche Erkenntnisse sie aus seinen halbstündigen Worten zum Sonntag ziehen, und übt sich mit Blick auf sein Werk in sokratischer Bescheidenheit: „Ich bin mir nicht so sicher, was meine Meinung zu meinen Meinungen ist“.
Eine noch größere Überraschung wäre ein Auftritt von Paul Simon beim Evangelischen Kirchentag in Nürnberg gewesen. Statt ihm hat aber die Projekt-Gruppe „Ways - Songs To The Core“ mit ihrem Leiter Christian Probst zwölf biblische Psalmen in zwölf verschiedenen Sprachen in der Peterskirche konzertant vorgetragen: war auch sehr hörenswert!
Graham Nash: Now ****
BMG (USA 2023)
Produced by Todd Caldwell & Graham Nash
13 Tracks - 38:44 Min.
Allan Clarke: I’ll Never Forget ***
BMG (USA 2023)
Produced by Francis Haines
11 Tracks - 45:26 Min.
Es waren einmal zwei Schulfreunde aus Manchester, die etwa um 1962 die Band The Hollies gründeten. Sie waren vom Sound des amerikanischen Soft-Rock’n’Rollers Buddy Holly begeistert und wollten mit mehrstimmigem Harmoniegesang in die Fußstapfen der Beatles treten. Allan Clarke und Graham Nash erkannten bald, dass das Konzept Erfolg hatte, waren sich aber in der Bewertung der weiteren musikalischen Entwicklung nicht immer einig. Graham Nash verließ 1968 die Band und wurde in den USA Teil der legendären Supergroup Crosby, Stills, Nash & Young. Ab 1971 dachte auch Allan Clarke, dass seine markante Stimme Basis einer Solo-Karriere sein könnte. Bis 1999 gab es für ihn einen Wechsel von kurzzeitiger Mitgliedschaft und erneuter Trennung. Auch das Verhältnis von Nash und Clarke soll in diesen Jahren ziemlich gelitten haben. Diese transatlantische Distanz endete jedoch etwa ab 2015, und plötzlich interessierten sich beide wieder für die jeweiligen Projekte des einstigen Bandpartners.
Der Höhepunkt ist nun in diesem Jahr erreicht worden, wo es fast zu einem Clarke & Nash-Album gekommen wäre. Auf Allan Clarkes aktueller Solo-CD „I’ll Never Forget” übernahm Graham Nash fast alle Vokalharmonien, auf den aktuellen Solo-CDs der beiden ist zudem ein Graham-Nash-Song enthalten: „Buddy’s Back” - allerdings nicht in identischer Vokal-Aufnahme! Die Botschaften dieses Retro-Titels und des Titelsongs von Allan Clarke sind aber eindeutig: die beiden sind wieder ziemlich beste Freunde und sind stolz auf ihre Vergangenheit und Gegenwart.
Es muss allerdings erlaubt sein, die musikalische Qualität der beiden Solo-Werke gegeneinander abzuwägen - und da steht Allan Clarke definitiv an zweiter Stelle! Als Songwriter driftet er häufig in einen schlagerhaften Pop-Rock, der an die massenwirksame Konsumware von Smokie erinnert. Stimmlich muss er unverkennbar dem Alter (81) Tribut zollen und lässt sich von seinem Produzenten Francis Haines in ein ziemlich fettes Echo- und Hall-Kabinett mit dicken Synthie-Wolken einsperren. Ganz anders bei Graham Nash (ebenfalls 81). Er ist stimmlich immer noch in Höchstform, singt alle Lead- und Harmony-Parts auf seinem Album „Now“ selber und ist auch als Songschreiber in einer anderen Liga unterwegs. Zudem hat er mit Shane Fontayne (g, steel g, mand) und Todd Caldwell (keyb, p) zwei hoch-qualifizierte Partner, die seinen Kompositionen ein stabiles Fundament geben.
Natürlich fehlt Graham Nash die Widerborstigkeit seiner früheren Kollegen Neil Young und Davids Crosby, natürlich hat er auch nicht den gitarrenlastigen Blues-Rock-Hintergrund eines Stephen Stills, aber dennoch ist sein sympathischer Wellness-Soft-Rock und sein abgeklärter Blick auf die Welt eine unverkennbare Marke. Die Botschaft des Titelsongs ist geradezu kämpferisch: „Right now, here I am / Still living my life“. Seine politischen Kommentare zur Generationen-Verantwortung („A Better Life“), zu undemokratischen amerikanischen Abwegen („Stars And Stripes“) und zur politischen Aktivität („Stand Up“) sind aller Ehren wert. Im September gibt es drei Nash-Live-Termine in Deutschland, vielleicht klettert ja auch mal ein Überraschungs-Gast namens Clarke auf die Bühne!?
Cimarron 615: Brand New Distance ****
Blue Elan Records (USA 2023)
Produced by Cimarron 615
10 Tracks - 44:01 Min.
Nach dem Tod von Rusty Young (April 2021) und Paul Cotton (Juli 2021) war klar, dass die Geschichte der Band Poco nicht mehr fortgeschrieben werden kann. Zudem hat Gründervater Richie Furay seine Live-Auftritte massiv eingeschränkt, und Timothy B. Schmit ist immer noch gut bei den Eagles beschäftigt. Dennoch ist bei der Produktion des Tribute-Albums für Rusty Young (2022), das vor allem der Initiative von Kirk Pasich, dem Gründer von Blue Elan Records, zu verdanken ist, eine Idee entstanden, wie das Vermächtnis von Poco weitergetragen werden kann. So entstand die Band Cimarron 615 mit fünf Mitgliedern, die alle eine enge Beziehung zu Poco oder Rusty Young haben: Tom Hampton (voc, g, mand, pedal steel, bj), Rick Lonow (dr, perc, voc), Jack Sundrud (voc, b, g) und Michael Webb (voc, keyb, g, mand, b) waren in der Spätphase ab 2002 lang- oder kurzfristig Bandmitglieder, Bill Lloyd (voc, g - bekannt durch das Country-Duo Foster & Lloyd), bildete zusammen mit Rusty Young, Patrick Simmons und John Cowan in den 1990er Jahren die leider weitgehend erfolglose Country-Supergroup The Sky Kings.
Jetzt ist „Brand New Distance“, die Debüt-CD von Cimarron 615 erschienen, mit Spannung erwartet und tatsächlich ein Volltreffer! Die fünf erfahrenen Musiker wollen zurecht keine Poco-Cover-Band sein und dennoch beweisen, dass die Legende des Westcoast-Country-Rock noch lebt. Mit dem Bandnamen verweisen sie auf Rusty Youngs großen Hit „Rose Of Cimarron“ und die Ziffern 615 sind der Area Code von Nashville, Tennessee - vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch an die Band Area Code 615 mit Wayne Moss und Mac Gayden!?
Auf dem Album finden sich zehn Eigenkompositionen, schön demokratisch unter den Bandmitgliedern aufgeteilt, gleiches gilt auch für die Abwechslung bei den Lead Vocals. Der Auftaktsong „High Lonesome Stranger“ hat Anklänge an die Desert Rose Band und „Try Again“ - radiotauglich wie das Beste von Restless Heart - ist zwar eine Beziehungs-Story, könnte aber genauso gut die Stimmungslage der Band-Musiker umschreiben: „Find a new place to begin / Maybe you could even smile just once … maybe we could try again“. Mit „Cain’s Blood“ folgt der einzige Song, der schon mal auf der Set-List von Poco stand und auch auf der Poco-CD „The Wildwood Sessions“ (2006) zu finden ist. Jack Sundrud beweist mit dem Titel, dass er diesmal für die rauere Seite zuständig ist (gilt auch für „Find Me When The Night Comes“) und vokal durchaus an große Namen wie Don Henley anschließen kann. Bei „High“ glaubt man, Dickey Betts sei als „Ramblin‘ Man“ zu der Session eingeflogen worden und habe seine flockigen Southern-Rock-Licks mit eingespielt. Bei den Songs von Bill Lloyd merkt man, dass er früher sein Geld mit kuscheligem Country-Pop verdient hat und deswegen Steicher im Arrangement zulässt. Er kann aber auch an der Gitarre härtere Töne im Sinne von Paul Cotton anschlagen. Das Album endet mit einem markanten Ost-West-Roadsong, der nach Stationen in Memphis und in Tulsa über den Ventura Highway schließlich zur „City Of Angels“ führt.
„Brand New Distance“ ist eine reife Gemeinschaftsleistung, die Poconuts genauso erfreuen wird wie andere Freunde des Country Rock. Rusty Young und Paul Cotton werden im Country-Rock-Himmel jedenfalls gerührt schmunzeln.
Matthews Southern Comfort: The Woodstock Album ****
Must Have Records (NL 2023)
Produced by BJ Baartmans & Iain Matthews
15 Tracks - 55:16 Min.
Ein Blick zurück auf das Jahr 1969: die englische Folk-Rock-Band Matthews Southern Comfort ist nicht auf dem legendären Woodstock-Festival (15. -17. August) aufgetreten. Ebenso war auch Joni Mitchell nicht präsent, hat aber kurz danach - inspiriert durch die Erzählungen ihres englischen Freundes Graham Nash - den Song „Woodstock“ geschrieben. MSC haben den Song 1970 gecovert und damit einen Hit in Großbritannien gelandet, der bis heute noch in vielen Radiostationen gespielt wird. Seitdem sind 53 Jahre vergangen, Bandleader Matthews (im Juni wird er 77 Jahre alt) nennt sich jetzt mit Vornamen Iain und aus MSC ist eine niederländische Folk-Rock-Band im Pop-Up-Modus geworden: Iain Matthews (voc, g), Bart de Win (keyb, acc, voc), BJ Baartmans (b, g, mand, perc, voc) und Eric Devries (g, voc).
Irgendwann kam die Idee, sich erneut mit den drei Tagen Peace, Love & Understanding zu beschäftigen; herausgekommen ist das „Woodstock-Album“, d.h. eine Sammlung von 15 Songs (in der Bonus-Edition sind es sogar 17), die auf dem Festival gespielt wurden. Korrekterweise ist der „Woodstock“-Hit nicht dabei, dafür aber Neu-Interpretationen von Festival-Highlights in einer ganz eigenen akustischen Folk-Rock-Adaption. Das klingt dann bei „4 + 20“ von Stephen Stills (CSN&Y), bei „If I Were A Carpenter“ von Tim Hardin, bei „Get Together“ von den Youngbloods (damals intoniert von Richie Havens) oder bei „Darlin‘ Be Home Soon“ von John Sebastian (Lovin Spoonful) wenig überraschend, andere Songs wurden aber einer ziemlich radikalen stilistischen (und teilweise auch harmonischen) Veränderungs-Kur unterzogen: „Bad Moon Rising“ von John Fogerty (CCR) erkennt man erst beim zweiten Anhören, „Purple Haze“ von Jimi Hendrix durchläuft eine drastische schlagzeug- und E-Gitarrenlose Weich-Spülung, entfaltet aber dennoch seine Power und erinnert an die neuen bleifreien Led-Zeppelin-Versuche von Robert Plant mit Alison Krauss. „My Generation“ von „The Who“ kann man sich heute entspannt als möglicherweise letzte Generation anhören, auch wenn keine Gitarre und kein Schlagzeug dabei zertrümmert wird. Und „Spinning Wheel“ klingt im bläserfreien Amsterdamer Studio ähnlich fesselnd wie bei Chicago.
Für alle Liebhaber der Vollständigkeit hier noch das Restprogramm auf der CD: „This Wheel’s On Fire“ von Julie Driscoll & Brian Auger (komponiert von Bob Dylan und Rick Danko), „Goin‘ Up The Country“ von Canned Heat, „High Time“ von Grateful Dead, der „I-Feel-Like-I’m-Fixing-To-Die-Rag von Country Joe, „Evil Ways“ von Santana und „Everyday People“ von Sly & Family Stone
With a little help from his dutch friends hat Iain Matthews also eine schöne Nostalgie-Reise gemacht, die deutlich mehr ist als ein langweiliges Cover-Medley. Und ein Nachschlag Love & Peace kann in den Zeiten des Krieges bestimmt nicht schaden. Noch attraktiver wäre es, wenn MSC mit diesem Programm auf Europa-Tournee gehen würden!
Alice Howe: Circumstance ****
KnowHowe Records (USA 2023)
Produced by Freebo &Alice Howe
11 Tracks - 41:53 Min.
Eines kann man jetzt schon sagen: wenn einmal Bonnie Raitt keine Lust mehr hat, steht allzeit bereit eine Nachfolgerin in den Startlöchern: Alice Howe hat ihre Gitarren in Griffweite, ihre Stimme sauber geölt und mit Daniel Friedberg - besser bekannt als Freebo - einen Bassisten, Co-Komponisten und Produzenten an der Seite, der nach neunjähriger Arbeit mit Bonnie Raitt (1971 - 1979) weiß, wie Blues-Rock mit leichtem Country-Einschlag klingen muss.
„Circumstance“ ist das aktuelle (und zweite) Album von Alice Howe, 2019 hatte sie ihren Erstling „Visions“ veröffentlicht, der auch tolle Covers von Sam Cooke, Muddy Waters und Bob Dylan enthielt und ebenfalls von Freebo produziert wurde. Durch Zufall (?) ist sie danach in die legendären Fame Studios von Muscle Shoals, Alabama geraten, hat sich dort vom genius loci inspirieren lassen und elf knackige Songs aufgenommen. Musikalische Unterstützung hatte sie außer von Freebo und Jeff Fielder (g) durch die bekannten Studio-Veteranen Will McFarlane (g), Clayton Ivey (org), Justin Holder (dr) und Marc Jordan (p). Eine nicht ganz unpopuläre Band hat ja mal über das Feeling der Akteure in diesem Studio geschrieben: „Lord they get me off so much / They pick me up when I'm feelin' blue“.
Man merkt trotzdem, dass Alice Howe stark vom Songwriter-Folk der 1970ere Jahre beeinflusst ist, dass sie aber auch an den Wurzeln von Blues-Rock und Soul geschnuppert hat. Stimmlich erinnert sie an Alison Krauss, Alannah Myles oder Cindy Lauper, sie ist aber nicht nur eine von vielen Sängerinnen, sondern eine komplette Künstlerin mit viel Authentizität, die auf ihr Booklet schreiben kann, dass keinerlei Autotune-Software verwendet wurde und nur reale Instrumente eingespielt wurden.
Viele Songs haben unmittelbare Mitsing-Qualität und Radio-Tauglichkeit, so etwa der Uptempo-Rocker „Somebody’s New Lover Now“, der irgendwie an Jackson Brownes „Somebody’s Baby“ erinnert, und das traditionell riff-gesteuerte „What About You“. Es gibt aber auch sehr persönliche Songs, die eine verletzliche Künstlerin zeigen, die zwischen Trennungen und neuen Identitäten ihren Weg sucht. Exemplarisch dafür steht „Travelin‘ Soul“ mit der Refrain-Zeile „I’m a travelin‘ soul / seeking thruth along this road“ oder die gedämpfte Ich-Botschaft „Line by line“: „I got a dreamin’ soul from another time / A willing heart and an open mind / If you should care to find / You can read me line by line”.
Mutig, dass Alice Howe ihr Studium der europäischen Geschichte nicht zu Ende geführt, sondern alles auf die Karte Musik gesetzt hat. Es könnte klappen, denn Alice knows howe to do that!
Jono Manson: Stars Enough To Guide Me ****
Blue Rose Recordings (USA 2023)
Produced by Jono Manson
11 Tracks - 42:05 Min.
Aufgewachsen in New York, musikalisch sozialisiert als Solo-Performer in den 1970er Jahren und als Teil der local heroes-Band Joey Miserable and The Worms in den 1980ern ist Jono Manson mittlerweile nach diversen Umwegen - auch über Italien - in Santa Fe, New Mexico gelandet, wo er als Produzent mit eigenem Tonstudio (Kitchen Sink) und als Singer/Songwriter ein Garant für gute Musik in der breiten Stil-Schublade namens Americana geworden ist.
Zuletzt hat er den „Silver Moon“ besungen, auf seiner aktuellen Solo-CD mit elf Titeln sind die Sterne sein Leit-Motiv. Jono Manson bewegt sich flexibel zwischen John Mellencamp und James Taylor, zwischen Dan Fogelberg und Van Morrison oder zwischen Stephen Graves und Jonathan Edwards - um nur ein paar Anhaltspunkte zu nennen. Sein Spiel-Feld ist unüberhörbar das Spektrum von Folk, Blues Roots-Rock und Country mit gelegentlichen Ausflügen in den radiotauglichen Pop-Rock oder in den bläsergestützten Soul-Pop.
Dazu hat er sich mit Ronnie Johnson (b), Jason Crosby (keyb), Mark Clark (dr, perc), Jon Graboff (g), Paul Pearcy (dr), Myrrhine Faller (back voc) und Sally van Meter (dobro) eine altbekannte Studio-Band zusammengestellt. Einige besondere Freunde aus den letzten 40 Jahren wurden als special guests eingeladen: der unverkennbare Blues-Traveler John Popper (voc, harm), Eric Ambel (g), die grand old lady des Folk Elia Gilkyson (voc), Kevin Trainor (vor allem bei zwei Songs als Mitkomponist), Trevor Bahnson (voc, g), David Berkeley (voc), die American-Idol-Finalistin Crystal Bowersox (voc) und seine Italo-Connection Beppe Gambetta (g).
Jono Manson bekennt sich als Mitglied der Ü-60-Generation, beweist aber gleichzeitig, dass er als Songschreiber ein Händchen für interessante Geschichten hat und als Sänger noch viel dosierte Power ins Mikro bringen kann. Bei „On The Downlow“ gibt er eine lakonische Beschreibung des eigenen Status: „What can I find to say? When they ask me if I‘m ok / I tell them I‘m doing swell, but only time will tell“.
Besondere weitere Anspiel-Tipps sind die gitarrenlastigen On-The-Road-Erinnerungen mit seinem Kumpel Jason Crosby (The Goat Boy), der Anti-Kriegs-Song „The Last Man Shot In The War“, der an Remarques „Im Westen nichts Neues“ erinnert, und der folkige Rausschmeißer „Late Bloomer“ mit freundlicher Unterstützung von Eliza Gilkyson.
Wünschen wir also Jono Manson, dass ihm die Sterne weiter gewogen sind und dass er seine guten Beziehungen zu Italien auch einmal nach Deutschland ausdehnt.
The Coffis Brothers: Turn My Radio Up *****
Blue Rose Music (USA 2022)
Produced by Tim Bluhm
11 Tracks - 42:26 Min.
Die Zeiten des FM-Autoradios gehen dem Ende entgegen, aber wer so schöne (und sich lang dahinziehende) Straßen hat wie Kalifornien, will auf dieses Retro-Feeling nicht verzichten. Dieser Sound-Nostalgie haben die Coffis Brüder Jamie und Kellen aus den nördlichen Santa Cruz Mountains ihr fünftes Studio-Album gewidmet und mit dem Titel „Turn My Radio Up“ klare Signale gesendet. Mit treffsicheren Vokal-Harmonien, geschmeidigen Piano-Arrangements (Jamie) und knackigen Gitarren-Riffs (Kellen) erzeugen sie ein hörenswertes Song-Spektrum, das stilistisch die Americana-Spanne von den Everly Brothers über die Traveling Wilburys bis zu Tom Petty abschreitet.
Neben dem Titelsong haben die beiden Brüder noch zehn weitere Pop-Perlen geschrieben, wobei das wort-verspielte „Ramona“ das größte Hit-Potential hat und irgendwie an „Follow Me“, den Ohrwurm von Uncle Cracker, erinnert. Im Text geht es um den netten Zufall, dass sich der Vorname einer Person mit dem Namen der Stadt reimt, in der sie geboren wurde: z. B. Ramona in Takoma, Fernando in Orlando, Samantha in Tampa und Valentino in Reno - oder für deutsche Ohren: Merlin in Berlin? Ein ganz anderes Brüderpaar kommt einem in den Sinn, wenn man den harten Gitarren-Auftakt von „Find Out The Hard Way“ hört: Ray und Dave Davies von den legendären Kinks! Dann aber schmirgelt Jamie Coffis seine Petty-Stimme und lässt die Hammond-Orgel rauchen. Bei „It’s So Easy“ blicken die Coffis-Brüder auf große Vorbilder wie Buddy Holly oder die Rolling Stones zurück. Dennoch klingt die CD nie einseitig retro!
Neben den drei regulären Band-Mitgliedern Kyle Poppen (g), Aidan Collins (b) und Cory Graves (dr) hat auch Produzent Tim Bluhm einen gehörigen Anteil an der Qualität dieses Albums. In seinem Home Studio in Oakland CA wurden die Tracks eingespielt, dazu dienen die Coffis Brothers auch als Backing Band für dessen vielversprechende Solo-Karriere.
Auf dem Cover präsentieren sich Jamie und Kellen in grüner Hügellandschaft und wecken Erinnerungen an die Highlights von Brewer & Shipley. Beim akustischen Rausschmeißer „Feel This Free“ heißt es: „I want all my records to be playin‘ on repeat!“ Dieser Bitte kommen wir doch immer gerne nach! Kauf- und Hör-Empfehlung mit mehreren Ausrufezeichen!!!!
Tim Grimm: The Little In-Between ****
Cavalier Recordings (USA 2023)
Produced by Tim Grimm
9 Tracks - 36:59 Min.
Das Leben und die künstlerische Karriere des Tim Grimm weist zwei auffallende Richtungen auf: vom Schauspieler zum Folk-Musiker, von der Großstadt (Chicago, L. A.) zur ländlichen Idylle in Indiana und Oklahoma. Dort bewohnt er seit knapp zwei Jahren am Rande der Stadt Norman ein altes Gebäude, in dem er auch ab und an Hauskonzerte unter dem passenden Titel „Red Dirt Folk Salon“ organisiert. Dort hat er auch die Songs für sein neues Album geschrieben und im Wohnzimmer mit der akustischen Gitarre eingespielt. Aus Schottland (eine Art zweite Heimat für Tim Grimm) hat die bekannte Cellistin Alice Allen dazu ein paar Streicherpassagen einmontiert und in Santa Fe haben die Studiomusiker Sergio Webb (g, steel g), Justin Bransford (b) sowie Mark Clark (dr) ihre Instrumentalparts ergänzt.
Herausgekommen ist ein atmosphärisch stimmiges Folk-Rock-Album, das teilweise verdammt an den legendären Kris Kristofferson erinnert, der ja umgekehrt immer mehr vom Singer/Songwriter zum Filmschauspieler mutierte und mittlerweile das Musik-Business aus Altersgründen nur noch aus der Distanz beobachtet. Tim Grimm hat mit „The Little In-Between“ sehr persönliche Ich-Botschaften adressiert und darf sich als sprachmächtiger Geschichtenerzähler in der Tradition von Guy Clark oder John Prine bezeichnen. Das zentrale Motiv der Songs ist das Leben als ein unsicherer Weg, auf dem man viel Schatten vorfindet, aber auch auf das Kontinuum der Liebe und der menschlichen Empathie zählen kann („Bigger Than The Sky“). Anfang und Ende sind vielleicht gar nicht so entscheidend, wichtig sind die Zwischenräume („The Little In-Between“) das Atem-Anhalten zwischen Tränen und Lachen, zwischen Ups und Downs.
Tim Grimm reflektiert über seine Lebensstationen („I`m headed for he great unknown“), über das unvermeidbare Älterwerden („Another day older and a mess of regret“) und richtet nostalgische Blicke in die Vergangenheit. Dazu nimmt er die mehrfach reparierten Schuhe seines Vaters als Bildsymbol: „Holding onto old things was like holding onto time“. Von der hektischen Welt der Screens und des Internets hat er sich ziemlich verabschiedet: „I know my way in the wilderness“.
Neben der musikalischen Qualität überzeugt die CD auch als Gesamtkunstwerk, denn Tim Grimm hat das Cover selbst gestaltet und zu jedem (abgedruckten) Songtext eine Bild-Miniatur geschaffen. 1999 erhielt sein Album „Heartland“ die Auszeichnung „Beste Neuentdeckung im Genre Roots/Americana“. 24 Jahre später konstatieren wir: „reife Leistung“!
Bonnie Raitt: Just Like That … ****
Redwing Records (USA 2022)
Produced by Bonnie Raitt
10 Tracks - 46:17 Min.
Zu Bonnie Raitt gibt es eigentlich keine zwei Meinungen: Sie ist die unbestrittene First Lady des amerikanischen Blues-Rock, sozusagen das weibliche oder weiße Pendant zu Ry Cooder oder Robert Cray. Sie kann als Mitglied der Ü-70-Generation entspannt von der Hall Of Fame auf das oft sehr hektische Musik-Business blicken und das machen, was ihr Spaß macht: zum Beispiel den metallenen Flaschenhals über ihren Mittelfinger ziehen, die Fender-Gitarre einstöpseln und mit ihren Band-Musikern das achtzehnte Studio-Album aufnehmen.
Neun der zehn Songs wurden im Sommer 2021 in Sausalito, CA eingespielt, der Song „Here Comes Love“ entstand schon 2015, er ist auch eine Erinnerung an den verstorbenen Keyboarder Mike Finnigan. Bonnies aktuelle Band besteht aus Kenny Greenberg (g), Glenn Patscha (org, keyb), James Hutchinson (b) und Ricky Fataar (dr), dazu gibt es zwei Gastauftritte von George Marinelli (g, voc), der früher bei Bonnie Raitt - aber auch bei Bruce Hornsby - mitgewirkt hat.
Der Titelsong ist eine rührende Story über eine Mutter, deren tödlich verunglückter Sohn sein Herz gespendet hat, und die nun zufällig den Empfänger der Organspende trifft: „It was your son’s heart, that saved me / and a life you gave us both“. Hier greift Bonnie Raitt zur akustischen Gitarre und unterlegt die Geschichte mit einem Fingerpicking, das an John Prine erinnert. Ähnlich gestrickt ist ihre zweite Eigenkomposition „Down The Hall“, in der sie von (eigenen?) Erfahrungen beim Besuch eines Gefängnis-Hospizes berichtet, von Inhaftierten, die noch ein bisschen auf ihren Tod warten: „and in the end when I hold their hand / it’s both of us set free“. Eine bedrückende Todesliste hat die Zeit der Pandemie hinterlassen und Bonnie Raitt das Motto für die Überlebenden inspiriert: „Keep livin‘ for he ones who didn‘t make it“.
Soviel zur sozialen Empathie von Bonnie Raitt; der Rest sind locker groovende Blues-Rock-Titel von anderen Komponisten, mal gespickt mit Keith-Richard-artigen Riffs von George Marinelli, mal mit heiteren Reggae-Anklängen und einem Gruß an den verstorbenen Toots Hibbert („Love So Strong“), mal mit einem Bass-Drums-Arrangement, das an die frühen Little Feat erinnert, mal mit Ausflügen in den funkigen Jazz-Rock („Waitin‘ For You To Blow“). In allen Songs gibt es Räume für instrumentelle Exkursionen: für die Slide-Guitar von Bonnie Raitt selbst sowie für den Hammond- oder Rhodes-Sound von Glenn Patscha.
Insgesamt ein rundes, stets geschmackssicheres Album, bei dem sich Bonnie Raitt nicht mehr neu erfinden will, sondern ein Dankeschön an alle entrichtet, die sie das tun lassen, was sie liebt. Ihre optimistische Botschaft, dass sie noch 15 Jahre weiter Musik machen will - ansonsten wäre das Leben langweilig - berechtigt zu der Hoffnung, dass auch noch eine Tour durch Europa möglich wird - notfalls mit einer gecasteten Sängerin, der eine rot schimmernde Bonnie-Raitt-Perücke aufgesetzt wird.
Stephen McCarthy & Carla Olson: Night Comes Falling *****
BFD Records (USA 2022)
Produced by Stephen McCarthy, Carla Olson & Mikal Reid
11 Tracks - 41:44 Min.
Für Carla Olson, die im letzten Jahr 70 wurde, könnte der Album-Titel „Have Harmony, Will Travel” ein Leitmotiv ihres musikalischen Lebens sein. Auf Deutsch übersetzt heißt das, dass sie gerne ihre Stimme, ihre Rhythmusgitarre und ihre Kompositions-, Produktions- und Arrangements-Fähigkeiten zur Verfügung stellt, jedoch noch einen (männlichen) Partner zur Realisierung und eventuell für Live-Auftritte sucht. So war das mit Phil Seymour und der Band The Textones, so ging es weiter mit Gene Clark, Mick Taylor, Todd Wolfe und jetzt eben mit Stephen McCarthy. Auf den beiden Cover-Samplern „Have Harmony, Will Travel“ kamen noch Namen wie Peter Case, Richie Furay, Timothy B. Schmit, Percy Sledge oder Terry Reid. Man sieht, die Dame ist in der südkalifornischen Musik-Szene bestens vernetzt und hat immer wieder Lust auf neue Projekte.
So entstand auch das vorliegende Album, das einerseits einen ergreifenden Retro-Charme ausstrahlt, andererseits aber ein zeitloses Meisterwerk ist. Stephen McCarthy, der den Kennern der Westcoast-Country-Szene als Mitglied von The Long Ryders, The Dream Syndicate, Danny & Dusty und den Jayhawks bekannt sein sollte, hat Carlas Olson bei einer Buffalo-Springfield-Reunion wieder-kennengelernt, dann mit ihr zwei Titel auf dem Sampler „Americana Railroad“ (2021) produziert und schließlich ist diese gemeinsame CD entstanden.
Darauf findet man sieben Eigenkompositionen und vier Covers, z. B. „The One That Got Away“ von Chris Hillman und Peter Knobler (Desert Rose Band), „Don’t Talk To Strangers“ von Ron Elliott, dem Chef der Band The Beau Brummels, „Timber, I’m Falling In Love“, was 1989 ein Hit für Patty Loveless wurde, und natürlich „Remember The Railroad“, ein unvergessener Song von Carla Olsons Lebens- und Musik-Partner Gene Clark.
Musikalisch orientieren sich Olson und McCarthy an den glorreichen 1970er Jahren, an dem Westcoast-Sound der Byrds und von Jefferson Airplane, an den Country-Duetten der späten Everly Brothers, an den Pop-Rock-Hymnen eines Roy Orbison, am LA-Singer/Songwriter-Stil eines Jackson Browne und an dem leicht bluesigen Rock einer Bonnie Raitt. Die ganze CD hat keinerlei flaue Momente, jeder Song ist ein Ohrwurm für sich, die Stimmen der beiden ergänzen sich wunderbar und können jederzeit Vergleiche mit Robert Plant und Alison Krauss aushalten.
Definitive Anspieltipps sind der Titelsong mit Reminiszenzen an Olsons Beziehung zu Gene Clark, der geradlinig rockende Auftakt mit „We Gotta Split This Town“ und die leicht wehmütigen Erinnerungen an die Jugend bei „Long Way Back To Seventeen“: „Turn back the clock on this time machine, we took a long way, drivin‘ fate’s highway, it’s been a long way, back to seventeen“. Eindringliche Hör- und Kauf-Empfehlung!
Ted Russell Kamp: Solitaire ***
Poetry Of The Moment Records TRK 013 (USA 2021)
Produced by Ted Russell Kamp
14 Tracks - 51:56 Min.
Die Botschaft des Titelsongs haben viele während der Pandemie erlebt: „Feelin’ like I’m alone inside a maze … the game I play is solitaire”. Und so ist das 13. Album des gut vernetzen LA-Musikers Ted Russell Kamp ein typisches Solo-Werk, das im heimischen Studio eingespielt wurde. Kamp kann eben nicht nur den E-Bass bedienen, wie er das live seit Jahren schon in der Band von Shooter Jennings tut und im Studio zum Beispiel für Tanya Tucker oder Sam Morrow getan hat. Er ist auch ein versierter Songschreiber und ein profilierter Sänger, dessen gut angeraute Bariton-Stimme mich manchmal an den leider verstorbenen Texaner Jimmy LaFave erinnert. TRK bedient in seiner Studio-Höhle („The Den“) auch diverse Saiteninstrumente, Keyboards und Schlagwerkzeuge, produziert hat er die CD sowieso.
Die fehlende Band-Atmosphäre hat dazu geführt, dass die Arrangements etwas folkiger geworden sind: es dominieren akustische Gitarre, Bass und Stimme. Um die häusliche Einsamkeit zu überwinden hat Kamp zu zwölf Song Ko-Komponisten aus seinem südkalifornischen Umfeld gefunden, zu einigen Songs hat er sich Audio-Files von guten Freunden schicken lassen. Am bekanntesten dürften Ed Jurdi von der Band Of Heathens, Brian Whelan und John Schreffler (pedal steel) sein. Die stilistische Spannweite zwischen Folk-Rock und Country lässt sich am besten ermessen, wenn man sich die beiden ausgekoppelten Radio-Singles anhört: „My Girl Now“ ist typischer LA-Folk-Rock und könnte auch von Jack Tempchin oder Timothy B. Schmit stammen. „You Can Go To Hell, I’m Going To Texas“ passt einwandfrei in die Country-Schublade und bedient die einschlägigen Sound-Erwartungen.
Wer aber Ted Russell Kamp in Höchstform anhören will, sollte auf seine Produktion aus dem Jahre 2011 zurückgreifen:
Ted Russel Kamp: Get Back To The Land *****
Poetry Of The Moment Record (USA 2011)
Produced by Ted Russell Kamp
13 Tracks - 54:21 Min.
Hier hat er sich mit Don Ian (g), Mike Sessa (dr), Brian Whelan (g, keyb, dr) eine kompakte Band ins Hollywood Sound-Studio geholt und mit 13 eigenen Songs eine knallige Hommage an seine Idole von der Westcoast und im amerikanischen Süden zusammengestellt. Schon der Auftakt mit dem sehr eingängigen „California Wildflower“ erinnert an den großen Tom Petty, „God’s Little Acre“ könnte aus dem Repertoire der Southern Rocker Blackberry Smoke stammen, „Aces And Eights“ hat den funky Blues-Rock-Swing der legendären – und immer noch aktiven - Little Feat, „Don`t Look Down“ ist hervorragender Singer/Songwriter-Rock wie bei Jackson Browne in seinen besten Zeiten (freilich nicht mit dessen textlicher Tiefe!), und der Titelsong „Get Back To The Land“ erinnert an den nostalgischen Country Blues der längst wieder vergessenen Canned Heat oder der unvergessenen Grateful Dead. Der Song träumt von der Stadtflucht und vom kleinen Vorgarten, denn „every city is Las Vegas, no matter what they say“. Der Höhepunkt kommt am Ende mit dem längsten Titel: „Bottles On The Table“ wird getragen von schweren Gitarren-Riffs, wie sie auch Paul Cotton bei Poco gerne platzierte.
Ted Russell Kamp ist aber keineswegs ein kopierender Epigone, denn er gibt seinen Songs stets einen eigenen Anstrich durch seine unverwechselbarer Stimme, durch seinen ansteckenden Bass-Groove und auch manchmal durch satte Bläser-Sätze.
Mit dieser CD, die optisch den Charme eine Vinyl-LP aus den frühen 1970er Jahren ausstrahlt (mit Assoziationen zu „Hotel California“ von den Eagles!), ist TRK ein Meisterwerk gelungen, das bis heute als Benchmark für packenden roots-orientierten Americana-Sound gelten kann.
4 Way Street: Pretzel Park ****
Sanctuary Records (USA 2003)
Produced by 4 Way Street (Ben Arnold, Scott Bricklin, Jim Boggia & Joseph Parsons)
12 Tracks - 51:22 Min
Wenn sich vier junge Männer aus Philadelphia, PA 2003 zu einem musikalischen Projekt zusammenfinden und sich den Namen „4 Way Street“ geben, weiß man eigentlich, wohin die Reise gehen soll. Denn vier andere damals noch junge Männer mit den Nachnamen Crosby, Stills, Nash und Young erreichten 1971 mit der gleichnamigen Doppel-LP, die mit Live-Aufnahmen des Jahres 1970 bestückt war, einen Höhepunkt ihrer Band-Karriere und markierten einen Benchmark für den Folk-Rock an der US-Westküste.
Ohne Zweifel wollten Ben Arnold (voc, g, keyb), Scott Bricklin (voc, g, b, keyb), Jim Boggia (voc, g) und Joseph Parsons (voc, g) sich an diesen großen Fußspuren orientieren, ohne dabei in dröges Epigonentum zu verfallen. Alle vier sind profilierte Sänger, kreative Songwriter und ausgewiesene Multi-Instrumentalisten. Insgesamt finden sich auf der CD elf Eigenkompositionen und - als Rausschmeißer mit psychedelischem Hidden-Track - ein gut abgehangener Bluegrass-Song von Artie Traum („Barbed Wire“). Die CD beginnt sehr eingängig mit „Change Gonna Come“, bekommt dann aber eine eher rockige Ausrichtung, die immer durch einen transparenten mehrstimmigen Gesang veredelt wird. Manches erinnert an die frühen Werke der Band Venice, von denen David Crosby einmal sagte, sie seien die besten Vokalisten im Rock-Business. Jeder Zuhörer kann selber herausfinden, wer bei „4 Way Street“ sein bevorzugter Lead-Vokalist und Songwriter ist, gerade diese Abwechslung macht die Qualität der Band aus. Am Ende fühlt man sich bei „Sister Moon“ fast in ein Konzert von The Doors versetzt; so viel zur stilistischen Bandbreite.
Leider blieb „Pretzel Park“ ein einmaliges Projekt, Ben Arnold und Scott Bricklin machten danach (bis heute!) als US Rails weiter (die ganz aktuelle CD heißt „Live For Another Day“), während Joseph Parsons und Jim Boggia Solo-Karrieren ansteuerten. Parsons hatte mit „Hardpan“ noch einmal eine vielversprechende 4-Mann-Band am Start, die aber ebenfalls nicht durch Kontinuität glänzte. Den Pretzel Park findet man heute als Wochenmarkt im Zentrum von Philadelphia, die gleichnamige CD aber nur noch im Backorder-Katalog. Wer sich aber für die vier Musiker Arnold, Bricklin, Boggia & Parsons interessiert, sollte bei dem deutschen Blue-Rose-Records-Label vorbeischauen.
https://www.theusrails.com/home
https://www.josephparsons.com/
Timothy B. Schmit: Day By Day ****
Benowen Records (USA 2022)
Produced by Timothy B. Schmit & Jeff Peters
12 Tracks - 68:12 Min.
Carpe diem: Diese Sentenz des römischen Dichters Horaz schimmert fast durch alle Songs auf dem neuen Solo-Album von Timothy B. Schmit. Für ihn als Angehörigen der Ü-75-Generation ist es offensichtlich Zeit, beim Rückblick und Ausblick Felder des Optimismus, aber auch Anstöße zur (Selbst-)Kritik zu finden. Schmit war/ist mit E-Bass und Stimme ein Rückgrat für die legendäre Country-Rock-Band Poco und für die nach wie vor aktiven Eagles. Witzigerweise ist er zu beiden Bands jeweils als Nachfolger für Randy Meisner gekommen (1970 bzw. 1977). Da er mit den Eagles ein gesichertes und stattliches Einkommen hat, kann er sich leisten, seine (bislang sieben) Solo-CDs als Just-for-Fun-Angebote zu produzieren. So hat er auf „Day By Day“ kein Problem damit, dass alle seine Eigenkompositionen das Radio-Limit von drei Minuten locker übersteigen und dass die ausgekoppelte Single „Heartbeat“ sich auf 6:19 Minuten ausdehnt - ohne je zu langweilen! Dieser Song erinnert irgendwie an „King Of Hollywood“ von den Eagles (1979) und wäre wohl auch als Beitrag für eine neue Eagles-CD durchgegangen, die es aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr geben wird. Denn auch für Bandleader Don Henley gilt der schlichte Schmit-Satz: „The years have gone by and we still survive“.
Stilistisch orientiert sich Schmit zunehmend an dem flockigen südkalifornischen Country-Pop, teilweise mit eindrucksvollen Hommagen an den Beach-Boys-Sound der 70er Jahre, was durch die Background-Gesänge von Chris Farmer und Matt Jardine (der Sohn von Al Jardine!) unterstrichen wird. Doch auch geradlinige Rocker („Mr. X“), streicher-gesättigter Blues-Rock („Taste Like Candy“) und Reggae-Rhythmus-Anleihen („I Come Alive“) sind im Angebot. Eingerahmt werden die 12 Songs von der folkigen Ich-Botschaft „Simple Man“ und dem Ohrwurm „Where We Belong“. Letztere Komposition hätte man sich nachträglich als Poco-Song gewünscht - mit der Gitarre von Paul Cotton und der Stimme von Rusty Young (aber die haben leider nicht bis heute überlebt!).
Timothy B. Schmit hat sich für die CD ein paar prominente Freunde in sein kalifornisches Homestudio Mooselodge eingeladen: Lindsey Buckingham und Kenny Waine Sheperd als kreative Gitarren-Solisten, Jackson Browne und John Fogerty als Background-Vokalisten für den ökologisch-kritisch motivierten Song „Grinding Stone“ (leider sind ihre Stimmen im Mix kaum zu identifizieren!), dazu den Doobie Brother John McFee mit einer markanten Fiddle.
Schließen wir die Aussagen über den höchst sympathischen Musiker und Menschen mit einer passenden Textzeile: „I always want to avoid heartache and pain / And just a smile can open my door“.
The Wilder Blue: The Wilder Blue *****
Hill Country Music (USA 2022)
Produced by The Wilder Blue
12 Tracks - 48:04 Min.
Zu den großen positiven Überraschungen des Musikjahres 2022 gehört zweifellos die Band The Wilder Blue. Vor zwei Jahren haben sie - noch unter dem Namen Hill Country - ein beachtliches Debütalbum vorgelegt, nun steht ihre regionale Herkunft, jenes Dreieck zwischen Austin, Fredericksburg und New Braunfels, nur noch für das eigene Plattenlabel, und als The Wilder Blue präsentieren sie ihre Stärken auf der gleichnamigen CD. Das musikalische Konzept ist nicht revolutionär, dafür aber perfekt dargeboten: sie kombinieren melodiösen Newgrass a la Seldom Scene mit kantigem Texas Country Rock und schmücken jeden Song mit bis zu fünfstimmigen Vokal-Arrangements. Als Songschreiber steht Zane Williams (g, voc), um die vokale Arbeit kümmert sich Lyndon Hughes, der mit einer soliden Bass-Drum immer präsent ist. Dazu passen Sean Rodriguez (b, voc), Paul Eason (g,voc) und der Multi-Instrumentalist Andy Rogers (g, bj, mand, keyb, voc).
Die Kombination klingt dann bei „Wave Dancer“ („On the angry waves I am a dancer / And my own true course I'll keep / Truth and love will be my standard / 'Til the day I'm dragged under the deep“) wie ein Remake des Steve-Young-Songs „Seven Bridges Road“ oder des CSNY-Songs „Find The Cost Of Freedom“) und erinnert an die frühen Eagles oder an das gesanglich herausragende Duo Chris Hillman / Herb Pedersen. Feeling The Miles“ könnte dagegen von der Atlanta Rhythm Section oder gar von Christopher Cross stammen und „The Kingsnake And The Rattler“ spielt mit den Song-Ideen eines Townes Van Zandt. Von Paul Eason stammt der Song „Build Your Wings“, der damit Empfehlungen für die Ups und Downs (vor allem für letzteres) des Lebens gibt. Ein bisschen behutsam modernisierte Country Nostalgie gibt es bei „Okie Soldier“ und bei „Nothin‘ Like Lovin You“.
Nach der Meinung von kompetenten US-Zuhörern können The Wilder Blue diesen satten Gesang auch live über die Rampe bringen - und somit gilt für die Band eine Feststellung aus der semi-akustischen Ballade „The Ol‘ Guitar Picker“: „there's only one rule in music: If it sounds good then it is“. Vielleicht wagen sie auch einmal einen Besuch im alten Europa?
Dan Navarro: Horizon Line ****
Red Hen Records (USA 2022)
Produced by Jim Scott
10 Tracks - 41:13 Min.
Nach dem Tod seines langjährigen Partners Eric Lowen (2012) war die Zukunft von Dan Navarro ungewiss. Lowen & Navarro hatten ein wichtiges Kapitel der kalifornischen Folk-Rock-Geschichte geschrieben, die man anhand einer Fülle von sehr ansprechenden Alben nachhören kann. Dan Navarro war aber seither nicht untätig, hat seine Karriere als Singer/Songwriter weiter vorangetrieben und nebenbei noch ein paar ergänzende Jobs als Synchronsprecher, als Talent-Coach und als Musik-Gewerkschaftler angenommen. Mit „Horizon Line“ legt er - als Angehöriger der Ü-70-Generation - nun sein zweite Solo-Studioalbum vor. War der Vorgänger „Shed My Skin“ (2019) vielversprechend, so ist das aktuelle Album eine wirklich reife Leistung.
Zusammen mit dem Produzenten Jim Scott, der schon zwei Lowen & Navarro-Alben produziert hatte, und einigen langjährigen Musik-Kollegen - Steve Postell, Doug Pettibone, Brian Whelan (g), Phil Parlapiano (piano, keyb), Aubrey Richmond (violin), Chris Stills (voc), Joanna Wallfisch (voc) - sind zehn Songs entstanden, die stilistisch an den Sound von Lowen & Navarro anschließen, gleichzeitig aber noch dosierte Elemente von Soul, Blues, Rock und Country einbeziehen. Dan Navarro weiß aus langer Erfahrung, was „gutes“ Songwriting ausmacht; in einem Interview beklagte er kürzlich die Cut-and-paste-Methode vieler Radio-Hits. Stattdessen strebt er mit seinen eigenen Arbeiten nach einer „haunted qualitiy“ - vielleicht treffend übersetzt: nach einem Song, der einen nicht mehr loslässt. Dazu kommt eine profilierte Stimme mit leichter Rauheit, die seinen Kompositionen Authentizität verleiht.
Die Grundstimmung ist meistens optimistisch, nur einmal beklagt er in „Circling The Drain“ die absurde Weltlage: „It could be all in vain / we are circling the drain“. Zu dem Wohnmobil-Reisenden Nomad Dan passt die Botschaft des Titelsongs: „I can’t slow down / my wheels are turning“. Hitverdächtig und empfohlene Anspieltipps sind „Rose In The Window“ (Text von Preston Sturges) mit einem lässigen Groove, der an die Amazing Rhythm Aces erinnert, und das rockige „Tar Pit“ mit einem griffigen Gitarren-Solo von Steve Postell. Die Pedal Steel Guitar von Doug Pettibone gibt „Oklahoma Skies“ eine atmosphärische Country-Note, „Hopeful Hearts“ ist ein akustischer Folk-Rock-Song, bei dem das aufstrebende Talent Joanna Wallfisch als Kompositions- und Gesangs-Partnerin einsteigt. Mit dem alten Kumpel Phil Parlapiano am gleichnamigen Instrument schließt sich der Kreis des Albums: "I Hope I Get Some Sleep Tonight“. Aber für den umtriebigen Dan Navarro ist sicher bald schon die nächste „Horizon Line“ in Sicht.
Steve Yanek: Long Overdue ****
Primitive Records (USA 2022)
Produced by Jeff Pevar
10 Tracks - 40:29 Min.
Selten gibt es einen so zweideutigen und dennoch eindeutigen Albumtitel. Obwohl Steve Yanek in dem Titelsong „Long Overdue“ von einer Beziehung singt, die nach Jahren endlich zustande gekommen ist, meint er natürlich in Wahrheit seine Entscheidung für die Musik, die nach einer langen Pause angeblich am 1. Januar 2020 gefällt wurde. 2005 hatte sein erster Anlauf mit dem vielversprechenden Album „Across The Landscape“ stattgefunden, der irgendwie ins Leere ging. Nun will es Steve Yanek aber definitiv wissen: er startete eine Neuauflage des 2005er-Albums für Europa, schrieb neue Songs und nahm den Kontakt mit Jeff Pevar wieder auf, um eine komplett neue CD mit eigenen Songs auf den Markt zu bringen.
Leider hat die Pandemie dazu geführt, dass eine gemeinsame Arbeit im Studio nicht möglich war, so mussten sich alle Akteure gegenseitig aus dem Home Office die Dateien zuschicken. Mit Jeff Pevar hat er den richtigen Produzenten gefunden, der aufgrund seiner Zusammenarbeit mit den Herren Crosby, Stills und Nash weiß, wie eingängiger Westcoast-Rock klingen soll. Dazu ist er ein erlesener Multiinstrumentalist, der im Grunde eine ganze Band ersetzen könnte. Dennoch haben sich für die zehn Songs einige bekannte Mitwirkende eingefunden: bei den schon länger in der Schublade liegenden Titeln waren es Rod Morgenstein (dr), Dave Livolsi (b) und der leider schon 2010 verstorbene Keyboarder T Lavitz (alle aus dem Dunstkreis der legendären Dixie Dregs). Für die späteren Aufnahmen ab 2020 ließ Pevar seine guten Beziehungen spielen und rekrutierte Bill Payne (keyb) und Kenny Aronoff (dr).
Doch ohne Yaneks solides Songwriting und durch seine stimmliche Präsenz wäre das Endergebnis nicht so überzeugend gewesen. Steve Yanek mischt - obwohl er in Pennsylvania zu Hause ist - den typischen Westcoast-Sound der 70er Jahre (vgl. Jack Tempchin, Ned Doheny oder John David Souther) mit einer Prise Country, die besonders bei „About This Time“ und „You Move Me“ hörbar wird. Glanzlichter der CD sind „On Your Side“, wo Yanek seine stimmliche Bandbreite beweist, und das extrem radiotaugliche „Like Now“. Textlich bewegt sich Yanek eher auf konventionellem Terrain, den Themenkreis „Love: Lost And Found“ will er wohl ungern verlassen. Selbst bei „Tired Of This Attitude“ und bei „Everyone’s Crazy These Days“ ist kein politischer Unterton intendiert. Der 1. Januar 2023 könnte schon zeigen, ob Steve Yanek mit seinem längst überfälligen Angebot genügend Follower gefunden hat und ob es zu einer größeren Tour reicht.
Ian Noe: River Fools & Mountain Saints *****
Thirty Tigers (USA 2021)
Produced by Andrija Tokic & Ian Noe
12 Tracks - 42:18 Min.
Wer wissen will, was sich im Kern hinter dem Label „Americana” verbirgt, sollte das aktuelle Album von Ian Noe mehrmals durchhören. Denn die zwölf Eigenkompositionen ergeben anhand des
Mikrokosmos von East Kentucky ein stimmiges Stimmungsbild der heutigen Unvereinigten Staaten von Amerika. Noe erzählt scheinbar ganz simpel von Menschen, von Charakteren, aber er trifft damit
Schicksale, die typisch sind. Er schildert eine ländliche Welt, eine strukturschwache Region und den oft verzweifelten Alltag ihrer Bewohner. Sein eher empathischer Songwriter-Blick richtet sich
auf Kriegs-Veteranen, Lastwagen-Fahrer, Alkoholiker, „Spinner“, merkwürdige „Heilige“ und sonstige Sünder, auf Menschen die ein einsames Weihnachten nicht ertragen können („Lonesome As It Gets“),
die Angst vor Überschwemmungen haben („Road May Fload“), die irgendwie aus dem provinziellen Dunst der Appalachen herausblicken wollen („Appalachia Haze“).
Diese atmosphärischen Smalltown-Stories verpackt Ian Noe in eine sparsam arrangierte Musik, die alles enthält, was zu den Wurzeln Amerikas gehört: ein bisschen Hank Williams, sehr viel 1965er Bob Dylan und The Band (im Auftakt-Song „Pine Grove“ heißt es vielsagend „We got the band in the basement, mama“), direkte Anlehnungen an den Country-Blues von John Prine oder Steve Earle, dazu dezente Verweise auf John Fogerty („might even bring his old six string - hammer that CCR“).
Die Basis aller Songs ist die leicht nasale Stimme von Ian Noe und seine akustische Gitarre. Doch auch die elektrischen Gitarren von Steve Daly und Jack Lawrence haben ihren Platz - besonders in dem furiosen Finale von „Burning Down The Prairie“. Die Steel Guitar (Steve Daly) setzt brillante cinematoskopische Effekte, und bei „One More Night“ taucht plötzlich ein Waldhorn auf (Jennifer Kummer). Überraschend auch die abschließende Ballade „Road May Flood“, die unvermutet, aber harmonisch korrekt und mit Streicher-Romantik in den Bonnie-Tyler-Hit „It’s A Heartache“ mündet.
Kurz und sehr gut: Ian Noe hat mit seinem zweiten Album (nach „Between The Country“ aus dem Jahre 2019) ein Meisterwerk geschaffen!
Richie Furay: In The Country ***
Renew Records/BMG (USA 2022)
Produced by Val Garay
12 Tracks - 41:56 Min.
Richie Furay darf sich sicher als einer der Gründerväter des Country Rock bezeichnen. Nach erfolgreicher Teilnahme bei der Supergroup Buffalo Springfield verfolgte er ab 1968 das genreübergreifende Projekt mit der neu entstandenen Band Poco. Doch schon immer war ihm wohl der Bestandteil Country etwas näher als die Zutat Rock. Dies belegen auch seine späteren Ausflüge in den christlichen Country-Pop und seine Solo-Alben. Mit „In The Country” legt er nun eine persönliche Best-Of-Country-Hits-Liste vor, die er gemeinsam mit dem Produzenten Val Garay in Nashville entwickelt hat.
Es handelt sich um zwölf Covers, die fast durchwegs mehr im Feld des modernen Mainstream-Country angesiedelt sind. Die bekanntesten stammen von Keith Urban, John Denver, Marc Cohn und Garth Brooks, dazu kommen noch „I Hope You Dance”, bekannt durch Gladys Knight, „She Don’t Know She’s Beautiful”, bekannt durch Sammy Kershaw, „Your Love Amazes Me“, bekannt durch John Berry (der sogar bei dieser Aufnahme mitsingt!), „I‘m In A Hurry“, bekannt durch Alabama, „Lonesome Town”, bekannt durch Ricky Nelson, „I`m Already There”, bekannt durch Westlife, „In This Life“, bekannt durch Ronan Keating und Westlife und „Chalk“ bekannt durch Buddy & Julie Miller. Zwei Bonus Tracks aus der Songschreiber-Kiste von Richie Furay („Pickin‘ Up The Pieces” und „I Cross My Heart”) sind auf der Deluxe-Edition dabei.
Nicht mit seiner etablierten Richie-Furay-Band sondern zusammen mit bekannten Studiomusikern - Chris Leuzinger (g), Dan Dugmore (g, pedal steel), Tom Bukovac (g), Steve Nathan (keyb), Glenn Worf (b), Victor Indrizzo (dr) - hat er die Songs eingespielt, als Gäste und Freunde tragen auch Timothy B. Schmit (voc), Waddy Wachtel (g), Vince Gill (voc) sowie die Tochter Jesse Furay Lynch (voc) etwas bei.
Insgesamt wirkt das ganze Konzept etwas zu vorsichtig, manche Songs gewinnen durch Richie Furays Interpretation gar nicht: „Walking In Memphis” ist eben kein Country-Song und wird es auch durch Basteln am Arrangement nicht! Da warten wir lieber gespannt, wie das erste Album der Poco-Revival-Gruppe Cimarron 615 ausfallen wird.
Joseph Parsons: Holy Loneliness Divine *****
Blue Rose Records (D 2022)
Produced by John Parsons Band
10 Tracks - 46:22 Min.
Traurig, aber wahr: das soll das letzte Album der JP-Band gewesen sein, da sich alle (vier) Beteiligten wohl auf neue Projekte verständigt haben. Bei Joseph Parsons ist das möglicherweise die Kooperation mit der Indie-Folk-Band von der Ostküste, „The End Of America“, die ihn schon 2022 bei einer kleinen Tour unterstützt hat. Davor haben Joseph Parsons (g, voc), Freddie Lubitz (b, voc), Sven Hansen (dr, keyb) und Ross Bellenoit (g, keyb) in den Pandemie-Jahren 2020 bis 2022 zehn Songs eingespielt, von denen neun in Deutschland (hauptsächlich in Parsons Homestudio in Parchim bei Berlin) und einer in Philadelphia (dort lebt Ross Bellenoit, der als Gitarrist für Amos Lee weltweite Aufmerksamkeit erhalten hat)) produziert und gemixt wurden. Alle Songs stammen von Joseph Parsons, nur bei „My My Caroline“ hat sein alter Freund Ben Arnold (aus den Bands „Four Way Street“ und „US Rails“) mitgewirkt.
Das Ergebnis dieser Abschieds-Veranstaltung ist beeindruckend: die JP-Band entwickelt noch einmal einen faszinierenden melodiösen Rock-Sound, der an große Namen wie Richard Page, Amos Lee oder The Thorns erinnert. Die Basis bilden das geniale Songwriting und die gefühlvolle Stimme von Joseph Parsons, dazu kommen die bildstarken Gitarren-Riffs von Ross Bellenoit und die kreative Rhythmus-Sektion mit Sven Hansen und Freddi Lubitz.
Das Album startet grandios mit zwei Songs voller reflektiertem Weltschmerz und bedrückender Melodik: „Dreaming A Universe“ erzählt von einer One-World-Utopie, die sich momentan eher als bittere Lüge entpuppt; „Passengers“ charakterisiert die Menschheit als vorübergehendes Phänomen und ist ein bemerkenswerter Pop-Rock-Ohrwurm mit definitivem Hit-Potential, den alle Radiostationen in ihr Programm aufnehmen sollten!
„Invisible“ ist eine sensible Rundreise durch die USA mit leichtem Dire-Straits-Charakter, und der Album-Titel erscheint im Song von „Bookshop Mary“, die angesichts einer Welt der seltenen Freuden in der Einsamkeit eine gewisse Erfüllung findet. Auf der CD gibt es keinen einzigen Durchhänger, das Besondere der Parsons-Songs ist es, dass man sie sich als hymnische Stadion-Rocker genauso vorstellen kann wie als akustische Balladen in einem intimen Folk-Club.
Joseph Parsons ist ein deutsch-amerikanischer Geheimtipp, der eigentlich kein Geheimtipp sein und bleiben sollte, seine CD könnte (für mich) zum musikalischen Highlight 2022 werden!
Charley Crockett: The Man From Waco *****
Son Of Davy Records (USA 2022)
Produced by Bruce Robison
14 Tracks - 44:58 Min.
Wer bei dem Nachnamen Crockett nur an den legendären Tennessee- und Texas-Trapper Davy Crockett (1768 - 1836) denkt, sollte eine weitere Person ins kulturelle Repertoire aufnehmen. Denn der Komponist, Sänger und Gitarrist Charley Crockett ist derzeit der wohl der heißeste Musik-Tipp auf dem weiten Feld des Americana-Sounds. Als dauer-kreativer Workaholic hat er nun mit „The Man From Waco“ schon seine elftes Album seit 2015 im Angebot, doch unter dem immensen Output leidet erfreulicherweise nicht die Qualität. Vielleicht auch, weil er nach manchen Untiefen seines Lebens dem berühmten Davy-Crockett-Zitat folgt: „Versichere dich, dass du recht hast, dann geh voran!“
Seit über einem Jahr besetzt er in den einschlägigen Charts die Top-Positionen und blickt auf ausverkaufte Live-Tourneen zurück. Während er unter dem Pseudonym „Lil G. L.“ - ein ehrender Verweis auf den weitgehend unbekannten R&B-Sänger G. L. Crockett - delikat ausgesuchte Country-Covers aufnimmt, bietet er unter seinem richtigen Namen ein faszinierendes Stil-Spektrum aus Country-Twang, Tex-Mex-Fusion, Roots-Rock, Blues und New-Orleans-Jazz. Wem also traditioneller Country zu bieder und Blues möglicherweise zu langweilig ist, wird mit dem Crockett-Mix bestens unterhalten. Und wie selbstironisch erklärt er in der ausgekoppelten Hit-Single „I’m Just A Clown“: Wenn du ein Ticket kaufst, möchtest du auch eine Show erleben!
Die aktuelle CD enthält rechnerisch 14 Songs, davon sind allerdings drei Tracks dem Titelsong gewidmet, also - fast wie bei einer Filmmusik zu einem Italo-Western, der in der Nähe zur mexikanischen Grenze spielt - in einer Kurz-, Mittel- (nur instrumental) und Langversion zu hören. Trefflich könnte man darüber spekulieren, wer nun jener Mann aus Waco, Texas ist, der nach einem Schusswechsel voller Wut die Stadt verlässt. Ist es der Sektenführer David Koresh, der 1993 beim Sturm auf sein Adventisten-Lager in der Nähe von Waco ums Leben kam? Ist es der von Bob Dylan verehrte Outlaw-Country-Rebell Billy Joe Shaver, der 2007 in Waco einen anderen Mann ins Gesicht schoss - angeblich zur Selbstverteidigung? Oder ist es die sträflich vergessene Country-Legende James „Slim“ Hand aus Waco, dem Crockett vor einem Jahr schon ein ganzes Cover-Album gewidmet hatte?
Abseits dieser akademischen Frage sollte man sich von Crockett und seiner kleinen, aber feinen Band, den Blue Drifters, einfach auf eine bildstarke Reise durch den Süden und Westen der USA (Crockett nennt seine Musik treffend „Gulf & Western“!) mitnehmen lassen: mit atmosphärischen Zwischenstopps am Trinity River, am Horse Thief Mesa, in der Mojave-Wüste und in Gallup, New Mexiko. Im November kommen Herr Crockett samt Anhang sogar nach Deutschland - allerdings leider nur nach Köln und Berlin!
Jeffrey Halford and The Healers: Soul Crusade ****
Continental Song City (USA 2022)
Produced by Adam Rossi
11 Tracks - 40:62 Min.
Seit über 30 Jahren ist Jeffrey Halford, gebürtiger Texaner, nun in Kalifornien zu Hause, mit seiner kleinen, aber feinen Band The Healers im Geschäft. Immer wieder werden von den Kritikern und Zuhörern große Vergleichs-Namen ausgepackt, um sein Potenzial zu unterstreichen: Ry Cooder, Bob Dylan, John Mellencamp, Robbie Robertson, John Hiatt. Das heißt schlicht und einfach: er macht knackigen uramerikanischen Roots Rock mit folkigen Untertönen und treffsicheren Texten aus der Americana-Mythologie.
Nun erscheint sein neuntes Album, und es wäre an der Zeit, dass er aus dem Schatten der kleinen Clubs hervortritt und von den wichtigen Radiostationen erkannt wird. „Soul Crusade“ enthält 11 Eigenkompositionen (bei fünf Songs haben Don Zimmer und Colin Halford ihre Hände mit im Spiel gehabt), die vom ersten Takt an fesseln und einen bis zum Ende nicht mehr loslassen. Halford and The Healers sind eine kompakte Dreimann-Band mit Frontman Jeffrey als profilierter Sänger und druckvoller Gitarrist. Dazu kommen Mike Anderson am Bass und Adam Rossi, der live gleichzeitig eine kleines Drum-Set und ein E-Piano bedient.
Die Songs variieren hauptsächlich das universale Love-lost-and-found-Thema, umschiffen aber weiträumig die Klischee-Zonen. Sie leben von Jeffrey Halfords angerauter Vokal-Performance und dem lässigen Groove aller Mitmusikanten. Stilistisch reicht das Spektrum von akustischem Blues („Sinner Man“ über AltCountry („Wandering Kind“) bis hin zu dynamischem Roots Rock („Devil is Our Man“). Ein Höhepunkt ist zweifellos das gospelartige Bekenntnis zu den Flüchtlingsschicksalen am Rio Grande („Walk To The River“) - aufgewertet durch die hochemotionalen Vocals von Jeffreys Tochter Hannah Halford.
Eine Europa-Tournee (leider nur in den Niederlanden, in Belgien und in Norddeutschland) ist für den kommenden Oktober angekündigt: Halford und seine Healers sind ohne Zweifel ein unbedingter Live-Tipp!
Jay Byrd: At Home Again *****
Triad Records (USA 2022)
Produced by Jay Byrd & Kerry Brooks
10 Tracks - 40:45 Min.
Zu den Artisten im weiten Feld des Americana-Sounds gehört auch Jay (eigentlich: Jason) Byrd, den man unbedingt entdecken und dann auch im weiteren Verlauf seiner Karriere verfolgen sollte. Er startete in 1990er Jahren als Blues-Rocker mit seinem langjährigen Freund Kerry Brooks, betätigte sich dann in der Grateful-Dead-Cover-Band „Wavy Train“. Seit etwa 2001 lebt er in der Washington, DC Area und gründete als Sänger, Songwriter und Gitarrist zusammen mit Sängerin Lara Supan und Drummer Ben Potok die Band „South Rail“, die mittlerweile drei EPs veröffentlicht hat - bei der zweiten („Stars“, 2014) kümmerte sich sogar der renommierte Don Was um die Produktion. Hier zeigte sich schon, dass Jay Byrd ein Händchen hat für stimmige Kompositionen, die irgendwo zwischen Jackson Browne und John Mayer angesiedelt sind.
Nun ist seine erste Solo-CD mit zehn Eigenkompositionen erschienen - schlichtweg gesagt: ein Hammer dank einer genialen Folge von definitiven Ohrwürmern im mittleren Tempo und äußerst geschmackvollen Arrangements, erinnernd an den Westcoast-Sound von Venice, an den frühen Folk-Rock von Crosby, Stills & Nash, aber auch an den ansteckenden Soul-Pop von Van Morrison. Jay Byrd bedient praktisch alle Instrumente und lässt seine markante Stimme durch die Oktaven schlendern. Dazu kommt ein bisschen Bass von Kerry Brooks, das dezente Schlagzeug von Tim Haney und vereinzelte Keyboards von Chad Barger. Für die treffsicheren Background Vocals sorgen Becky Warren und Piano Pace.
Die CD startet mit einer Tagträumerei („Daydream Daze“), die an Jackson Brownes „These Days“ erinnert. Dann folgt der Titeltrack, der unbedingt ein Radio-Hit werden müsste. „Anna Lynn“ ist ein akustischer Folk-Rocker mit leicht romantischem Feeling. „Days Roll By“ blendet zurück in die frühen 1970er Jahre von CS&N, passend zu dem anschließenden Rückblick in die eigene Jugend: „I’ve Been It All“. Zwei Titel runden die hervorragende CD ab, die aber nicht programmatisch für das weitere Schaffen von Jay Byrd sein sollten: „Losers Like Me“ und „Dreaming My Life Away“. Ganz im Gegenteil: Jay Byrd muss auf die Spur der aktiven Gewinner gehoben werden!
Josie Bello: Resilience ****
Josie Bello (USA 2022)
Produced by Mike Nugent
9 Tracks - 37:50 Min.
In Zeiten, die einem wie eine Dauerschleife verschiedener Krisen erscheinen, ist ein neues Fremdwort in aller Munde: Resilienz (lat: resilire „zurückspringen“ „abprallen“), also die psychische Widerstandsfähigkeit, die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen als Anlass für Entwicklungen zu nutzen.
Diesen Begriff hat die Singer / Songwriterin Josie Bello als Titel ihres neuen Studio-Albums - es ist ihr drittes nach „Can’t Go Home” (2018) und „Have Purpose Live Long” (2020) - gewählt; und sie kann da so einiges aus eigener Erfahrung beitragen.
Josie Bello ist aufgewachsen in Queens, NY, sie lebt jetzt in Huntington, NY. Zusammen mit Mike Nugent (g, b, dobro, voc und Produktion) sind neun eigene Songs entstanden, die einen folk-orientierten Roots-Rock als Basis haben, der durch Josies Fähigkeiten am Akkordeon und durch die Harmonika vom Jim Small manchmal ein leichtes Louisiana-Flair bekommt. Mit ihrer so gar nicht engelsgleichen Stimme erinnert Josie Bello an große Namen wie Rosanne Cash oder Bonnie Raitt, wobei diese natürlich (noch) in einer anderen Liga spielen.
Der Titelsong gibt mit kompaktem Dire-Straits-Groove die autobiografische Ich-Botschaft aus: „my life’s been all about resilience”. Resignative Momente erlebt man bei „I Am Empty“ und bei „Too Many Changes“, doch hier folgt auf die Klage „too many endings, too many miles, too many dreams” die positive Nachricht „I wasn’t always right but I always did my best“. Der nostalgische Blick auf die Jugendjahre („time was on my side / the future was a promise”) endet mit der nüchternen Gegenwarts-Analyse: „Killing Time“.
Abseits von privaten Einsichten ist Josie Bello eine aufrechte Kämpferin für eine bessere Welt was sie in ihren Songs „Rising“ und „The Sound Of Guitars“ eindrucksvoll demonstriert. Mit fast religiösem Unterton predigt sie „The time has come for us / to rise above the fear / hatred / violence”, und als optimistische Friedensbotschafterin glaubt sie an die versöhnende Kraft der Musik: „Put down the gun / give up the hatred / replace it with the sound of guitars”.
Aus den Anfängen ihrer Karriere hat sie noch eine präzise Milieu-Betrachtungen beim allmontäglichen „Coffee Shop Open Mic” im Programm. Mit dieser CD könnte ihr ein Sprung in größere Lokalitäten gelingen.
Mac Gayden: Come Along ****
ArenA Recordings (USA 2020)
Produced by Buzz Cason
11 Tracks - 42:06 Min.
Play It Again, Mac! Er hat’s noch mal gemacht, obwohl er mittlerweile zur Ü-80-Fraktion gehört. Zusammen mit seinem Uralt-Kumpel Buzz Cason hat Mac Gayden ein neues Album herausgebracht, und man wundert sich, dass es in seiner fast 60jährigen Musik-Karriere erst die No. 5 ist. Tatsache ist, dass er nicht durch seine eigenen Solo-CDs berühmt wurde, sondern durch seine Komposition „Everlasting Love“, die 1967 ein Hit für Robert Knight und etwas später für die Vanity Fair wurde. Diverse berühmte Namen hat er auf seiner Zusammenarbeits-Liste: Bob Dylan, Elvis Presley, Leonard Cohen, Kris Kristofferson, Duane Allman und Simon & Garfunkel - um nur die berühmtersten zu nennen. Außerdem hat er für den Song „Crazy Mama“ von J. J. Cale eine unvergessliche Slide Guitar mit Wah-Wah-Effekt eingespielt.
Genauso relaxed wie der leider schon verstorbene J. J. aus Tulsa ist auch die neue CD von Mac Gayden. Er braucht nichts mehr beweisen und darf auch zugeben, dass seine Stimme einen gewissen Alterungsprozess durchlaufen hat. Dafür hat er zusammen mit Buzz Cason in dessen Studio Creative Workshop in Berry Hill, Tennessee zehn angenehme Songs aus der Schublade gezaubert und in einer entspannten Mischung aus Retro-Roots-Rock und Country-Folk eingespielt. Geradezu programmatisch sind die Songtitel „Baby Slow Down“ und „Back Porch Gettin‘ Down“, als Anspieltipps eignen sich besonders der Titelsong und „The Day I Fell For You“. In zwei Versionen leuchtet der „Cherokee Moon“: einmal als bildstarke Band-Version mit einer stimmungsvollen Steel Guitar von Parker Carson (der Sohn von Buzz!), einmal als Aufzeichnung eines Haus-Konzerts von 2015, bei dem der legendäre Steve Young („Seven Bridges Road“) im Hintergrund etwas Gitarre zugibt. Mac Gayden hat sich eine junge Crew von Studio-Musikern aus Nashville engagiert: Sadler Vaden (g), Michael Rinne (b), John Radford (dr) und Micah Hulscher (keyb).
Das ist alles nicht besonders spektakulär, aber getragen von einer gewissen Altersweisheit und geprägt von relaxter Musikalität. Also nehmen wir die Einladung des bekennenden Yogi Mac gerne an: „Come along / you’re not alone / we can carry on / there’s a place / I’m talking about / where we can sing / and we can shout”.
Sam Morrow: Concrete And Mud ****
Sam Morrow / Forty Below Records (USA 2018)
Produced by Eric Corne
10 Tracks - 39:15 Min.
Wenn man sich den bisherigen Output von Sam Morrow anhand seiner vier CDs anschaut, wird man feststellen: das Highlight ist Nr. 3 mit dem Titel „Concrete And Mud“. Hier hat der in Kalifornien lebende, aber in Texas aufgewachsene Musiker seine besten Songs versammelt, hier hat er stimmlich eine besondere Klasse erreicht und hier hat er im Studio eine kompakte und perfekt groovende Band versammelt: Matt Tecu (dr), Ted Russell Kamp (b), Eli Wulfmeir (g), Sasha Smith (keyb) und Eamon Ryland (slide g) bilden einen harten Sound-Kern für diese Mischung aus synkopiertem Southern Rock, erdigem Roots Rock und bluesigem Country Rock. Manchmal fühlt man sich an die besten Tage von Little Feat erinnert, die neben Los Lobos und den Queens Of The Stone Age zu den Vorbildern von Sam Morrow zählen.
Eine wichtige Rolle für das Gelingen dieser CD spielt auch Eric Corne: er ist Produzent, leitender Studio-Techniker, Chef des Plattenlabels Forty Below Records, Mitkomponist und Background-Vokalist.
Spielt man die Songs „Heartbreak Man”, „Paid By The Mile”, “Quick Fix” und „Cigarettes” in Dauerschleife ab, geht einem der funkige Groove bald nicht mehr aus dem Kopf. Dazu kommt noch mit dem herausragenden „Weight Of A Stone“ und mit „San Fernando Sunshine“ ein leicht gebremstes Breitwand-Kino von hoher Emotionalität, und mit „Skinny Elvis“ und „Coming Hone“ folgen zwei erdige Country-Rocker, die von Altmeister Jay Dee Maness an der Pedal Steel Gitarre veredelt werden. „Mississippi River“ ist eine von der Fiddle (Aubrery Richmond) begleitete Schiffsreise durch ein „land of contradictions“, an seinen Ufern hausen „independent thinkers“ und natürlich auch „Whisky Drinkers“. Sam Morrows Texte mischen politische und private Beobachtungen, bei „Good Ole Days“ kommt er zu der Erkenntnis, dass die guten alten Zeiten auch nicht immer besser waren.
Dringende Kaufempfehlung (und die gilt zu 90 % auch für sein aktuelles Album „Gettin‘ By On Gettin‘ Down“), verbunden mit der Hoffnung, dass es Sam Morrow einmal live nach Europa schafft.
The Sky Kings: From Out Of The Blue ***
Rhino Handmade RHM 7714 (USA 2000)
Compilation produced by Roland Worthington Hand
24 Tracks - 78:30 Min.
Das ist die ein bisschen traurige Geschichte einer Band, die mit viel Vorschusslorbeeren und Optimismus gestartet ist, dann aber im Dickicht der Plattenindustrie versickerte. Es ist gleichzeitig ein Lehrstück über Musik-Business in der Marktwirtschaft und über die Rolle des privaten Format-Radios.
Alles begann im Jahr 1991 mit der Idee, vier bekannte Musiker zu einer Country-Rock-Supergroup zusammenzuschweißen. Alle vier waren mit ihren bisherigen Projekten an einer Art Wendepunkt angekommen: Bill Lloyd hatte sich von seinem Erfolgs-Partner Radney Foster getrennt, John Cowan stand nach der Auflösung der Band New Grass Revival alleine da, Rusty Young zweifelte nach dem Abgang von Timothy B. Schmidt zu den Eagles am weiteren Lebenswillen der Band Poco, und Pat Simmons fremdelte ein bisschen mit seiner Band, den Doobie Brothers. Kurzzeitig war auch noch Ex-Eagle Randy Meisner im Gespräch, der aber dankend ablehnte. So gab es Gespräche zwischen Bill Lloyd und Rusty Young; RCA Nashville mit dem Produzenten Josh Leo meldete Interesse an.
Ein Jahr später war ein Album mit zehn Songs fertig produziert, doch interne Personal-Rochaden bei RCA markierten plötzlich einen Veröffentlichungs-Stopp. Lloyd, Cowan & Young (Pat Simmons war wieder bei seinen Doobie Brüdern) klopften darauf bei Warner Brothers an, die aber knallharte Bedingungen stellten: neues Song-Material, Festlegung auf einen Hauptsänger und Orientierung an dem Sound der Modern-Country-Radiostationen. Die drei verbliebenen Bandmitglieder, die ihren Namen inzwischen aus rechtlichen Gründen von „Four Wheel Drive“ in „The Sky Kings“ verändert hatten, akzeptierten diese Maßgaben, arbeiteten unverdrossen weiter, machten Promo-Besuche bei Radiostationen und hatten auch zahlreiche Live-Gigs. Doch irgendwann wurde deutlich, dass auch Warner Bros. das Ganze nur halbherzig unterstützte, und so ergab sich 1997 ein endgültiger Schlusspunkt. Zwei Singles waren veröffentlicht, ein Smokey-Robinson-Song landete auf einem Country-Christmas-Sampler, der Rest war Schweigen!
Zum Glück gibt es aber auch Plattenfirmen, die abseits der kommerziellen Hauptstraßen nach hörenswerter Musik suchen. Und so entschloss sich Rhino Handmade im Jahr 2000 eine Kompilation herauszugeben, nicht The Very Best Of sondern eher ein Complete Work of The Sky Kings mit einer Laufzeit von über 78 Minuten. Leider ist diese Sammlung auch schon wieder aus dem Katalog gestrichen und damit nur noch auf dem Gebrauchtwarenmarkt zu finden.
Das ist einerseits schade, andererseits aber auch verkraftbar, denn die drei Musiker haben vorher (= vor 1991) und nachher (= nach 1997) mehr Qualität geliefert. Die 24 Songs der Sky Kings sind eben typische Formatware, kommerziell konstruiert und textlich eine Aneinanderreihung von Klischees - meist in der Machart von Confederate Railroad oder Little Texas. Dennoch kann man konstatieren, dass die Herren Lloyd, Cowan & Young nie unter eine gewisse Niveau-Linie fallen, dass der Solo-Gesang von John Cowan ein Hammer ist und dass die instrumentelle Aufarbeitung immer ohne Makel ist. Punktuell tauchen interessante Gäste bei einzelnen Titeln auf: Al Kooper, Sam Bush und Leon Russell. Als Co-Writer sollte man Craig Fuller, Delbert McClinton und Jim Photoglo erwähnen. Und die Cover-Version von Elvin Bishops „Fooled Around And Fell In Love” lässt sich auch heute noch mit Vergnügen anhören.
John McFee hat etwas Ähnliches wie die Sky Kings mit der Band Southern Pacific lanciert, Jack Sundrud wollte mit Great Plains das vermeintliche Modern-Country-Erfolgsrezept ausprobieren. Beide sind mittlerweile wieder reumütig auf die authentische Musik-Schiene zurückgekehrt. Der 2021 verstorbene Rusty Young spricht in den Liner Notes das passende Schlusswort: “one of the benefits of a long career in the music business is you learn to make music you’re proud of and be able to walk away knowing you’ve done your best!”
Various Artists: My Friend. A Tribute To Rusty Young ****
Blue Elan Records (USA 2022)
Produced by Kirk Pasich
16 Tracks - 60:45 Min.
2021 war ein hartes Jahr für alle Fans der Gruppe Poco: das Gründungsmitglied Rusty Young starb am 14. April im Alter von 75 Jahren, der langjährige Gitarrist, Sänger und Songschreiber Paul Cotton starb am 31. Juli im Alter von 78 Jahren.
Nachdem Drummer George Grantham seit einem Schlaganfall 2004 weitgehend außer Gefecht ist und Randy Meisners schlechte gesundheitliche Verfassung keine musikalischen Aktivitäten mehr zulässt, nachdem Richie Furay seine Power nur noch für vereinzelte Solo-Konzerte aufspart und Timothy B. Schmit nach wie vor gut beschäftigter Bassist der Eagles bleibt, muss man wohl vom endgültigen Ende dieser legendären und Musikgeschichte (Country meets Rock) schreibenden Band sprechen. Immerhin steht aber mit Cimarron 615 eine Band in den Startlöchern, deren Mitglieder (Jack Sundrud, Bill Lloyd, Michael Webb, Rick Lonow, Tom Hampton) viele Beziehungen zu Poco aufweisen und die nun bald ein Debüt-Album auf den Markt bringen wird.
Hier aber soll die Rede von einem Tribute-Album sein, das als letzte Ehrung für Rusty Young konzipiert wurde. Kirk Pasich, der Chef der Plattenfirma Blue Elan Records, hat dafür seine musikalische Familie und noch ein paar Mitstreiter versammelt; herausgekommen ist eine leicht wehmütige, aber meist sehr hörenswerte CD, auf der 15 Songs von Rusty Young und der größte Poco-Hit „Call It Love“ (damals -1989 - gesungen von Rusty Young) in sehr interessanten Versionen versammelt sind. Wenn man das Intro, ein Rusty-Young-Medley mit einem weiblichen Streicher-Quartett, überstanden hat, kommt gleich ein deftiger Rocker („Rough Edges“), der darauf hinweist, dass Rusty Young nicht nur der Mann der leiseren Soft-Country-Pop-Töne war. Es folgt die Newgrass-Attacke „Rocky Mountain Breakdown“ vom siebten Poco-Album (1974) - übrigens die erste eigenständige Rusty-Young-Komposition, die dieser bei der Band unterbringen konnte. Eigentlich war er ja nur für die Bedienung der Country-Instrumente (Pedal Steel Guitar, Dobro, Banjo etc.) engagiert worden, hat sich aber bis 2000 zum Bandleader hochgearbeitet.
Das eindeutig beste späte Poco-Album „Running Horse“ (2002) ist mit drei Titel vertreten, die großen Hits der Band sind nicht vergessen worden: „Rose Of Cimarron“, „Call It Love“ und „Crazy Love“.
Zwei bisher unveröffentlichte Kompositionen sind erfreulicherweise vorhanden: „Old Hat“ hat Rusty Young 1992 zusammen mit Jack Sundrud geschrieben, der Song sollte eigentlich ins Repertoire der damals konzipierten Country-Rock-Supergroup „The Sky Kings“ (Rusty Young, Bill Lloyd, John Cowan und Patrick Simmons) kommen, doch nach fünf Jahren ohne finalisierte Platten-Veröffentlichung wurde das Ganze wieder gecancelt. Ein fast ähnliches Schicksal hatte übrigens das Trio Souther-Hillman-Furay-Band! Ebenfalls neu ist der Song „Crooked Road“, den Rusty Young zusammen mit Suzanne Spring, der derzeitigen Frontfrau der Mustangs Of The West, 1999 zu Papier gebracht hatte.
Besonders lohnenswerte Anspieltipps sind die dampfende Gospel-Rock-Version „Gonna Let It Rain“ von Sam Morrow und der perfekte Country-Pop-Song „If Your Heart Needs A Hand” in der Version von Janiva Magness. Das schön ausgestattete Album endet mit der Frage, die bei solchen Anlässen immer passt: „Where Did The Time Go?“
https://blueelan.com/products/my-friend-a-tribute-to-rusty-young-digital-album
Scott Martin: Corner Of The World ******
ScottMartinSongs (USA 2022)
Produced by Scott Martin & Michael Henchman
10 Tracks - 39:21 Min.
Das hat doch fast den Charakter einer Wiederauferstehung! Nach über 25jähriger Pause meldet sich der Singer/Songwriter Scott Martin, der in den 1980er Jahren eine hoffnungsvolle Musik-Karriere an der US-Westküste startete, mit einem Album zurück, für das zunächst nur ein Wort genügt: beeindruckend! Wir reden hier von seiner aktuellen CD „Corner Of The World“ und nicht von dem 2018er-Projekt, das irgendwie - gemäß seinem Titel „Missing“ - von der Bildfläche der Öffentlichkeit verschwunden ist.
Jetzt aber ist alles vorhanden: zehn perfekte Songs, die faszinierende Stimme von Scott Martin, sein kreatives Fingerpicking auf der akustischen Gitarre und die treffsicheren Soft-Rock-Arrangements, die er zusammen mit Michael Henchman entwickelt hat: Man möchte fast meinen, Scott Martin habe den Staffelstab von seinem großen Idol Dan Fogelberg (2007 verstorben) übernommen, doch auch andere Namen aus der Country/Folk/Rock-Szene drängen sich als Vergleiche auf: „Roxham Road“ klingt ein bisschen nach „Crazy Love“ von Poco, „We Dance Together“ könnte aus dem Repertoire der Band Venice stammen und „A Little Mystery““ (geschrieben zusammen mit Terry Klein, einem anderen in Austin lebenden Musiker) wäre ein Edelstein auf jeder John-Pousette-Dart-CD gewesen. Stimmlich liegt Scott Martin irgendwo zwischen Timothy B. Schmit, Jim Photoglo und Jeff Larson, er hat die Fähigkeit unangestrengt und unprätentiös, aber gleichzeitig sehr bewegend seine Song-Botschaften zu übermitteln.
Seine Texte sind eher im privaten Bereich angesiedelt und haben im Kern einen optimistischen Grundton: „Our cares are far away / And I’m just glad to be with you / For one more beautiful day“. Er kennt aber auch die dunklen Stunden und den wenig engelsgleichen Alltag. Er kennt die Träume von einer anderen, besseren Welt und die Tage die ohne Höhepunkte dahinplätschern; dennoch gilt die Devise: „We believe we have the power / We can will the sun to rise / Still the fire in my head / Never cools“. Scott Martin erzählt aber auch von den Lebensweisheiten, die ihm sein Vater mitgegeben hat („Find What You Love“) und von Flüchtlingsschicksalen an der kanadisch-amerikanischen Grenze („Roxham Road“).
Es wäre dringend zu wünschen, dass dieses unabhängig produzierte Album viel Aufmerksamkeit auf Scott Martin lenkt; denn es ist - ein großes Wort - ein Meisterwerk!
The Dillards: Old Road New Again ***
Pinecastle Recording (USA 2020)
Produced by Bill VornDick
11 Tracks - 33:56 Min.
Seit den frühen 1960er Jahren steht der Name The Dillards für eine Wegmarkierung in der amerikanischen Musik: der Entwicklung vom traditionellen Bluegrass zum modernen Country- und Folk-Rock. Die Brüder Douglas und Rodney Dillard bildeten zusammen mit Mitch Jayne (b) und Dean Webb (mand) ein ambitioniertes Bluegrass-Quartett, verließen aber bald nach ihrem Debüt-Album „Back Porch Bluegrass“ (1963) das ländliche Salem, Missouri und die Ozark Mountains und wurden zu einem heißen Tipp in der kalifornischen Musik-Szene. Sie inspirierten Bands wie The Eagles, Poco, die Nitty Gritty Dirt Band und die Flying Burrito Brothers zu einer Fusion von Rock und Country-Traditionen. Auch die Dillards selber ergänzten ihre Arrangements um Schlagzeug, elektrischen Gitarren und sogar teilweise mit Streicher-Flächen. So wurden die Alben „Wheatstraw Suite“ (1968) und „Copperfields“ (1970) zu Trendsettern. Für Douglas Dillard war das offensichtlich zu „modern“, andere Musiker wie Herb Pedersen (g, mand, voc), John Hartford (bj, voc) oder Byron Berline (fiddle) stiegen ein. Der ganz große Durchbruch stellte sich freilich nicht ein und eine große Family Reunion 1979 in Salem, Missouri bildete den Abschluss - immerhin verkündete der Bürgermeister den 8. August 1979 zum Dillard-Day! Und die Vinyl-Alben von The Dillards, Douglas Flint Dillard, Rodney Dillard, Dillard & Clark und Dillard-Hartford-Dillard nehmen in meinem Plattenschrank einen Platz von gut 20 Zentimetern ein.
Von der Original-Besetzung lebt mittlerweile nur noch Rodney Dillard (geboren 1942), der aber unermüdlich versucht, das Dillards-Projekt am Laufen zu halten. Insofern ist die vorliegende CD ein munteres Lebenszeichen, spannend vor allem deswegen, weil es Rodney Dillard gelungen ist, eine Reihe illustrer Gäste als Mitstreiter zu gewinnen: Don Henley, Ricky Skaggs, Herb Pedersen, Sharon & Cheryl White, Bernie Leadon und Sam Bush - das ist schon das Who’s Who des Country Rock! Die elf Songs pendeln zwischen traditionellem Bluegrass, folkigem Newgrass und melodiösem Country Rock. Manches wirkt ein bisschen angestaubt, aber die Stimme von Rodney Dillard und die verschiedenen Vokal-Harmonien - auch mit seiner Frau Beverly - entfalten noch den alten Glanz. Das Duett mit Don Henley in dem Song „My Last Sunset“ erweist sich als besinnliches Take-It-Easy-Remake und der Titelsong ist ein nostalgischer Rückblick auf die glorreichen späten 1960er Jahre: „Buffalo roamed the Springfield, The Beatles and the grass / the Colonels and the Parsons weighed this wheated past / Angel City Darlings, Sweethearts Of The Rodeo / we tasted all the beauty of the Queen and Sally Rose”.
Rodney Dillard charakterisiert sich als geerdeter Common Man, die höchst missverständliche Botschaft „Tearing Our Liberty Down“ hätte er sich jedoch sparen können! NGDB-Mitglied John McEuen und Elektra-Gründer Jac Holzman gratulieren dennoch mit vollem Herzen zu diesem Neubeginn auf der alten Straße.
Surrender Hill: Just Another Honky Tonk **
In A Quiet Western Town ****
Blue Betty Records (USA 2022)
Produced by Robin Dean Salmon
CD 1: 12 Track - 47:29 Min. / CD 2: 12 Tracks - 52:07 Min.
Hinter dem Bandnamen Surrender Hill, der an den Ort in Südafrika erinnert, an dem die Buren ihre Niederlage gegen die Briten im zweiten Burenkrieg (1899 - 1902) eingestehen mussten, steht das musikalische und private Duo Robin Dean Salmon und Afton Seekins Salmon. Die beiden trafen nach höchst unterschiedlichen künstlerischen Entwicklungen 2013 in Arizona aufeinander, produzierten zwischen 2015 und 2018 drei Alben („Surrender Hill“, „Right Her, Right Now“ und „Tore Down Fences“) und hatten etwa 200 Auftritte pro Jahr, nicht nur im amerikanischen Südwesten. Die erzwungene Live-Pause durch die Pandemie führte dann zu einem ambitionierten Home-Studio-Projekt, der nun vorliegenden Doppel-CD.
Die erste CD („Just Another Honky Tonk“) enthält eine dicke Portion der Art von Musik, die die Blues Brothers als falsche „Good Ole Boys“ in Bob’s Country Bunker hätten spielen sollen. Das mag live im entsprechenden Ambiente ganz witzig sein, als digitale Konserve werden die Cowboy- und Honky-Tonk-Klischees doch schnell etwas langweilig. Ausnahme: der Titel „Forgotten Town“, der auch auf eine Platte von Chris Isaac oder zu einem Film von Quentin Tarantino passen würde.
Konzentrieren wir uns also auf CD Nummer 2 („Quiet Western Town“), auf der Surrender Hill ihre Stärken als AltCountry/Americana-Band eindrucksvoll demonstriert. Ein Pfund sind ohne Frage die Stimmen von Robin & Afton, die sowohl für sich allein als auch im Harmoniegesang an Civil Wars oder sogar an Robert Plant & Alison Krauss erinnern. Dazu präsentieren beide ein einprägsames Songwriting, meist im beschaulichen Tempo mit Themen, die die Realität der Gegenwart spiegeln. Der Auftaktsong „Tumbleweed“ kreiert eine magische Stimmung und endet in einer eruptiven Steigerung, er erzählt von kleinen Städten, die sich in Ghosttowns verwandelt haben - Erinnerungen an Peter Bogdanovichs Kultfilm „The Last Picture Show“ kommen auf. Eine Abkehr von gesellschaftlicher Spaltung und von Hassbotschaften fordern „Call Upon My Friends“ und „Love Your Neighbor“, „Nothing But The Skin“ erinnert an die Humanität als Grundlage menschlicher Beziehungen.
Das Ehepaar Salmon hat sich gewichtige musikalische Unterstützung gesichert, allen voran den gefragten Studio- und Tour-Gitarristen Mike Waldron, bekannt durch seine Arbeit für Lee An Womack, Martina McBride und Garth Brooks. Matt Crouse (dr) und Drew Lawson (b) bilden eine solide Rhythmusgruppe, dazu sorgt Mike Daly (pedal steel) für Breitwand-Country-Kino und Eric Fritsch (keyb) lässt die Hammond B 3 zünftig rauchen.
Während also CD 1 für eine Line-Dance-Party beiseitegelegt werden kann, ist CD 2 ein Versprechen für eine mögliche weitere Karriere von Surrender Hill. No surrender!
Brock Davis: A Song Waiting To Be Sung ****
Raintown Records (USA 2022)
Produced by Brock Davis
13 Tracks - 45:50 Min.
Brock Davis hat eine Pause eingelegt, vielleicht nennt man das Elternzeit, Zeit für die Familie, Zeit um zu sich zurückzufinden. 2006 wurde sein Sohn Keith geboren, 15 Jahre später hat ihn die musikalische Leidenschaft wieder erfasst, diverse Songs lagerten in der Schublade und auch in Ronnie’s Place Studio in Nashville war Zeit für einen Aufnahmetermin unter der Leitung von Zach Allen. Die Anreise von Santa Cruz, California hat sich definitiv gelohnt, die Songs, die darauf warteten gesungen zu werden, sind im Kasten, und die gleichnamige CD präsentiert 13 Titel von solider Qualität.
Das musikalische Spektrum von Brock Davis reicht vom Mainstream Rock eines Tom Petty oder eines Rick Springfield bis zu melodiösen Country Pop im Stile eines Jesse Brewster mit extrem radiotauglichen Hooklines. Neben ein paar eher klischeehaften Lovesongs gibt es auch packende Anspiel-Tipps: etwa das dynamische „Can‘t Get Close Enough To You“ und das autobiografische „I Get It Now“, ein Lied, in dem Brock Davis von einem früheren Sportlehrer erzählt, dessen Ratschläge er leider nur später als Erwachsener befolgt hat: „didn’t get it then / but how I get it now“. Der Titelsong erzählt von der Geburt seines Sohnes: „The dawn is breaking, I’m the world’s most lucky man / I’ve heard the secret and now I understand … my simple dream is lying in my arms - a tiny son”. Großen Optimismus strahlt auch der gospelartige Song „We Will Rise“ aus mit seinen hymnischen Background Vocals und einer rauchigen Hammond-Orgel von Michael Hicks. „All Free“ transportiert eine Botschaft gegen den alltäglichen Rassismus: „If we’re not all free / Then we’re not free at all“.
Insgesamt ist diese CD auch eine Art Selbst-Medikation des Musikers Brock Davis, ein Weg aus diversen Lebenskrisen und ein neuer Start - „Second Time Around“. Die Daumen sind gedrückt, eine breite Aufmerksamkeit wäre verdient.
Jefferson Ross: Southern Currency ****
Jefferson Ross (USA 2022)
Produced by Thomm Jutz
11 Tracks - 44:09 Min.
Jefferson Ross ist ein Künstler mit vielen Facetten: er ist Sänger und Songwriter, spielt Gitarre, fotografiert und zeichnet - vor allem mit seiner Lieblingsfarbe Blau. Er pendelt zwischen Atlanta, Georgia und Nashville, Tennessee, ist tief verwurzelt im Leben der Südstaaten, kann aber differenzieren zwischen tumbem Patriotismus und empathischen Heimatgefühlen, erkennt die Widersprüche dieser Region und ihrer Menschen. So ist es nicht verwunderlich, dass sein fünftes Album einem Konzept folgt: „Southern Currency“ ist eine Reise durch die elf Südstaaten von A wie Alabama bis V wie Virginia, doch bestimmt kein rosafarbener Reiseführer, der nur von Mondlicht und Magnolias erzählt. Vergleichbar ist „Southern Currency“ mit Rosanne Cashs „The River And The Thread” oder „Riverland“, der Mississippi-Flussfahrt von Eric Brace, Peter Cooper und Thomm Jutz. Letzterer ist auch der gewichtige musikalische Begleiter von Jefferson Ross`s Song-Route. Die elf Titel wurden in den TJ-Tunes-Studios in Nashville aufgenommen, in einem streng akustischen Newgrass-Arrangement mit Lynn Williams (dr) und Mark Fain (b) als Grundlage, zu der Mike Compton (mand), Tammy Rogers-King (fiddle) und Thomm Jutz (g) für die instrumentellen Highlights sorgen.
Jefferson Ross erzählt mit angenehmem Timbre die Geschichten des amerikanischen Südens: tragische Familienkonflikte im Bürgerkrieg, Rassenunruhen in Birmingham, Alabama und einmalige Farbkompositionen beim Sonnenuntergang in Florida; die authentische Küche von Louisiana und entspannte Autofahrten in South Carolina („flow through life just like a cadillac“); das kurze Leben des Schriftstellers Thomas Wolfe und die Music der Allman Brothers sowie von James Brown „down in Macon, Georgia“. Ernestine tanzt mit Randy den „Nashville Neon Waltz“ in einer kleinen Bar, ein übermütiger Macho posaunt derweil in Clarksdale: „If I was the prince of the delta / I’d want to be the king of Mississippi “.
Die Musik spannt einen stilistischen Bogen vom sonnigen Folk-Pop über traditionellen Bluegrass-Country zum erdigen Country-Blues, ähnliche Texturen haben Chris Hillman und Herb Pedersen in ihren Werken erzeugt. Eines ist sicher: „Southern Currency“ ist kein wertloses Geld, sondern eine lohnenswerte Anlage in hochwertige Musik.
Wer daneben noch das geschriebene Wort und die Fotografie liebt, sei auf Jeffersons Bildband „Southern Light. Visual and Verbal Snapshots of the South“ verwiesen, wo er eigene Bilder mit Haiku-Poetik kombiniert.
Terry Klein: Good Luck, Take Care ****
terrykleinmusic (USA 2022)
Produced by Thomm Jutz
10 Tracks - 38:56 Min.
Für seine dritte CD (nach „Great Northern“ und „tex“) hat sich Terry Klein aus seiner Komfortzone Austin bewegt und den Sprung nach Nashville gewagt. Für fünf Tage war er während des Oktobers 2021 im TJ-Tunes-Studio von Thomm Jutz, dem mittlerweile sehr erfolgreichen Deutsch-Amerikaner, und das Ergebnis ist beeindruckend. Zehn Eigenkompositionen enthält das Album, die Musik entfernt sich vom akustischen Folk früherer Tage und tendiert mehr zu einem rauen Roots-Rock, ganz in der Tradition von Steve Earle, Rodney Crowell oder Lee Clayton. Das ist auch insofern überraschend, als Produzent Thomm Jutz mehr vom Bluegrass kommt, diesmal aber robust zur elektrischen Gitarre greift und mit Lynn Williams (dr) und Tim Marks (b) ein sehr kompaktes Rhythmus-Duo einbestellt hat. Für die Country-Elemente sorgen Tammy Rogers (fiddle, mand) und Scotty Sanders (pedal steel).
Das große Plus des Albums sind aber die Songwriting-Fähigkeiten von Terry Klein, der von sich sagt, dass er keine abstrakten Texte mag und lieber Geschichten aus dem alltäglichen Leben erzählt. Er scheut sich nicht, über eigene Panik-Attacken zu sprechen („Sixty In A Seventy Five“), vom Selbstmord des berühmten Stock-Car-Fahrers Dick Trickle zu berichten („Dick Trickle“) oder die kritischen Fragen der eigenen Tochter zum Fleisch-Konsum zu thematisieren („Does The Fish Feel The Knive“).
Terry Klein berichtet auch mit kritischen Untertönen von seinen jüngeren Jahren in Boston („Such A Town“) und von einer längst vergangenen Liaison mit der Drogendealerin Cheryl („Cheryl“). Klein ist kein Prediger mit erhobenem Zeigefinger, wer aber dennoch eine gewisse Botschaft heraushören möchte, sei auf den Song „What You Lose Along The Way“ verwiesen. Der endet mit der realistischen Erkenntnis: das Leben ist eine Summe von Verlusten - aber dennoch lebenswert! Und die CD ist kein oberflächliches Vergnügen - aber dennoch (oder gerade deswegen) sehr hörenswert!
Wollen die Russen Krieg?
Oder lieben sie ihre Kinder dafür zu sehr?
Das Verhältnis des Westens zu Russland (vormals UdSSR), zu seinen Einwohnern und zu seiner Regierung war in den letzten 70 Jahren geprägt von Antikommunismus, Bedrohungsangst, aber auch von neuer Hoffnung auf Partnerschaft. Mit Putins Überfall auf die Ukraine haben die Beziehungen einen zwischenzeitlichen Tiefpunkt erreicht. In Europa ist am 24. Februar 2022 etwas passiert, was nach 1945 eigentlich ausgeschlossen sein sollte: ein mit brutaler Konsequenz inszenierter völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen einen souveränen Nachbarstaat, kombiniert mit einer zynischen Desinformations-Kampagne.
Deshalb erscheint es sinnvoll, an zwei Kulturschaffende zu erinnern, die sich in der Vergangenheit die Frage stellten, ob von Seiten Russlands ein Angriffskrieg gegen den Westen drohe. Der eine ist der russische Schriftsteller Jewgeni Jewtuschenko (1932 - 2017) - bekannt durch seinen Roman „Stirb nicht vor deiner Zeit“ -, der 1961 das Gedicht „Meinst du, die Russen wollen Krieg?“ veröffentlichte. Unter dem Eindruck einer Reise durch Westeuropa und die USA, ein Jahr vor der Kuba-Krise, die die Welt an den Rand eines Atomkriegs brachte, entstanden die Zeilen, die noch im selben Jahr von dem russischen Komponisten Eduard Kolmanowski vertont und von Siegfried Siemund ins Deutsche übersetzt wurden.
Meinst du, die Russen wollen Krieg? / Befrag die Stille, die da schwieg
im weiten Feld, im Pappelhain, / Befrag die Birken an dem Rain.
Dort, wo er liegt in seinem Grab, / den russischen Soldaten frag!
Sein Sohn dir d‘rauf die Antwort gibt: / Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Nicht nur fürs eig’ne Vaterland / fiel der Soldat im Weltenbrand.
Nein, dass auf Erden jedermann / in Ruhe schlafen gehen kann.
Holt euch bei jenem Kämpfer Rat, / der siegend an die Elbe trat,
was tief in unsren Herzen blieb: / Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Der Kampf hat uns nicht schwach gesehn, / doch nie mehr möge es geschehn,
dass Menschenblut, so rot und heiß, / der bitt’ren Erde werd’ zum Preis.
Frag Mütter, die seit damals grau, / befrag doch bitte meine Frau.
Die Antwort in der Frage liegt: / Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Es weiß, wer schmiedet und wer webt, / es weiß, wer ackert und wer sät -
ein jedes Volk die Wahrheit sieht: / Meinst du, die Russen wollen,
meinst du, die Russen wollen, meinst du, die Russen wollen Krieg?
Das Gedicht war besonders in der DDR sehr populär, wurde im Schulunterricht auswendig gelernt, bei FDJ-Treffen als antifaschistisches Kampflied gesungen. Hochgradig peinlich, dass die linke, marxistisch orientierte, überregionale Tageszeitung „Junge Welt“, dieses Gedicht in der Ausgabe vom 8. Januar 2022 als Beitrag gegen die „antirussische Hetze“ veröffentlichte. Die Ambivalenz der vier Strophen äußert sich nicht nur in der Legende vom guten Krieg und in der Heroisierung des edlen Soldaten, sondern auch in der grundsätzlich problematischen Typisierung des friedliebenden „Russen“.
24 Jahre später komponierte der englische Musiker Sting (Gordon Matthew Thomas Sumner) für „The Dream Of The Blue Turtles“, sein erstes Solo-Album nach der Police-Zeit, den Song „Russians“, eine dezidierte Stellungnahme gegen die Kalte-Kriegs-Rhetorik des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan: die Sowjetunion sei das „Reich des Bösen“.
In Europe and America / there's a growing feeling of hysteria
Conditioned to respond to all the threats / In the rhetorical speeches of the Soviets
Mister Krushchev said, „We will bury you“/ I don't subscribe to this point of view
It'd be such an ignorant thing to do / If the Russians love their children too
How can I save my little boy / from Oppenheimer's deadly toy?
There is no monopoly on common sense / On either side of the political fence
We share the same biology, / regardless of ideology
Believe me when I say to you / I hope the Russians love their children too
There is no historical precedent / To put the words in the mouth of the president?
There's no such thing as a winnable war / It's a lie we don't believe anymore
We share the same biology, / …
Anders als Jewtuschenko nahm Sting damals die kritische Perspektive auf die Positionen des Westens ein, geleitet von einer pazifistischen Überzeugung und von dem Glauben an die weltweite humane Zivilisation. Der Februar 2022 hat ihn jedoch belehrt, dass zumindest einige in verantwortlichen Positionen sitzende Russen diese Liebe zu den (eigenen) Kindern nicht ganz so ernst nehmen. Sting hat darauf ganz aktuell in einem emotionalen Instagram-Beitrag erklärt, er habe nie gedacht, dass dieser Song noch einmal relevant werden könnte. Doch in Anbetracht der „blutigen und erbärmlich falschen Entscheidung eines einzelnen Mannes, bei seinem friedlichen Nachbarn einzumarschieren“ sei „Russians“ ein leider wieder aktuelles Plädoyer für Menschlichkeit. Begleitet vom Cellisten Ramiro Belgardt und unter Verzicht auf die Textzeile zu „Mister Reagan“ performte er im heimischen Studio den Song für „die mutigen Ukrainer, die gegen diese Tyrannei kämpfen, aber auch für die vielen Russen, die eine Gefängnisstrafe in Kauf nehmen, um gegen die Schandtat zu protestieren“.
Die fatale Kontinuität vom Schuh des Nikita Chruschtschow, über die Rambo-Mentalität des Ronald Reagan zu den Großmacht-Phantasien des Wladimir Putin sollte eigentlich zu einem neuen lyrischen Versuch gegen die irrationale Logik des militärischen Denkens herausfordern: „Give Peace A Chance“!
John Mellencamp: Strictly A One-Eyed Jack *****
Republic Records (USA 2021)
Produced by John Mellencamp
12 Tracks - 48:43 Min.
John Mellencamp, der sich am Anfang seiner Karriere noch mit dem geschmeidig-anzüglichen Beinamen „Cougar“ schmückte, war (neben Tom Petty) der unbestrittene Botschafter des ländlichen US-Heartland Rock - rau, aber herzlich. Davon ist auf seiner 25. Studio-CD nur noch das erste Adjektiv übriggeblieben. Die Arrangements (sogar die leicht angezerrte Geige von Miriam Sturm) und die Stimme sind rau wie Schmirgelpapier, die Gesamt-Befindlichkeit ist jetzt verbittert.
Es wäre auch ein bisschen peinlich, wenn man nach vierzig Jahren immer noch die Welt aus dem Horizont des Auto-Rücksitzes der Schulfreundin Diane betrachten und die Dauer-Juvenilisierung („Hold on to 16 as long as you can“) predigen würde. Aus „R.O.C.K. in the USA“ wurde L.I.E.S. und H.A.T.E. in the USA, der charismatische Songwriter nennt sich nun „Little Bastard“ und steht wie ein King Lear oder ein thebanischer Herrscher Kreon vor dem Scherbenhaufen eines Lebens und eines Landes.
Als neues Mitglied der Ü-70-Generation beklagt er derart schonungslos die vielen sinnlos verschwendeten Tage und die unerbittlich verrinnende restliche Lebenszeit („Wasted Days“), dass man ihm fast ein tröstendes „carpe diem“ zurufen möchte. Als Wutbürger der kaum mehr vereinigten Staaten äußert Mellencamp im Titelsong seine Ver-Stimmung über den Eindruck, dass nur noch Geld und Macht eine Rolle spielen und dass die Lügen im TV, in der Werbung und in der Kirche - symbolisiert in dem einäugigen Herz-Buben - zum Alltag gehören.
In Bruce Springsteen hat er einen Bruder im Geiste gefunden, der auf drei Songs mit elektrischer Gitarre und Background-Vocals einsteigt. Ansonsten halfen Mellencamp während der Pandemie seine treuen Begleiter Andy York, Dave Clark und John Gunnell im eigenheimischen Belmont Mall Studio dabei, seine notorisch verregneten Gedanken („A Life Full Of Rain“) musikalisch zu grundieren. Das Cover stammt übrigens vom 27jährigen Sohn Speck, der dem Porträt des Vaters noch eine, dem Albumtitel entsprechende schwarze Augenklappe hinzugefügt hat. Die zwölf Eigenkompositionen sind eine radikale Abrechnung, die in ihrer Intensität und Direktheit beeindruckt, bei der man aber vergeblich nach einem Hoffnungsschimmer oder einem Funken Ironie sucht.
Peter Rogan: Broken Down Love ****
Melt Shop Records (USA 2022)
Produced by Peter Rogan
12 Track - 47:44 Minutes
Wieder so ein Spätberufener: Peter Rogan war schon immer ein leidenschaftlicher Musiker, verdiente sein Geld aber als Elektriker in einer Stahlfabrik in Pennsylvania. Erst als Endfünfziger im Jahre 2014 entdeckte er auch das Songwriting für sich und verwirklichte 2018 seinen lebenslangen Traum: eine CD mit überwiegend eigenen Songs und mit einer erfahrenen Backing Band. So entstand „Still Tryin‘ To Believe“ als Independent-Produktion auf dem eigenen Melt Shop Label. 2021 griff Rogan noch einmal in die eigene Tasche, verkaufte sein Honda-Motorrad, startete eine Fundraising-Aktion und ging im Mai ins Cowboy Arms Studio, Nashville.
Das Ergebnis ist „Broken Down Love“, eine sehr hörenswerte Sammlung von 12 Songs (darunter zwei Cover-Versionen), verortet im Roots Rock mit viel Americana und ein bisschen Folk-Blues. Rogan nähert sich damit als Sänger, Songwriter und Gitarrist einer Liga, zu der auch bekanntere Namen wie Kevin Gordon, Steve Postell, der leider schon verstorbene Stephen Bruton oder John Hiatt gehören. Garanten für die musikalische Qualität sind Will Kimbrough an diversen Gitarren und Phil Madeira am Keyboard und an der Lap Steel Gitarre. Die beiden haben schon für große Stars wie Emmylou Harris gespielt und setzen nun Akzente für den Studio-Sound von Peter Rogan.
Die CD startet vielversprechend mit dem Titelsong und der Geschichte eines Mannes, der zwar seinen hellblauen Chevy-Belair-Oldtimer fachkundig reparieren kann, aber beim Kitten von Beziehungen scheitert. „Short Shifter Blues“ ist ein trockener Bericht aus der Arbeitswelt mit leichter Anlehnung an den altbekannten Little-Feat-Groove. Der Trucker-Song „Back to Natchez“ eröffnet mit der Lap Steel Gitarre Wege in den filmischen Country-Rock und „All That’s Left Is The Blues“ hält genau, was der Titel verspricht. Dass man Songs der Rolling Stones in dieses Genre übersetzen kann, hat schon vor langem Gram Parson bewiesen, bei „It’s Only Rock’n‘ Roll“ macht Will Kimbrough den Keith Richard und eine Studio-Horn-Section sorgt für authentische Memphis-Stimmung. „Dancing Naked“ führt mit Akkordeon weiter in den Mississippi-Süden und ist eine Empfehlung für alle Männer, wie man gestresste Ehefrauen wieder entspannen kann. „My Kinda Strange“ entpuppt sich als Geradeaus-Blues-Rocker mit einem saftigen Solo von Mr. Rogan himself. Akustisch schleicht sich „Don‘t Be Afraid Of The Rain“ in den Gehörgang und berichtet von einigen, lang zurückliegenden Jugendsünden. Dass es manchmal nötig ist, seine Lebensziele neu zu definieren, erläutert Rogans „Ships A Burnin´“ im melodiösen Retro-Rock. Das große Vorbild John Hiatt wird schließlich zitiert: „Thank Yo Girl“ in einer leicht beschleunigten Version mit fünf Background-Sängerinnen. Und mit dem letzten Titel „I Wish“ wünschen wir dem Elektriker Peter Rogan immer gute Kontakte, das helle Licht der öffentlichen Wahrnehmung und hoffentlich keinen Kurzschluss.
Steven Graves: All Alone ***
Steven Graves (USA 2021)
Produced by Steven Graves, Travis Cruse & David Higdon
13 Tracks - 61:55 Min.
In schweren Zeiten ist Musik mit einer Prise Optimismus gefragt. Genau das liefert Steven Graves mit seiner mittlerweile neunten CD „All Alone“. Er ist eben der gute Mensch von Santa Cruz, Califonia, der dem Zuhörer hilft, durch die einsame Nacht zu kommen („Lonely Night“), und der die Schwarzseher daran erinnert, dass es eine ganze Menge guter Menschen auf dieser Welt gibt („Good People“). Bezeichnenderweise umrahmen diese beiden Songs das Album und verbreiten mit unübersehbaren harmonischen Anleihen eine Don’t-Worry-Be-Happy-Stimmung. Graves ist aber keineswegs ein naiver Gute-Laune-Onkel, er kennt auch den Blues und die Probleme von Beziehungen. Aber selbst angesichts einer schlimmen Naturkatastrophe, den Bränden in Kalifornien, kann er noch eine lebenswerte Zukunft erkennen: „Fire … burns the darkness away“.
Musikalisch ist Steven Graves mit seiner Band breit aufgestellt: ein bisschen Country, ein bisschen psychedelischer Westcoast-Rock im Stile von Grateful Dead, ein bisschen South-Of-The-Border-Sound, ein bisschen weißer Soul-Pop mit Anklängen an Otis Redding, ein bisschen Songwriter-Rock mit Botschaft wie Jackson Browne und viel Love&Peace-Hymnen (z. B. „Rise Together“), die an Jesse Colin Youngs Youngbloods und ihren Hit „Get Together“ aus dem Jahre 1967 erinnern. Irgendwie scheint in dem Musiker Steven Graves noch die Woodstock-Droge am Leben, man könnte ihn glatt in die damalige Setlist zwischen Santana, Crosby, Stills, Nash & Young und Blood, Sweat & Tears einbauen.
Einschränkend muss man aber auch feststellen, dass Steven Graves stimmlich und kompositorisch etwas limitiert ist, dass seine Songs oft starken gegenseitigen Wiedererkennungswert haben und häufig an einen Retro-Act aus den 1970er Jahren erinnern. Demgegenüber tritt er aber auch als authentischer politischer Aktivist auf, der für die Rechte der Eingeborenen („Sitting Bull“), für den Naturschutz und für eine bessere Zukunft seine Stimme erhebt. Das mag in heutigen oberflächlichen Musik-Business zwar altmodisch erscheinen, ist aber immer aller Ehren wert.
Mit Travis Cruse hat er einen präzisen Gitarristen an seiner Seite, mit Bryant Mills und Robert Melendez eine solide Rhythmusgruppe und mit den Bläsern Armen Boyd, Mika Rinta, Steve Stanley und Jeff Lewis eine heiße Brass-Abteilung. Auch wenn manche die Apokalypse an die Wand malen, bleibt Steven Graves bei seinem Glauben: „Love Conquers Fear“!
Severin Browne: Overdue ****
CD Baby (USA 2021)
Produced by Ed Tree
10 Tracks - 40:43 Min.
Für Severin Browne - geboren 1949 in Frankfurt am Main - wird wohl sein ganzes musikalisches Leben lang das Label gelten, dass er der (ein Jahr jüngere) Bruder von Jackson Browne ist. Doch als entspannter Ü-70-Veteran kann er damit leben, dass seine Karriere auf einem niedrigeren Level verlaufen ist, dass er aber immerhin sechs Solo-CDs auf seinem Zettel hat, dass er einige halbwegs erfolgreiche Songs für andere Interpreten geschrieben hat, dass er sich regelmäßig mit Songwriter-Freunden aus SoCal trifft und mit denen unter dem Namen Tall Men Group auch schon fünf CDs veröffentlicht hat, dass er in der Pandemie eine regelmäßige First-Friday-Show mit Freunden (z. B. mit James Lee Stanley) auf Facebook-Zoom organisiert hat und dass er so zu dem vorläufigen Fazit kommt, darüber glücklich zu sein, schon so lange zu leben und den unruhigen Traum vom Starruhm aufgegeben zu haben.
„Overdue“ ist eine manchmal an den frühen James Taylor erinnernde Sammlung von Songs, die zurückblicken, Beziehungen analysieren, gegenwärtige Probleme ansprechen und persönliche Befindlichkeiten artikulieren. „Young And Free“ ist - wie der Titel schon sagt - eine Form der Erinnerung, aber auch eine aktuelle Selbst-Diagnose, bei der Soziologen von einer langdauernden Post-Adoleszenz sprechen würden: „I’m still busy being young and free“, ähnlich der Botschaft seines Bruders auf dessen neuem Album: „Still Looking For Something“. „On Way Way To Play“ ist eine emotionale Auseinandersetzung mit der Demenz-Erkrankung des Vaters, der ja die beiden Söhne musikalisch sozialisiert hat, und der Titelsong reflektiert die ungebrochene Freude am gemeinsamen Musik-Machen (jeden Montag!) mit Freunden: „We’re just fans of the music, not the Wrecking Crew“. Die Border-Geschichte vom Traum des jungen mexikanischen Ehepaars Miguel & Maria mit Tochter Lucia ist eine dezente politische Botschaft an die US-amerikanische Politik und „I Am And I Will“ entpuppt sich als kraftvolles Bekenntnis zu ehrlichen Beziehungen.
Man hätte sich vielleicht ein paar mehr Up-tempo-Nummern wünschen können, die diesen kalifornischen Folk-Rock angestachelt hätten, doch auch die relaxte Grundstimmung hat ihre Qualitäten und platziert Severin Browne in eine Liga mit Kollegen wie Jack Tempchin, Jonathan Edwards, Gerry Beckley oder Dan Navarro. Wer also noch nichts von Severin B. gehört hat: it’s overdue!
Richie Mayer: The Inn Of Temporary Happiness (Revisited) ****
Richie Mayer Music (USA 2020)
Produced by Richie Mayer
11 Tracks - 40:36 Min.
Zwei Fotos auf dem Cover erzählen die Geschichte dieses Albums: vorne sitzt Richie Mayer mit Gitarre schwebend im weißblauen Himmel in einem Alfa Romeo Sportwagen. Das Kennzeichen lautet PWR POP und zeigt wohin die musikalische Reise geht: back to the future! Innen sehen wir Mayers Musikzimmer, vollgestellt mit Gitarren, Keyboards, Mischpult, digitalem Aufnahmegerät und diversen Monitorboxen. Das illustriert die Produktionsweise während der Pandemie: Home Recording ist angesagt! Bis auf ein Gitarrensolo von Jeff King hat Mayer alles selbst eingespielt, wohlgemerkt ohne die Hilfe von Computer, Sequenzern oder Vokal-Autotuner.
17 Songs hat er fertiggestellt, von denen sich elf auf dieser Revisited-CD befinden. Das Cover nennt sogar nur zehn Songs, doch wer Geduld hat, wird auch noch den Hidden Track „Warmth Of The Sun“ finden! Die Plattform Bandcamp bietet dazu eine Limited Edition an, auf der alle 17 Titel versammelt sind.
Richie Mayer stammt aus der 80er Power-Pop-Szene von Chicago, wo er zuerst mit Loose Lips melodiösen New Wave machte und mit PushPush eine Art Antwort auf Mr. Mister versuchte. Nach wechselndem und begrenztem Erfolg hat er sich im Jahr 2000 ganz der Architektur zugewandt. Erst Covid hat ihn wieder zur Musik zurückgebracht, und das ist gut so!
Das Ergebnis seiner Heimarbeit ist eine intelligente Kompositions-Reise durch die Felder der ambitionierten Pop-Rock-Musik, ganz in der Tradition des legendären Duos The Rembrandts (Phil Solem und Danny Wilde) oder der Studio-Band Third Matinee (Richard Page und Patrick Leonard). Wer genau hinhört, wird immer Zitate von den Beatles, von den Beach Boys, von 10cc oder vom Electric Light Orchestra bemerken, ohne dass Richie Mayer aber in puren Eklektizismus verfällt. Ein Plattentitel wie „Sgt. Pepper revisited“ wäre absolut angemessen. Die Songs verströmen eine Menge Energie, die Stimme von Richie Mayer ist auf hohem Level und seine Vielfältigkeit an den Instrumenten beeindruckt. Und da hätten wir schon einen weiteren passenden Albumtitel; „Never A Dull Moment“!
When a man makes music with a woman …
… dann kommt manchmal etwas ganz Besonderes heraus wie etwa bei Sonny & Cher, Ike & Tina Turner, Stevie Nicks & Lindsey Buckingham oder - aktueller - bei Civil War oder Fox & Bones. Deshalb folgt hier ein Blick auf vier weniger bekannte Duos, die vor kurzem eine neue CD veröffentlicht haben.
Esquela: A Sign From God **
Livestock Music (USA 2021)
Produced by Eric „Roscoe” Ambel
10 Tracks - 35:43 Min.
Auch John „Chico” Finn aus Bovina, N. Y., den Kopf der Band Esquela, hat die Pandemie hart getroffen Nach vier Alben, die weitgehend live im Studio aufgenommen wurden, musste er für „A Sign From God“ alle Musiker online zusammenkoppeln, um zu seinen Basis Tracks, die er mit akustischer Gitarre und Gesang auf seinem MacBook aufgenommen hatte, einen kompakten Roots-Rock-Sound herzustellen. Mediator war Produzent Eric „Roscoe“ Ambel, (bekannt für seine Arbeit mit Joan Jett, den Del-Lords und Steve Earle) der in seinem Home Studio die einzelnen Instrumente zusammenmischte.
Den weiblichen Part bei Esquela übernimmt Rebecca Frame, die zusammen mit dem Gitarristen Brian Shafer auch in der Band Becca Frame and the Tall Boys im Staate New York aktiv ist. Mike Ricciardi (dr), Keith Christopher (b) und Matt Woodin (g) komplettieren das Bandprojekt.
Die Songs von John Finn decken ein weites thematisches Feld ab: es geht um kritisch-ironische Gegenwartsbeobachtungen („Not In My Backyard“, „First World Problems“), es geht um historische Ereignisse wie den amerikanischen Bürgerkrieg mit der Schlacht von Bullrun, 1861, aber auch um das SS-Massaker im französischen Oradura 1944 und um zeitlose Probleme wie enttäuschte Liebe, Hass und Rassismus. Die Songliste endet sogar mit einem vertonten Gedicht des russischen Schriftstellers Konstantin Simonov (1915 - 1979), gerichtet an seine Freundin im Zweiten Weltkrieg: „Wait for me and I’ll return“.
Die musikalische Ausführung kann mit diesen textlichen Ambitionen nicht immer ganz mithalten, Arrangements und Komposition wirken etwas vorhersehbar und gleichförmig. Gleiches gilt auch für die vokale Präsenz der beiden Leadsänger. Esquela (das heißt auf Deutsch: Nachruf) präsentieren holzschnittartigen Indie-Roots-Rock mit kleineren Anleihen bei CCR, The Band, Tom Petty oder John Hall, ohne je in diese Niveauebenen vorzustoßen.
Kalinec & KJ: Let’s Get Away ***
Berkalin Records (USA 2021)
Produced by Brian Kalinec & Michael Mikulka
10 Tracks - 35:25 Min.
Wenn ich mal in Houston, Texas durch die Innenstadt spazieren würde und wenn an einer Ecke Brian Kalinec und KJ Reimensnyder-Wagner ihre Gitarren ausgepackt hätten, würde ich gerne stehen bleiben und eine Weile zuhören. Die beiden kennen sich seit über acht Jahren und haben nun auf Kalinecs eigenem Berkalin-Label (dort gibt es auch die aktuelle Solo-CD von Brian Kalinec mit dem Titel „The Fence“) eine Duo-CD herausgebracht. Darauf finden sich zehn Songs, neun davon sind unaufgeregte Eigenkompositionen mit wechselnden Lead Vocals, dazu kommt ein Cover des Klassikers von Paul Overstreet und Don Schlitz („When You Say Nothing At All“), mit dem Ronan Keating 1999 einen satten County-Pop-Hit landete.
Auf allen Titel dominieren die akustischen Gitarren von Kalinec und KJ, den dezenten Background besorgen Jeff Duncan (fiddle), Tyson Sheth (dr) und Rankin Peters (b). Die Stimme von Brian Kalinec ist gefällig, die von Frau Reimensnyder etwas profilierter. Stilistisch bewegen sich beide im modernen Folk mit kleinen Anlehnungen an schottisch-irische Atmosphäre und an aktuelle Popsongs. Manchmal sorgt die Geige für etwas Western Swing-Stimmung - besonders bei dem Rausschmeißer von Brian Kalinec mit der unbestreitbaren Altersweisheit „I’m living what’s left over for me“. Die beiden verbreiten insgesamt eine positive Grundstimmung, was nicht verwundert, wenn man weiß, dass KJ ihr Geld auch als musikalische Motivationstrainerin verdient.
Mark Viator & Susan Maxey: Where the Road Leads ***
Rambleheart Records (USA 2020)
Produced by Max Viator
12 Tracks - 50:20 Min.
Wenn mich mal die Straße nach Austin, Texas führt und ich dort auf einem Plakat ein Club-Konzert von Mark Viator (voc, g, national steel g, mand) und Susan Maxey (voc) angekündigt sähe, würde ich ohne großes Zögern hingehen. Denn die Live-Präsentation scheint mir das große Plus dieses Duos zu sein, das aber am Ende jeder Show auch ihre aktuelle CD „Where The Road Leads“ am Merchandise-Tisch verkauft.
Darauf befinden sich zwölf Song, überwiegend Eigenkompositionen von Mark Viator, die die Zeit zwischen eigener Jugend und Gegenwart und den erfahrenen Raum zwischen Texas und Louisiana abstecken. Die Leadvocals sind gerecht zwischen Susan und Mark verteilt, die Refrains werden solide zweistimmig abgeliefert und eine dezente Backing Band darf den Hintergrund ausfüllen; im Wesentlichen Chris Olson am Bass und Ralph Power an den Drums. Viator bedient allerlei Saiteninstrumente, besonders markant, wenn er die Dobro umschnallt. Dieser melodiöse Country Folk ist angenehm zu hören, reißt einen aber auch nicht vom Sessel und erinnert nur in wenigen besonderen Momenten die Strahlkraft eines Ry Cooder oder die Emotionalität von The Band. Das beste Stück ist bezeichnenderweise ein Cover eines Songs von Stephen Bruton (leider schon lange verstorben!): „Teach Me How To Stay“. Zweiter Anspieltipp ist der Titelsong mit der beruhigenden Botschaft, man wisse nie, wohin einen der Weg führen wird. Zurück zu NeWorlDeli, dem kleinen Club in Austin: am Ende wünschen wir uns den Koffer voller Erinnerungen als Zugabe!
Tip Jar: One Lifetime ****
Shine A Light Records (NL 2021)
Produced by Eric van de Lest & Tip Jar
11 Tracks - 42:29 Min.
Die eigentliche Überraschung dieser Duo-Rubrik sind aber Bart de Win (voc, keyb, acc) und Arianne Knegt (voc) aus den Niederlanden, die mit ihrer aktuellen CD „One Lifetime“ weit mehr als nur ein kleines Trinkgeld im Becher verdient hätten. Das Ehepaar gehört zu der sehr lebendigen Euro-Americana-Szene in Holland, was vor allem an Bart de Win liegt, der zwar Jazzpiano studiert hat, aber sich im Laufe seiner Karriere immer mehr der amerikanischen Roots-Musik näherte (z. B. durch Tourneen mit Ian Matthews oder Kevin Welch). So entwickelten sich Beziehung zu den texanischen Musikern Walt Wilkins, Ron Flynt und Bill Small, die ihre Beiträge als Audio-Files über den großen Teich schickten und bei mehreren Kompositionen mitwirkten.
Die elf Songs werden eingerahmt von zwei Annäherungen an den New-Orleans-Blues mit Ragtime- und Vaudeville-Feeling. Tip Jar fühlen sich aber auch im Newgrass wohl („Kiss Me“ klingt wie eine Reminiszenz an die McGarrigle Sisters!), zeigen bei „Dreamer’s Dream“ ihre Verbundenheit zum Country-Pop der Everly Brothers und steuern voll Emotionalität in den souligen Gospel-Folk eines Phil Cook („Tell Me Something“). Ganz großes Kino sind die Dreier-Vokal-Harmonien zusammen mit Walt Wilkins oder Harry Hendriks - bei „Fallen Angels“ sind Vergleiche mit David Crosby erlaubt! Der positive Gesamteindruck wird abgerundet durch eine liebevolle CD-Präsentation mit wenig Plastik, dafür allen Lyrics und schönem Layout.
Robert Plant & Alison Krauss: Raise The Roof *****
Warner Music (USA 2021)
Produced by T Bone Burnett
12 Tracks - 53:34 Min.
Es ist tatsächlich schon 14 Jahre her, dass Led-Zeppelin-Veteran Robert Plant und Newgrass-Ikone Alison Krauss, die sich auf einem Leadbelly Tribute-Konzert kennengelernt hatten, mit ihrem ersten gemeinsamen Album „Raising Sands“ für Aufsehen sorgten. Nach langer kooperativer Pause ist auf „Raise The Roof“ wieder T-Bone Burnett als Produzent, Arrangeur und Teilzeit-Gitarrist die dritte Kraft, die diese CD zu einem Hör-Erlebnis der Sonderklasse macht.
Repetition und Redundanz scheint das Prinzip von Burnett zu sein, er erweckt aber auf diese Weise Folk- und Country-Klassiker zu neuem Leben, schafft eine Atmosphäre der Meditation und der magnetischen Attraktion. All dies könnte aber auch zu gähnender Langeweile führen, wenn da nicht die Magie der zwei Stimmen wäre. Krauss und Plant (hier mal in der genderpolitisch richtigen Reihenfolge) halten im Harmonie- und im Solo-Gesang eine unglaubliche Spannung, gleichzeitig schaffen sie eine intensive Verschmelzung von ätherischem Folk-Sopran und blues-rockigem Senioren-Tenor. Die absturzsichere musikalische Basis liefern im Wesentlichen der Schlagzeuger Jay Bellerose, Viktor Krauss (Alisons Bruder) und Dennis Crouch am Kontrabass sowie die semi-elektrische Gitarre von Marc Ribot - nicht zu vergessen Star-Gastspiele von Buddy Miller, Bill Frisell, Russell Pahl, Colin Linden, Stuart Duncan und Lucinda Williams.
Ein weiteres Qualitätsmerkmal des Albums ist die Songauswahl. Neben nur einer Eigenkomposition von Plant und Burnett („High And Lonesome“) haben die Verantwortlichen tief in der Schublade mit dem Etikett Anglo-Americana gestöbert und erstaunliche Song-Perlen zu Tage gebracht. Fast vergessene Klassiker von Anne Briggs, Bobby Moore oder Ola Belle Reed tauchen auf, schottischer Gitarren-Folk von Bert Jansch mischt sich mit dem Tex-Mex-Sound von Calexiko und dem traditionellen Okie-Country von Merle Haggard. Eher erwartbar war ein weiterer Griff ins Songbook der Every Brothers, diesmal ist es „The Price Of Love“ in einer radikal entschleunigten Version. Unbedingter Anspiel-Tipp ist „Going Where The Lonely Go“ als bildreiche Breitwand-Filmmusik mit einer schwebenden Pedal Steel Gitarre. Auf der Deluxe-Edition gibt es noch zwei Bonus-Tracks von Hank Williams („My Heart Would Know“) und Lucinda Williams („You Can’t Rule Me“), die das chronologische und stilistische Spektrum dieser CD weiter abstecken. Für den Sommer 2022 ist eine Tourne geplant: Play it again, Robert & Alison!
Eric Brace & Last Train Home: Everything Will Be ****
Red Beet Records (USA 2022)
Produced by Jared Bartlett & Eric Brace
11 Tracks - 45:42 Min.
Schon mehrfach wurde auf diesen Seiten erwähnt, welche Auswirkungen die Pandemie auf das künstlerische Schaffen hat. Für Eric Brace und seine seit 25 Jahren mit unterschiedlichem Aktivitätslevel existierende Band „Last Train Home“ war das ein trotziges „Why bother?“ und der Rückzug ins Home Office, das bei Musikern Homestudio heißt. Audio Files wurden durch die Weiten des Internets hin und her geschickt und von Produzent Jared Bartlett zu einem stimmigen Endprodukt verarbeitet, das nun im neuen Jahr seinen Weg in die Öffentlichkeit sucht.
Eric Brace hat mit den elf Songs sein stilistisches Spektrum eindrucksvoll ausgemessen und das Netzwerk seiner musikalischen Freunde - mit dem Album #10 - wieder grandios in Szene gesetzt. Neben sieben Eigenkompositionen tauchen bei den Credits auch noch die Namen von Laura Tsaggaris, Thomm Jutz, John Hartford, Johnny Mercer und Gallagher & Lyle auf. Im Kern stehen Last Train Home für bläserunterstützten Folk/Country-Rock, aber auch Abschweifungen in den New Orleans Brass-Sound („If I Had A Nickel“), in den cowboy-seligen Western Swing („I’m An Old Cowhand“) und in ein Retro-Instrumental („East Nashville Highball“) sind erlaubt.
Höhepunkte sind der Titelsong „Everything Will Be“, eine differenzierte Reflexion über Optimismus in schweren Zeiten, und „In The Dark“, ein Song, den Eric Brace eigentlich für Jerry Lawson geschrieben hatte, der aber in der LTH-Version neue Qualitäten offenbart.
Wenn Eric Brace jetzt noch so viele Blockbuster-Erfolgssongs schreibt wie etwa Johnny Mercer für Frank Sinatra oder Graham Lyle für Tina Turner, dann kann er die nächsten Veröffentlichungen seines RedBeetRecords-Labels mit Goldprägung veröffentlichen. Und wenn er irgendwann mal „dead and gone“ ist, singen wir alle zwischen East Nashville und der Welt: „Everything will be okay“!
Mudcrutch: 2 ****
Reprise Records (USA 2016)
Produced by Tom Petty, Mike Campbell & Ryan Ulyate
11 Tracks - 43:02 Min
Wer die Geschichte des 2017 verstorbenen Musikers Tom Petty nachverfolgen will, sollte an einer Band nicht vorübergehen: Mudcrutch wurde 1970 in Florida gegründet, löste sich aber 1975 wegen Erfolglosigkeit wieder auf. Drei Gründungsmitglieder (Tom Petty, Benmont Tench und Mike Campbell) machten aber als Tom Petty & The Heartbreakers weiter, und von da an gings nur noch aufwärts. In dem Song „Ino The Great Wide Open“ erinnerte sich Tom Petty 1991 ein bisschen daran: “The papers said Ed always played from the heart / He got an agent and a roadie named Bart / They made a record and it went in the charts / The sky was the limit”.
Interessanterweise erlebte Tom Petty nostalgische Gefühle und revitalisierte als Side-Project zweimal die Band, was bis heute in zwei CDs nachzuhören ist: Mudcrutch (1) erschien 2008 und Mudcrutch 2 folgte 2016. Zu Petty, Tench & Campbell gesellten sich Tom Leadon, der Bruder von Eagles-Gitarrist Bernie Leadon und der Drummer Randall Marsh. Auch hier war Tom Petty ganz klar der Chef, aber da man ja seine Angestellten bei Laune halten muss, durfte jeder der übrigen vier Bandmitglieder einen eigenen Song einbringen und singen!
Die Musik ist eindeutig Mainstream Rock mit einem gehörigen Retro-Anteil und mit kleineren Country-Ausflügen, für die Herb Pedersen (banjo, voc) und Josh Jove (pedal steel) sorgen. Die besten Songs stammen aber eindeutig von Petty selbst: der dynamische Auftakt „Trailer“, das atmosphärische „Beautiful Blue“, das hymnische „Hungry No More“ und natürlich die akustische Ballade „I Forgive It All“, in der Tom Petty die fragwürdigen Erziehungsmethoden seines Vaters reflektiert.
So gesehen war Mudcrutch nie die Resterampe der Heartbreakers, sondern eine emotional wichtige Parallelwelt für Tom Petty, in der er gerne auch den Bass und die Harmony Vocals übernahm.
Bob Dylan: Rough And Rowdy Ways *****
Columbia Records (USA 2020)
Produced by Bob Dylan and Matt Chamberlain
(nicht eindeutig angegeben!)
10 Tracks auf 2 CDs - 70:33 Min.
In den zehn Geboten des Christen- und Judentums heißt es unter anderem „Du sollst dir kein Gottesbild machen“. Nachdem nun aber Gott definitiv tot ist, darf man diese Regel auch auf andere übertragen: Du sollst dir kein Bild von Bob Dylan machen! Mit seinem beeindruckenden Album „Rough And Rowdy Ways“ unterstützt Herr Zimmermann diese Forderung nachdrücklich. Er möchte nicht in eine Schublade gesteckt werden, er möchte kein falscher Prophet sein, er möchte höchstens als „man of contradictions“ wahrgenommen werden, als vielfältige, manchmal verwirrende Persönlichkeit, die weiß, was sie weiß und was nicht.
Er sieht in sich ein bisschen von der jüdischen Widerständigkeit einer Anne Frank, von der Freude an rotzigem Blues-Rock wie die Rolling Stones, von der Erzählkunst eines William Blake oder eines Edgar Allan Poe und von dem Abenteuergeist eines Indiana Jones - wie immer auch diese Facetten zusammenpassen mögen. Über all diesen Ich-Botschaften steht die Frage, ob sich der Verfasser damit überhaupt selbst darstellen wollte.
Bob Dylan kann sich mittlerweile viel leisten: er kann unter die zehn Songs Gedankengrübeleien zu minimalistischer Musik mischen, er kann plötzlich eine Melodielinie („Lippen schweigen“) aus Lehars Operette „Die lustige Witwe“ in den Slow Waltz „I’ve Made Up My Mind To Give Myself To You“ verpacken und den Titel so dahinnuscheln als wäre er mit Hans Moser in einem Wiener Heurigenlokal gestrandet. Er kann Touristenwerbung für Key West/Florida machen, und er kann mit einem 17minütigen Song ein Stück amerikanische Kulturgeschichte schreiben, ausgehend von dem Sündenfall des Jahres 1963, dem Mord an Präsident Kennedy. „Murder Most Foul“ kombiniert die poetischen Ambitionen eines Billy Joel („We Didn‘t Start The Fire“), eines Don McLean („American Pie“) und eines Don Henley („Hotel California“) zu einer Rumination über zwei Akkorde, die von Klavier und Streichern als Hintergrund bereitgestellt werden. Vielleicht ist es auch ein Angebot des Nobelpreisträgers, der sich immer noch dem Paarreim verpflichtet fühlt, für die nächste Inauguration eines amerikanischen Präsidenten - als Alternative zur political correctness jener Amanda Gorman? Der Song wird nach den zeitgeschichtlichen Skizzen zunehmend zu einer epischen Americana-Playlist des 20. Jahrhunderts für den legendären Disc Jockey Wolfman Jack, sie endet mit der Empfehlung „Play Murder Most Foul“.
Musikalisch schwebt Bob Dylan zwischen trockenem Retro-Blues-Rock, der nur noch auf ein paar lakonische Riffs von Keith Richards wartet, den leicht psychedelischen Harmonien und den rauchigen Vocals eines Tom Waits und einem meditativ in Moll-Tonlagen mäandernden Ambience-Sound, wie es auch schon der alternde Bruce Springsteen in einigen Songs vorgeführt hat. Möglicherweise stimmt es, dass „Rough And Rowdy Ways“ sein 39. Studioalbum ist. Möglicherweise trifft es zu, dass es eine seiner persönlichsten Veröffentlichungen ist. Sicher aber ist, dass man dieses Album zu den Top Five im Dylan-Werkkatalog zählen muss.
PS: Da die CD leider keine Lyrics enthält, folgt hier ein Verweis, dem man folgen sollte:
https://faroutmagazine.co.uk/bob-dylan-album-rough-and-rowdy-ways-full-lyrics/
Allan Thomas: The Journey ****
Black Bamboo Recordings (USA 2021)
Produced by Allan Thomas & Bryan Kessler
12 Tracks - 52:17 Min.
Der Titelsong berichtet von einer Reise: „I’d like to get back in time in my life“. Die musikalische Reise reicht zurück ins Alter von acht Jahren, als der kleine Allan in Brooklyn, New York, im Autoradio seines Vaters „You Send Me“ von Sam Cooke hörte und spontan mitsang. Vor genau fünfzig Jahren erschien dann sein erstes Album auf Sire Records mit dem Titel „A Picture“. Mittlerweile lebt Thomas auf Hawaii und hat während der Pandemie sein siebtes Album fertiggestellt, das in einem Wechsel aus Studio-Sessions und Surf- bzw. Windsurf-Ausflügen entstanden ist. Das klingt doch nach maximal relaxter Atmosphäre.
Wer wissen will, wo man Allan Thomas musikalisch verorten kann, sollte gleich den zweiten Titel („Van“) anhören. Dort preist er die Annehmlichkeiten seines Wohnmobils: „have plenty of time to daydream / AirPods and some Steely Dan“. Da ist er zu Hause, bei leicht jazzig angehauchtem entspanntem Rock, wie ihn eben auch Donald Fagen oder David Crosby heute noch praktizieren. Die Stimme erinnert in den Höhen ein bisschen an Timothy B. Schmit oder an Graham Nash, mit letzterem hat er im Lauf seiner Karriere mehrmals zusammengearbeitet. Alle zwölf Songs sind Eigenkompositionen, bei den meisten hat sein langjähriger Freund Bryan Kessler mitgewirkt und auch ein bisschen Gitarre beigesteuert.
Im Grunde genommen handelt es sich um astreinen Westcoast Sound der 70er Jahre mit punktuellen Anleihen bei Reggae, Soul-Pop und Jazz-Rock. Dafür stehen auch die Studiomusiker Michael Landau, Dean Parks, Michael Ruff und James Raymond, die bei der Aufnahme mitgewirkt haben. Als Besonderheit bietet das Album ein Instrumental („It Goes Without Saying“) und drei Titel mit Sprechgesang, quasi Poesie mit Hintergrundmusik. Der Abschluss könnte eine Selbstcharakteristik sein, denn es heißt bei „The Invisible Man“: "He’s someone who’s still present but rarely seen / Flyin under the radar of erveryones screen“. Es würde sich aber durchaus lohnen, ein verstärktes Augenmerk auf Allan Thomas zu richten!
The Doobie Brothers: Liberté ***
Island Records (USA 2021)
Produced by John Shanks
12 Tracks - 42:53 Min.
Es gab einmal eine legendäre Location namens Chateau Liberté in den kalifornischen Santa Cruz Mountains, ein angesagter Biker-Treff, in dem die Band The Doobie Brothers ab 1970 eine Zeitlang regelmäßig auftrat. Der Kern dieser Band ist über 50 Jahre trotz vieler Ups and Downs, trotz partieller Sendepause und sinkender Erfolgskurve gleichgeblieben: es sind die beiden Sänger, Songschreiber und Gitarristen Tom Johnston und Patrick Simmons. Dass sie nun mit „Liberté“ ihr 15. Studio-Album - erstmals nach elf Jahren wieder mit neuen Kompositionen - vorgelegt haben, ist ohne Zweifel ein Ereignis, allerdings eines mit gemischten Gefühlen.
Die Band hat immer noch unkaputtbare Classic-Rock-Hymnen auf ihrem Zettel: „Listen To The Music“, „Long Train Running“, „Jesus Is Just Alright“ oder „China Grove“. Und auch der von Michael McDonald ab 1978 herbeigeführte Stilwechsel in die Bereiche des Soul-Pop-Jazz brachte mit „What A Fool Believes“ und „Takin‘ It To The Streets“ noch andauernde Radio-Präsenz.
Nun aber legen die verbliebenen Brüder Johnston & Simmons zusammen mit John McFee entschieden den Rückwärtsgang in die frühen 70er Jahre ein. Dazu haben sie sich mit John Shanks einen Produzenten/Gitarristen/Songwriter engagiert, der nach seinen Arbeiten für Bon Jovi, Van Halen, Santana, Fleetwood Mac oder Joe Cocker weiß, wie ein amerikanisches Mainstream-Rock-Album klingen muss. Die zwölf Songs (vier davon waren schon im Vorfeld als EP erschienen) sind gnadenlos auf Kommerzialität und Radiotauglichkeit gestrickt, was auch die weitere Mitwirkung von Michael McDonald und Keyboarder Bill Payne (er ist reumütig zu Little Feat zurückgekehrt) überflüssig machte.
Manchmal klingen die Doobies wie eine Kopie von Blackberry Smoke („Don’t Ya Mess With Me“ oder „The American Dream“), teilweise packen sie wieder ihren alten Signature-Sound aus („Easy“, „Just Can’t Do This Alone“). Bei „Shine Your Light“ taucht eine Vers-Kopie des Curtis-Mayfield-Klassikers „People Get Ready“ auf, und über einige Kompositionen von Patrick Simmons decken wir mal den gnädigen Mantel des Schweigens.
Dennoch eignet sich die CD wunderbar für eine nächtliche Fahrt auf der Autobahn oder für eine Party von Ü-70-Motorradfahrern - ein paar legalisierte Doobies eingeschlossen. Und im Sinne der Französischen Revolution müssten die beiden nächsten Alben eigentlich „Equality“ und „Fraternity“ (oder Doobie-Brotherhood) heißen!
Rodney Crowell: Triage ****
RC1 Records / Thirty Tigers (USA 2021)
Produced by Dan Knobler & Rodney Crowell
10 Tracks - 43:05 Min.
Wenn jemand im Alter von 71 Jahren sein 18. Solo-Album vorlegt, dann muss man unwillkürlich die Frage stellen: Hat er noch was zu sagen / zu erzählen? Wie steht es um seine musikalische Kreativität? Im Falle von Rodney Crowell und der CD „Triage“ fällt die Antwort in beiden Fällen positiv aus!
Wie eine Mischung aus Heino und Graham Nash schaut der grauhaarige Rodney etwas griesgrämig auf dem Schwarz-Weiß-Cover - und tatsächlich: die Songs sind geprägt von Gedanken der Endlichkeit, von Weltschmerz und Melancholie und von einer gewissen religiösen Spiritualität. Crowells Debütalbum (1978) trug den Titel „Ain’t Living Long Like This“; damals bezog sich die Zeile noch auf den Rock&Roll-Lifestyle, jetzt ist es eine Altersweisheit angesichts eigener gesundheitlicher Probleme und der weltweiten Pandemie.
Die verhalten begonnene, jedoch schwungvoll endende Auftakt-Nummer „Don’t Leave Me Now“ ist eine zähneknirschende Bitte um Vergebung mancher Fehler und eine hartnäckige Botschaft des ungebrochenen Lebenswillens. Und mit „Triage“, dem Titelsong, versucht Crowell eine Definition - oder im Wortsinn eine Sichtung - des Begriffs „Liebe“ als Basis jeder Existenz. Doch wenig später bricht die Ironie wieder durch: „I’m All About Love“, ein groovender Blues-Rocker mit lakonischem Solo von Joe Robinson, entfaltet ein breites Arsenal von Liebesobjekten - von Wladimir Putin über Greta Thunberg bis zum Evangelisten Lukas!
Ein Höhepunkt des Albums ist der dylaneske poetische Blues über das weltweite menschliche Vergessen angesichts des blinden Tanzes auf dem Vulkan der Wachstums-Ideologie („Transient Global Amnesia Blues“). Etwas später die folgerichtige Forderung „Something Has To Change“ mit einem bemerkenswert verrauchten Trombone-Solo von Raymond Martin. Vorsichtig und teilweise verunsichert geht es dann mit „Hymn 43“ in die Kirche und zu einem akustisch intonierten Modern Gospel über das Leben und die Freiheit. Die Songfolge endet mit einer Betrachtung darüber, dass unser Körper nur eine flüchtige Erscheinung in dieser Welt ist: „This body isn’t all there is to who I am“.
Musikalisch erklingt alles auf durchgehend hohem Niveau, irgendwo zwischen Tom Petty und Jason Isbell, zwischen Folk-Blues und texanischem Country-Rock, immer schön geerdet und harmonisch nachvollziehbar. An dieser neuen Nachdenklichkeit hätten auch Bob Dylan oder Kris Kristofferson ihre Freude! Schade nur, dass die Songtexte der CD nicht beigelegt sind.
Donald Fagen:
Donald Fagen’s The Nightfly Live ****
Universal Records (USA 2021)
Produced by Patrick Dillert & Donald Fagen
8 Tracks - 38:33 Min.
Steely Dan:
Northeast Corridor Live ****
Universal Records (USA 2021)
Produced by Patrick Dillert & Donald Fagen
12 Tracks - 62:15 Min.
Steely Dan, das heißt das Komponisten-Duo Walter Becker und Donald Fagen, waren Menschenfänger: zuerst köderten sie uns mit locker-flockigen Pop-Rock-Songs wie Do It Again, Rikki Don’t Lose That Number oder Reelin‘ In The Years. Dann aber zog es sie als Menschen-Forderer immer mehr zum anspruchsvollen Jazz-Rock hin, die Harmoniefolgen wurden komplizierter, die Arrangement aufwändiger. Das tat der Qualität keinen Abbruch, doch der Eintritt in die Hitparaden und in die Playlists der Radiostationen wurde schwieriger. Zudem verweigerten sich Becker & Fagen zunehmend dem anstrengenden Live-Circuit und verschanzten sich lieber als Sound-Perfektionisten im Studio. Ein ähnliches Schicksal hätte beinahe die Doobie Brothers unter Michael McDonald ereilt, und auch Toto hätte diesen Weg beschreiten können. Nach dem Tod von Walter Becker im Jahre 2017 wäre man eigentlich ein Ende der Band zu erwarten gewesen, doch Donald Fagen meinte „the games must go on“ und tourte mit einer 14köpfigen Edel-Band durch die USA und durch das UK. Das Ergebnis dieser Live-Auftritte ist nun auf zwei CDs nachzuhören. Für „Northeast Corridor“ wurde vor allem der Steely Dan-Katalog der Jahre 1972 - 1980 ausgewertet, dazu spielte Fagen seine legendäre Solo-CD „The Nightfly“ (1982) noch einmal live ein.
Die Aufnahmen stammen alle aus der Vor-Corona-Zeit, von einer Tour im Jahre 2019, ausgewählt wurden Takes von den Konzerten im Beacon Theatre, New York, im Orpheum Theatre, Boston, in der Mohegan Sun Arena, Uncasville, CT und und in The Met, Philadelphia. Die Besetzung ist auf beiden CDs identisch: neben Donald Fagen spielen Keith Carlock (dr), Freddie Washington (b), Jon Herington (g), Connor Kennedy (g), Jim Beard (keyb), die Bläser Michael Leonhart, Jim Pugh, Walt Weiskopf und Roger Rosenberg sowie die Background-Vokalistinnen Carolyn Leonhart, Catherine Russell, La Tanya Hall und Jamie Leonhart.
Wie nicht anders zu erwarten war, erreichen die Aufnahmen Studio-Qualität, sind durch kleinere Solo-Ausflüge etwas ausgedehnt und durch Zwischen-Beifall strukturiert. Die Arrangements sind nur in homöopathischen Dosierungen verändert und so stellt sich unweigerlich die Frage, ob man nicht mit den nach wie vor lieferbaren Originalen genauso gut - oder gar besser - bedient ist.
George Enslé: Head-On ****
Produced by George Enslé
Line / Sawdust Records (D 1987)
8 Tracks / 42:11 Min.
Genau gesagt sind zwischen diesen beiden Alben 43 Jahre vergangen, denn die Debüt-LP von George Enslé wurde in den Hound Sound Studios (Besitzer: Willis Alan Ramsey) von Austin, Texas im Jahre 1978 fertiggestellt und 1980 auf Gazebo Records veröffentlicht. 1987 machte dann der leider schon verstorbene deutsche Texas-Emigrant Heinz Geissler die Firma Line Records auf den vielversprechenden Songwriter aufmerksam, und so kam es zum deutschen Release der Vinyl-LP auf dem Sublabel Sawdust Records. 14 Alben liegen mittlerweile zwischen diesen beiden Produkten, George Enslé hat vor kurzem seinen 73. Geburtstag gefeiert und mit einer Textpassage aus dem Titelsong ein vorläufiges Fazit gezogen: „I’m gonna look to the future / And honor the past /While celebrating every day / Being the change I wanna see / Being a better me”
George Enslé: Be A Better Me ****
Produced by Stephen Doster
PuffBunny Records (USA 2021)
11 Tracks / 39:42 Min.
Die personelle Brücke bildet ein gewisser Stephen Doster: Auf „Head-On“ spielte er akustische Gitarre, bei „Be A Better Me“ fungiert er als Produzent und steuert einige Gitarrensounds bei. Der Verfasser dieser Zeilen muss zugeben, dass er zwar die beiden abgebildeten Alben im Regal stehen, die musikalische Entwicklung des George Enslé aber zwischenzeitlich ein bisschen aus den Augen verloren hat.
Umso schöner die Erkenntnis, dass das Haar zwar kürzer und grauer geworden ist, dass aus dem Cadillac ein Pianostuhl geworden ist, dass aber die Gitarre immer in Reichweite geblieben ist und der Sound von George Enslé weiterhin in der Tradition des texanischen Country Folk verwurzelt ist, angelehnt an die großen Namen wie Townes van Zandt, Guy Clark, David Olney oder Rodney Crowell. Auch die Freude am beruhigenden Angelsport ist gleichgeblieben: „Fishing Lines“ damals - „Gone Fishin‘“ heute!
Die Head-On-LP ist natürlich nur noch antiquarisch auffindbar (für Sammler: SDLP 4.00420 J), für „Be A Better Me“ steht aber die ambitionierte Plattenfirma PuffBunny Records aus Fredericksburg, Texas, wo die Folk-Legende Taylor Pie das Artists & Repertoire Management betreut.
„Be A Better Me“ ist ein unaufgeregtes Alterswerk, mit kleinen Beobachtungen des Alltags, mit Erinnerungen an frühere Jahre und mit einem leicht religiösen Grundton. Die Songs sind erkennbar entweder am Piano oder mit der Gitarre komponiert, dazu kommt noch der Bass von Terry Hale, Dobro und Akkordeon von Greg Lowry, die ergänzenden Gitarren von Greg Whitfield und Stephen Doster und dezente Streicherpassagen. Kein Schlagzeug, nur akustische Instrumente, keine Studio-Effekte!
Für Enslé sind seine Songs „love letters to the world … written with the language of the heart“. Darin kann der Bettler an der Straßenecke genauso auftauchen wie der Kriegsveteran in einer High-School. Gerne arbeitet Enslé mit dem Symbol des Lichts, sei es die Beleuchtung auf der Veranda des elterlichen Hauses („Front Porch Light“) oder das Licht, das einem aus einem Auge anstrahlen kann („The Deep Wells Of Her Eyes“). Dem legendären texanischen Songwriter Blaze Foley (gestorben schon 1989) ist der Song „Blue Love“ gewidmet, von seinem Vater hat George Enslé das Schild übernommen, das man an schönen Tagen vor die Haustüre hängen sollte: „Gone Fishin‘“. Am Schluss gehen dann alle in die Kirche und stimmen den Gospel an („Down By The Riverside“) - oder wie es George Enslé erklären würde: Lieber Worte statt Waffen gebrauchen!
The Matthews Baartmans Conspiracy: Distant Chatter ****
Produced by Iain Matthews & B. J. Baartmans
Talking Elephants Records (UK 2021) / MIG Music (D 2021)
10 Tracks - 47:06 Min.
Iain Matthews feierte heuer seinen 75. Geburtstag, ist seit gut 55 Jahren im Musik-Business unterwegs, hat seinen Wohnsitz abwechselnd in England, USA und in den Niederlanden gefunden, hat schon verschiedenen Male seinen Rückzug verkündet und kann es trotzdem nicht lassen. Die Zählung seiner Solo-, Duo- oder Band-Alben (Fairport Convention, Plainsong und Matthews Southern Comfort) darf man eingefleischten Statistikern überlassen, die Zählung seiner Eigenkompositionen dürfte den hohen dreistelligen Bereich erreicht haben. Wieviel er mit der Cover-Version von Joni Mitchells „Woodstock“ verdient hat, wissen wir nicht, für Essen, Trinken und ein paar wertvolle akustische Gitarren dürfte es aber auf jeden Fall gereicht haben. Den Holländer BJ Baartmans kennt er schon seit 18 Jahren, dieser war Mitglied der reformierten MSC als Netherlands-Edition, außerdem hat er ein gut ausgestattetes Studio und kann als multiinstrumentalistischer Partner auf verschiedenen Ebenen glänzen.
Die Pandemie und der damit verbundene Lockdown war für die beiden das Startsignal zu einer intensivierten musikalischen Verschwörung, die nun in dem Album „Distant Chatter“ ihren gut hörbaren Ausdruck gefunden hat. Von Iain Matthews stammt dazu der thematisch passende Song „14 months“, in dem er all seine Frustration über diese Zeit heraussingt („Call it lockdown, rage or rant … Me I call it hell on earth“), aber auch einer neuen Hoffnung Raum gibt (“It’s been 14 months but I see the light“).
Insgesamt startet “Distant Chatter” mit einer herbstlich-melancholischen und leicht resignativen Stimmung („Sleepwalking“), die sich durch das ganze Album zieht. Matthews beobachtet aus der Sicht des älteren (weißen) Mannes eine Welt, in der Hass und Angst Überhand nehmen („All That Glitters“) und in der manchmal Sinn machen würde, einfach zu verschwinden („I’ve Gone Missing“). Dass man ein höchst aktuelles Problem in einen lockeren Folk-Pop-Song verpacken kann, beweisen Matthews und Baartmans mit „Are You A Racist“, wo die verschiedenen Erscheinungsformen abgefragt werden und die Gegenfrage gestellt wird: „What makes you think that you’re the chosen one“.
Die musikalische Qualität von „Distant Chatter“ ist dank eines geschmackvollen Arrangements sehr hoch, die stimmliche Form von Iain Matthews ist ungebrochen und kann in einer Liga mit Todd Thibaud oder Graham Nash eingeordnet werden. Aus diesem Grund müssen wir die abschließende Frage von Iain Matthews „War‘s das?“ - oder auf Englisch „Is This It?“ - mit einem klaren Nein beantworten. Es würde sich weiter lohnen, in dieser Zusammensetzung den Blues wegzuschreiben!
The Immediate Family: The Immediate Family ****
Produced by The Immediate Family
Quarto Valley Records (USA 2021)
14 Tracks - 53:06 Min.
Was haben Jackson Browne, James Taylor, Don Henley, Rod Stewart, Phil Collins, Keith Richards, Crosby, Stills, Nash & Young, Linda Ronstadt und Carole King gemeinsam? Auf den ersten Blick ganz einfach: sie sind (oder waren) höchst erfolgreiche Musiker, Songwriter und Sänger. Aber noch etwas trifft zu: sie haben immer wieder mit einer Gruppe von herausragenden Studiomusikern aus Südkalifornien (auch bei Live-Konzerten) zusammengearbeitet, nämlich mit Danny Kortchmar (voc, g), Waddy Wachtel (voc, g), Leland Sklar (b) und Russ Kunkel (dr). Diese vier, deren Namen man unzählige Male in den Credits lesen konnte, sind nun für ein eigenes Bandprojekt aus der zweiten Reihe vorgetreten und präsentieren eine Supergroup, etwa im Stil der legendären Blind Faith.
Weil man gewisse Anlässe im engsten Familienkreis begehen sollte (zum Beispiel 50jähriges Jubiläum von James Taylors Mega-Hit „You’ve Got A Friend“), nennen sie sich treffend „The Immediate Family“, haben den ebenfalls nicht ganz unbekannten Steve Postell als Spezialisten für höhere Stimmlagen in das A-Team einbezogen, sind eine Zeitlang zwischen 2018 und 2019 in Japan getourt und testen nun nach zwei 5-Track-EPs („Slippin‘ And Slidin‘“ und „Can’t Stop Progress“) mit einer vollständigen CD ihre Marktchancen am Ende von Corona. Schon in den 70er Jahren haben drei von ihnen unter dem unscheinbaren Namen „The Section“ das gemacht, was sie am besten können: Instrumentalmusik für Fans und Kenner.
Nun aber wollen sie richtige Songs präsentieren, eigene und solche von alten Freunden, denen sie schon bei der Original-Aufnahme geholfen haben. So findet man auf dem Album den melodiösen Soundtrack „Somebody‘s Baby“ von Jackson Browne als lässige Live-Darbietung sowie die dynamisch rockenden Songs „Things To Do In Denver When You’re Dead“ und „Johnny Strikes Up The Band“ von Warren Zevon. Auch die eigenen Titel dieser abgebrühten Ü-70-Combo - zum Beispiel das hitverdächtige „Slippin‘ And Slidin‘“ - machen Lust auf mehr, zum Beispiel auf eine Europa-Tournee - vielleicht im nächsten Jahr und dann vor großer Öffentlichkeit. 250 Jahre Erfahrung im Studio und on the road können sich nicht irren!
Tim Grimm: Gone ****
Produced by Tim Grimm
Cavalier Recordings (USA 2021)
9 Tracks - 40:34 Min.
Was ist der Unterschied zwischen einem Leben in der Filmindustrie von Hollywood und einem Leben auf einem Bauernhof im südlichen Indiana? Wer darauf eine Antwort hören will, sollte Tim Grimm fragen, denn er hat beide Orte intensiv erlebt. Derzeit hat sich der Schwerpunkt nach Indiana verlagert, was auch zur Folge hat, dass er seine zweite künstlerische Leidenschaft als Sänger und Songwriter (die andere ist die Schauspielerei) intensiver pflegt und vor kurzem ein neues Album herausgebracht hat. Das hat sich definitiv gelohnt, denn „Gone“ ist ein reifes Meisterwerk im weiten Feld der anspruchsvollen Country/Folk-Music, geprägt von eindrucksvollen Kompositionen, nachdenklichen Texten und natürlich von Tim Grimms intensiver Stimme.
Die acht neuen Songs (Nr. 9 ist eine entschlackte Reprise von „A Dream“) wurden in Bloomington (Indiana) aufgenommen, das musikalische Personal ist im Wesentlichen die Familie von Tim Grimm, das heißt: seine Frau Jan Lucas-Grimm (Gesang und Harmonika) und seine Söhne Connor (am Bass) und Jackson (an Gitarre und Mandoline). Das Ergebnis ist deutlich mehr als nur ein bisschen Hausmusik, es ist akustisch dominierter und weitgehend Schlagzeug-freier Country/Folk, der sich zurecht an großen Namen wie John Prine, Eric Taylor, Michael Smith oder David Olney orientieren kann.
Diesen vier Vorbildern, die alle während der Corona-Pandemie verstorben sind, zollt Tim Grimm auch seine Hochachtung. Er covert einen Song von Eric Taylor („Joseph Cross“) und hat dessen Frau Susan Lindfors Taylor als Vokalistin eingeladen. Über Smith, Taylor und Olney hat er den Song „Dreaming Of King Lear“ geschrieben, wo er das Trio folgendermaßen charakterisiert: „Each of you were jesters, but none of you were fools … all of you were preachers and prophets without fear …”. Der Titelsong „Gone” ist schließlich eine melancholische Gegenwarts-Betrachtung mit einer Aufzählung, was so alles leider verschwunden ist. Dazu gehören auch John Prine und seine allerdings unvergessenen Songs (wie „Paradise”, „Angel From Montgomery“ oder „It’s A Big Old Goofy World”): „and there is hope in knowing some people know the words”.
Tim Grimm kann aber auch einen flockigen Country-Rocker abliefern (“Cadillac Hearse“) oder einen romantischen Lovesong authentisch interpretieren („Carry Us Away”). Welche Bedeutung Bücher und Bäume in den Zeiten des Lockdowns haben, erfährt man in dem Song „25 Trees“. Zu dieser Leseempfehlung kommt hier ein klarer Hör-Tipp: Tim Grimm - eine Stimme, die du nicht mehr so schnell vergisst.
Richie Furay: 50th Anniversary Return To The Troubadour *****
(Still Deliverin’ / Deliverin’ Again)
Produced by David Stone & Denny Klein
DSDK Productions (USA 2021)
Disc 1: 10 Tracks - 55: 38 Min.
Disc 2: 13 Tracks - 48:55 Min.
1968 - 1971 - 2018 - 2021: das ist die Zeitleiste, die hinter diesem Projekt steht. Im November 1968 debütierte die aufregende neue Band Poco im Troubadour (L.A.) in der Besetzung Richie Furay (g, voc), Jim Messina (g), - beide spielten vorher in der legendären Band „Buffalo Springfield“ - Randy Meisner (b, voc), Rusty Young (pedal steel) und George Grantham (dr, voc) - viele sehen darin die Geburtsstunde einer neuen musikalischen Fusion: Country & Rock. Nach zwei Studioalben erschien 1971 unter dem Titel „Deliverin‘“ die erste Live-LP von Poco, Konzerte in der Boston Music Hall und im New York Felt Forum wurden als Audio-Material benutzt. Randy Meisner war inzwischen durch Timothy B. Schmit (b, voc) ersetzt worden.
2018 stellte sich Richie Furay wieder auf die Bühne des Troubadours, diesmal mit seiner Richie Furay Band, in der auch Tochter Jesse Furay Lynch eine gewichtige Rolle spielt. Der erste Set war ein Überblick über Furays musikalisches Spektrum von Buffalo Springfield über Poco bis heute, nach der Pause folgte ein vollständiges Replay der Deliverin‘-Live-LP samt einer Zugabe mit dem Poco-Klassiker „A Good Feelin‘ To Know“. Für den Song „Hear That Music“ kam auch Timothy B. Schmit auf die Bühne, brachte sicherheitshalber ein Textblatt ein und bewies, dass seine Stimme unter dem Eagles-Stress überhaupt nicht gelitten hat. Von dem denkwürdigen und mit viel Nostalgie aufgeladenen Abend gibt es eine Doppel-CD und eine DVD, die allerdings erst 2021 auf den Markt kamen. Beide beweisen die Zeitlosigkeit der Songs, die auch ein etwas moderneres Arrangement vertragen. Beeindruckend ist auch die stimmliche Präsenz des musikalischen Direktors Richie Furay, der als Rock-Musiker, als Pionier des Country Rock, als Teil der etwas zu viel gehypten Supergroup Souther-Hillman-Furay-Band und als christlicher Prediger seinen Weg gemacht hat.
Die Liner Notes auf der LP von 1971, verfasst von dem Radio-Moderator Peter Fornatale können ohne Problem weitergeschrieben werden: „Poco music is happy music. It’s people music. It’s toe-tapping, foot-stomping, knee-slapping, blood-pumping, wide-grinning, shit-kicking, down-home rock and roll music. And it’s some of the finest music being made anywhere by anybody in these troubled times.” Kurz nach dem Erscheinen dieser Doppel-CD verstarben die Poco-Veteranen Rusty Young und Paul Cotton: „anyway bye bye!
Improved Sound Limited: Improved Sound Limited ****
Longhair LHC 00007 (D 2001)
Original Doppel-LP (D 1971)
Produced by Improved Sound Limited
18 Tracks - 71:21 Min.
Mit einem „Wumms” (Olaf Scholz) hat sich die Nürnberger Band Improved Sound Limited vor genau 50 Jahren auf dem Plattenmarkt angemeldet. Nach ersten Erfahrungen als Schülerband, als Backing-Band von Roy Black, als Beste Beat Band Bayerns bei einem Wettbewerb des Bayerischen Rundfunks, nach zwei Singles für Polydor und nach der Produktion der Filmmusik zu Michael Verhoevens Film „Engelchen macht weiter, hoppe hoppe Reiter“ wagten sie sich 1971 mit einer Doppel-LP auf dem renommierten Liberty/United Artists-Label, die 18 Eigenkompositionen des Brüderpaares Axel und Bernd Linstädt (letzterer für die englischsprachigen Texte verantwortlich) enthielt, an die Öffentlichkeit.
Die Reaktionen waren durchwegs positiv. In den Feuilletons der überregionalen Presse konnte man von „angelsächsischer Klasse“ oder von der „besten deutschen Rock-Produktion seit der Beatles-Live-LP mit Tony Sheridan“ lesen. Franz Schöler listete 1975 die Doppel-LP sogar in seiner „Diskografie der epochemachenden Rock-Platten 1954 - 1974“. Im Gegensatz zum sogenannten Krautrock konzentrierten sich Improved Sound Limited auf überschaubare, eher konventionell gestrickte Songstrukturen, im Gegensatz zum Deutschrock, den ihre Nürnberger Lokal-Konkurrenten „Ihre Kinder“ initiierten, blieben sie bei der englischen Sprache, allerdings mit manchmal sehr verkopften Texten, die auch aus einem Anglistik-Hauptseminar stammen könnten. Musikalisch orientierten sie sich an den späten Beatles, an Folk-Rock-Elementen, die man bei Jethro Tull oder sogar bei Led Zeppelin auffinden konnte und bei US-Bands wie The Byrds oder Lovin‘ Spoonful.
Die 18 Songs zeigen durchwegs kompositorische Klasse und ausgefeilte Arrangements weit über dem Level des Drei-Akkorde-Rocks mancher Zeitgenossen. Die Band wagt sich auf dem Album auch an witzige Songs-Miniaturen („Drunken Mr. Hyde“) und an ausschweifende Instrumental-Experimente (so das über 17 Minuten lange „A Soldier’s Songbook“). Das Thema Liebe wird nur dreimal angesprochen, wobei „I Am The Wolf“ gar nicht sehr idyllisch die Gewaltphantasien eines enttäuschten Liebhabers beschreibt: „I am the wolf in the chicken coop baby / Blood will be splattering all around“. Gleich beim ersten Song („Dr. Bob Dylan“) wird die Ambivalenz der Protestbewegung in den späten 60er Jahren am Beispiel der merkwürdigen Wandlungen des Herrn Zimmermann angesprochen, die Fragwürdigkeit militärischen Denkens wird pointiert in zwei Liedern verdeutlicht und selbst die verdruckste deutsche NS-Vergangenheitsbewältigung kann man in einen Pop-Song mit dreieinhalb Minuten packen („A Well Respected Man“). So ist das Doppelalbum ein Sammelbecken von „Reflexionen fünf junger Leute, die sich mit ihrer Umwelt und Situation kritisch befassen“ - wie damals der Kritiker der Nürnberger Nachrichten etwas altväterlich schrieb.
Wenn die Mannen von Improved Sound Limited nicht nach wenigen Jahren die Karriere-Ambitionen an den Nagel gehängt hätten, wären sie vielleicht zur deutschen Antwort auf Supertramp geworden!
Die Vinyl-Doppel-LP ist mittlerweile ein gefragtes Sammlerstück, die 2001 von Longhairmusic nachproduzierte CD ist nur noch antiquarisch zu haben. Wer Improved Sound Limited heute vollständig anhören will, muss den Geldbeutel weit aufmachen und die Ultimate-Collection mit 6 CDs kaufen.
Sarah Jarosz: World On The Ground *****
Rounder Records (USA 2020)
Produced by John Leventhal
10 Tracks - 35:31 Min.
Wimberley, ein kleines Städtchen mit rund 2600 Einwohnern, liegt etwa 60 Kilometer südwestlich von der Musik-Metropole Austin, Texas und kann immerhin drei (ehemalige) locals benennen, die in der Musik-Szene eine gewisse Berühmtheit haben: Ray Willie Hubbard, Kevin Welch und Sarah Jarosz. Letztere hat sich mittlerweile vor ihrem 30. Geburtstag nach New York abgesetzt und dort zusammen mit John Leventhal, der locker ihr Vater sein könnte, ihr fünftes Album fertiggestellt: „World On The Ground“ ist über weite Strecken ein Rückblick auf die Jahre der Jugend in Wimberley, dargestellt weniger im Ich-Modus sondern eher in anderen Charakteren, die ihr wohl seinerzeit über den Weg gelaufen sind.
Das ganze Album ist geprägt vom Motiv der small town und jener Ambivalenz aus vertrauter Heimat und Fluchtwünschen. In dem Song „Pay It No Mind“ wird diese Situation durch einen kleinen Vogel symbolisiert, der am Fenster im 7.Stock eines Hauses sitzt und titelgerecht singt: „When the world on the ground / Is gonna swallow you down / Sometimes you’ve got to pay it no mind”. Eine weibliche Person namens “Maggie”, der irgendwie die Decke auf den Kopf fällt und die genug hat von der engen Welt aus highschool, football und „processed food“, schnappt sich ein Auto und macht sich auf den Weg: „Drive across the desert in a blue Ford Escape / Hopefully this car will live up to its name“. Ein Mann namens „Johnny“ wundert sich, dass er die ganze Welt durchflogen hat und nun wieder bei einem Glas Wein in dem „same damn ground“ sitzt, wo er einst begonnen hat (dieser Song ist übrigens mein Anspieltipp No. 1!). Ganz in der Tradition von Bruce Springsteens „My Hometown“ hat Sarah Jarosz auch noch einen Song mit dem Titel „Hometown“ im Gepäck, der das Spannungsverhältnis zwischen einem hölzernen Schaukelstuhl und dem Leben on the road thematisiert.
Sarah Jarosz hat drei Pfunde, mit denen sie wuchern kann: zum einen ihre markante, aber nie manierierte Stimme, die zwischen Folk-Purismus und Pop-Intonation (oder zwischen Gillian Welch und Sheryl Crow) angesiedelt ist, zum anderen ihre instrumentellen Fähigkeiten an Gitarre, Banjo und Mandoline, die sie auch als One-Woman-Band bei dem Traditional „Little Satchel“ unter Beweis stellt, und schließlich ihr höchst originelles Songwriting mit ausgefeilten Harmoniefolgen und subtilen Texten.
Was hat schließlich ihr aktuelles Album mit Shawn Colvins „Steady on“ (1989) und Rosanne Cashs „The River & The Thread” (2015) gemeinsam? Bei allen drei CDs arbeitete eine (Ehe-)Frau mit John Leventhal als Produzent, Arrangeur und Studio-Musiker zusammen - dreimal war das Ergebnis als Mischung aus Modern Folk und anspruchsvollem Pop herausragend und preiswürdig: „World On The Ground“ wurde vor kurzem mit einem Grammy für das beste Americana Album 2021 ausgezeichnet!
Jesse Brewster: The Lonely Pines ****
Crooked Prairie Records (USA 2021)
Produced by Jesse Brewster & Gawain Mathews
10 Tracks - 35:01 Min.
Schon seit etwa zwanzig Jahren ist Jesse Brewster im Musik-Business, die soeben erschienene CD „The Lonely“ Pines“ ist schon seine fünfte Solo-Produktion (er startete 2005 mit „Confessional“). Doch der Bekanntheitsgrad in Europa dürfte sich noch in Grenzen halten; das soll sich jetzt - mit Hilfe seines schwedischen Publicity Managers - ändern.
Jesse Brewster lebt in der San Francisco Bay Area, hat schon ein paar private Schicksalsschläge hinter sich und präsentiert genau jene Singer/Songwriter-Musik, die man aus dieser Gegend erwartet: eingängigen Westcoast-Sound irgendwo zwischen Folk-Pop und Country-Rock, hörfreundlich und definitiv radiotauglich! Schon der Auftaktsong „Let‘s Run Away“, ein Plädoyer für die kleinen Fluchten aus dem Alltag („No good cause to wait another day / So let’s run away“), beißt sich im Ohr fest und macht Lust auf die restlichen neu(e)n Songs. Diese offenbaren eine gewisse Bandbreite von altmodischen piano-klimprigen Walzer-Beat bei „Bitter Pill“ über akustische Gitarren-Balladen mit klagender Mundharmonika („Southern“) bis zu irischen Einflüssen bei „Amber Kinney“. Am Thema der Corona-Pandemie kommt Jesse Brewster natürlich auch nicht vorbei, sein Song „Coming Home“ ist ein positiver Blick auf die Werte, die das Überleben („We’ll all get through this soon“) sichern und wertvoll machen: die Familie („it feels so good to be back home with the family“) und die Nachbarschaft („All my neigbors banding together“): Solidarität trotz Distanz! Die Pandemie hat auch Brewsters musikalische Projekte beeinflusst: die CD wurde zunächst mit dem kompetenten Produzenten Gawain Mathews und dem Drummer Ryan Low eingespielt, die finalen Zutaten musste Brewster in seinem eigenen Home Studio ergänzen.
Das Endergebnis kann sich - wie gesagt - sehen und vor allem hören lassen: Jesse Brewster klopft mit Recht und prägnanter Stimme bei der Klasse seiner Vorbilder Jackson Browne und Neil Young an, mit anderen südkalifornischen Songwritern wie Brad Colerick, Gerry Beckley (Ex-America), John Vester oder Jeff Larson spielt er längst in einer gemeinsamen Liga. Einen kleinen Punktabzug gibt es nur für die bedauerliche Tatsache, dass die CD sehr karg eingepackt ist und keinerlei Lyrics oder Credits beinhaltet! Die gibt’s nur mit der Sammler-Vinyl-Ausgabe, aber damit muss man wohl in Zeiten der Download-Kultur leben?
Emma Swift: Blonde On The Tracks *****
Tiny Ghost Records (USA 2020)
Produced by Patrick Sansone
8 Tracks - 44:47 Min.
Das schönste Geschenk, das sich auf dem Gabentisch zu Bob Dylans 80. Geburtstag befindet, könnte von der australischen Singer/Songwriterin Emma Swift kommen: es ist eine CD mit acht Songs vom Literatur-Nobelpreisträger himself, die sie in einmaliger Weise mit ihrer magischen Stimme veredelt hat. Auf die dazugehörige Glückwunschkarte hat sie geschrieben: „Zu Ehren des majestätischen Bob Dylan freue ich mich, dass „Blonde On The Tracks“, eine Neuinterpretation einiger meiner Lieblings-Bob-Dylan-Songs, erschienen ist. Dieses Album wurde mit Liebe und Sorgfalt in Nashville vor und während der Pandemie gemacht.“
Über den gesundheitlichen Nutzen von Dylan-Songs gibt es keine gesicherten Studien, bei Emma Swift war es aber so, dass sie sich über eine Phase voller Depression und Schreibblockaden damit gerettet hat, dass sie an jedem Morgen ein Lied des Meisters angestimmt hat. Ihr Freund Robyn Hitchcock, mit dem sie seit 2013 in Nashville lebt, hat sie bei diesem Projekt zusammen mit Produzent Patrick Sansone - bekannt durch seine Mitwirkung in der Band Wilco - unterstützt.
Das Ergebnis ist atemberaubend: auf der Basis eines modernen Folk-Rock-Arrangements in der Tradition von The Byrds oder The Band arbeitet sich Emma Swift mit ungeheurer stimmlicher Präsenz in die Substanz der Songs. Die meisten stammen aus den Jahren 1965 - 1975, je zwei von den Alben „Blonde On Blonde“ und „Blood On The Tracks“. Es gibt Bekanntes wie „Simple Twist Of Fate“ (für viele der beste Dylan-Songs aller Zeiten) oder „Sad Eyed Lady Of The Lowlands“, das elfminütige Epos, mit dem Dylan seine erste Ehefrau Sara Lowndes charakterisierte. Es gibt aber auch Unbekannteres wie die schlichte Country-Nummer „Going Going Gone“ oder das vertrackte „The Man in Me“, das schon Wolfgang Ambros zu einer österreichischen Version animierte. Höhepunkt ist aber ohne Zweifel der Song „I Contain Multitudes“ aus dem aktuellen Album „Rough and Rowdy Ways“, in dem Bob Dylan rückblickend die Vielschichtigkeit und Rätselhaftigkeit seiner künstlerischen Person reflektierte: „Ich bin wie Anne Frank, wie Indiana Jones, wie die Rolling Stones“ heißt es da - viel Spaß beim Interpretieren!
Können Frauen Dylan-Songs singen? Aber sicher: Emma Swift steht in einer prominenten Reihe von Dylan-Interpretinnen wie Joan Baez, Odetta oder Emmylou Harris; die These sei gewagt: sie macht‘s am besten! Hoffentlich nimmt sich auch Herr Zimmermann die Zeit, dieses Geschenk an seinem runden Ehrentag in Ruhe anzuhören.
Steve Yanek: Across The Landscape ****
Primitive Records (USA 2020)
Produced by Steve Yanek, Jeff Pevar und Leah Kunkel
11 Tracks - 49:33 Min.
Es war einmal ein ambitionierter Musiker namens Steve Yanek, der zu Beginn der 1980er Jahre davon träumte, der nächste Jackson Browne, Neil Young oder zumindest Ned Doheny oder John David Souther zu werden. Dafür zog er von den Stahlfabriken in Ohio zu der Musikindustrie in Los Angeles und präsentierte seine Songs in den einschlägigen Folk-Clubs. Doch irgendwie hat es mit dem großen Durchbruch nicht geklappt, zwei Plattenverträge wurden in letzter Minute wieder gekündigt und Yanek erkannte, dass die goldene Aufbruchsstimmung rund um den Laurel Canyon fast schon wieder vorbei ist, dass Äußerlichkeiten und nicht die musikalische Substanz das Musik-Business bestimmen. Also reiste er wieder zurück ins ländliche Pennsylvania, suchte sich mehrere Brotberufe, stellte sich aber gleichzeitig ein ordentliches Home-Studio und sogar eine unabhängige Plattenfirma (Primitive Records) zusammen.
An der Ostküste kam es dann 2004 zu einem neuen Anlauf, für den er sich zwei erfahrene Mitstreiter ins Boot holte: den Gitarristen Jeff Pevar, der mit David Crosby, CSN&Y und vielen anderen Westcoast-Celebrities zusammengespielt hat, und Leah Kunkel, die für Jackson Browne, James Taylor und Art Garfunkel schon Background gesungen hat und sich dank ihres Ex-Mannes, dem Schlagzeuger Russ Kunkel, in der Szene gut auskennt.
Herausgekommen ist dann 2005 das Album „Across The Landscape“, das elf Eigenkompositionen von Steve Yanek enthält, die sich stark an die oben genannten Namen anlehnen. „Right In Front Of You“ würde (auch textlich!) jede der frühen Jackson-Browne-Platten zieren, „No One Said“ oder „All I Ever Wanted“ wünscht man sich auf einem Firefall-Reunion-Album, „Dance With You“ hätte er zu Lebzeiten mal Tom Petty vorspielen sollen, „Got To Hear You Say It“ hätte er als Audio-Datei an Don Henley schicken sollen und „Barely Holding On“ wäre einen Anruf beim Management von Richard Marx wert gewesen. Damit wir uns richtig verstehen: Steve Yanek ist kein einfallsloser Epigone sondern ein richtig guter Songwriter, der unglücklicherweise mehrmals durch den Rost gefallen ist, oder ein Beispiel für den alten Spruch „Wrong time wrong place“ wurde.
Doch es besteht noch Hoffnung: Steve Yanek hat die CD (auch für den europäischen Markt) mit ein paar kosmetischen Korrekturen neu veröffentlicht und für den Sommer 2021 ein neues Album (wieder mit Jeff Pevar) fest im Blick. Wie heißt es doch in dem finalen Song „Safe Harbours“: „There’s no turning back / The road lies ahead of you / Your faith and your anger / They’re going to pull you through“!
The Immediate Family: Slippin’ And Slidin’ ****
Quarto Valley Records (USA 2020)
Produced by The Immediate Family & Fred Mollin
5 Tracks - 22:31 Min.
Was haben Jackson Browne, James Taylor, Don Henley, Phil Collins, Keith Richards, Crosby, Stills, Nash & Young, Linda Ronstadt und Carole King gemeinsam? Auf den ersten Blick einfach: sie sind höchst erfolgreiche Musiker, Songwriter und Sänger. Aber noch etwas trifft zu: sie haben immer wieder mit einer Gruppe von herausragenden Studiomusikern aus Südkalifornien (auch bei Live-Konzerten) zusammengearbeitet, nämlich mit Danny Kortchmar (g), Waddy Wachtel (g), Leland Sklar (b) und Russ Kunkel (dr). Diese vier, deren Namen man unzählige Male bei den Credits lesen konnte, haben nun beschlossen, für ein eigenes Bandprojekt aus der zweiten Reihe vorzutreten und sozusagen eine Musicians-Supergroup zu gründen. Sie nennen sich durchaus treffend „The Immediate Family“, haben den ebenfalls nicht ganz unbekannten Steve Postell einbezogen, sind eine Zeitlang zwischen 2018 und 2019 in Japan getourt (dort gibt es auch zwei Erinnerungen in Form einer Danny-Kortchmar & The Immediate Family-CD mit dem Titel „Honey Don’t Leave L.A.“ und einer Live-CD mit der programmatischen Überschrift „Turn It Up To Ten“ auf dem Label Vivid Sound) und testen nun mit einer 5-Track-EP ihre Marktchancen nach Corona. Schon in den 1970er Jahren haben drei von ihnen unter dem unscheinbaren Namen „The Section“ das gemacht, was sie am besten können: Instrumentalmusik für Fans und Kenner.
Nun aber wollen sie richtige Songs präsentieren, eigene und solche von alten Freunden, denen sie schon bei der Original-Aufnahme geholfen haben. So findet man auf der Kurz-CD das melodramatische Epos „New York Minute“ von Don Henley (The Eagles) in einer groovigen Gitarren-Rock-Version und „Werewolves Of London“ von Warren Zevon (vielen Radiohörern durch „All Summer Long“, den Bastard-Mix von Kid Rock bekannt) als lässige Live-Darbietung. Sie erlauben sich sogar die feine Ironie, die Textzeile „I’d like to meet his tailor“ zu ändern - jetzt heißt es „we’ve all been fired by James Taylor“! Auch die eigenen Titel dieser abgebrühten Ü-70-Combo - etwa der flüssige Blues-Rock „Cruel Twist“, der irgendwie an eine andere Supergroup namens Blind Faith erinnert und tatsächlich ein Überbleibsel der Slo-Leak-Phase von Danny Kortchmar (zusammen mit Harvey Brooks und Charles Kamp) ist - machen Lust auf mehr, zum Beispiel auf eine vollständige CD, die im Frühjahr 2021 erscheinen soll.
Gunther Brown: Heartache & Roses *****
GuntherBrown (USA 2020)
Produced by Todd Hutchisen
11 Tracks - 39:41 Min.
Das kommt selten vor: eine völlig unbekannte CD mit einem völlig unbekannten Bandnamen liegt als Hörangebot des europäischen Publizisten im Briefkasten und nach mehrmaligem Blind Audio Date ist man der Musik verfallen! Es handelt sich bei dieser musical seduction um einen gewissen Gunther Brown; aber hinter diesem merkwürdigen Namen verbirgt sich eine sechsköpfige Truppe aus Portland/Maine, die es auf unglaublich relaxte Weise schafft, die alten ländlichen Folk-Traditionen der Band (= The Band!) und den melodiösen Country Rock der Ozark Mountain Daredevils zu einem zeitgemäßen Americana-Konzept zu vereinen, das in einer Liga mit Jeff Tweedy oder den Jayhawks angesiedelt ist.
„Heartache & Roses“ ist schon ihr drittes Album; während die beiden Vorgänger „Good Nights For Daydreams“ (2014) und „North Wind“ (Continental Song City CSCCD 1126 - USA 2016 - Produced by Jonathan Wyman - 10 Tracks - 39:14 Min.) noch eher in Richtung gitarrenlastigen Roots Rock gingen, bekommen jetzt auch die Mundharmonika, die Pedal Steel Guitar und das Banjo ihren Platz, wird das Tempo um einen Gang heruntergeschaltet und wunderschöne Balladen erwachsen aus einem stimmigen Arrangement. Genauso wichtig ist auch der personelle Umbruch. Bandleader Pete Dubuc hat nun mit Greg Klein und Joe Bloom zwei gleichwertige Sänger und Songwriter an seiner Seite - da könnte aus „Gunther Brown“ glatt „Bloom, Dubuc & Klein“ werden!
Die elf Songs atmen eine gewisse Traurigkeit, befassen sich mit den Ups und Downs des alltäglichen Lebens, bekommen aber durch die Kompositionen einen eindeutig optimistischen Charakter. Es geht um gute (ehrliche?) Vorsätze für das neue Jahr („five days from now, you’ll be looking at a new man“), um die Konsequenzen von klaren Trennungen („every word you taught me, I’ve unlearned“) und das Scheitern von Beziehungen („I planted a garden, but nothing ever growed“). Der Titel „Slow Me Down“ wartet mit eher flottem Tempo auf und erinnert an frühe Dire-Straits-Werke, der Titelsong „Heartache & Roses“ ist einer der vielen Geschichten über die Musiker on the road, vergleichbar mit Herb Pedersens „Wait A Minute“, und „Same Place Same Time“ berichtet dann doch von der Liebe auf den ersten Blick (vgl. die Einleitung des Review-Schreibers!).
„Heartache & Roses“ ist definitiv eine wärmende, aber nie klischeehafte Musik für die Zeiten der Corona-Quarantäne. Man würde sich aber sehr freuen, die ganzen Songs auch einmal live und in Europa erleben zu dürfen. Einstweilen eine dicke Anhör-Empfehlung für Gunther Brown!!
Drei Alben in 50 Jahren
Die irgendwie traurige Greg-Copeland-Saga
Die Geschichte beginnt mit drei Freunden an der Sunny Hills High School in Fullerton, California, die etwa ab 1964 den Traum von einer Karriere als Singer/Songwriter träumten und im nahe gelegenen Paradox Folk Club ihre ersten musikalischen Gehversuche machten. Wenn man die Namen verrät, weiß man, dass nur einer von ihnen dieses große Ziel erreicht hat: Jackson Browne. Die beiden anderen waren Steve Noonan und Greg Copeland, die trotz hoffnungsvoller Anfänge nie den großen Sprung schafften.
Fast tragisch ist das sehr übersichtliche Schaffen von Greg Copeland: er schaffte es in ca. 50 Jahren, nur gerade mal drei Langspielplatten/CDs zu veröffentlichen, Live-Auftritte kann man an einer Hand aufzählen, Tourneen zur Förderung der Karriere gab es nie - und das obwohl er bis heute in der damals so blühenden Orange County Szene bestens vernetzt ist.
Während Steve Noonan schon 1966 einen Plattenvertrag von Elektra bekam und zwei Jahre später seine erste LP veröffentlichte („Steve Noonan“) - mit der er allerdings überhaupt nicht zufrieden war! -, während Jackson Browne etwas vorsichtiger 1972 mit seinem bemerkenswerten Debüt „Jackson Browne“ und mit dem Hit „Doctor My Eyes“ den Durchbruch schaffte, ließ es Greg Copeland nach dem High-School-Abschluss ruhiger angehen: er studierte an der Universität Poetik, reiste viel in der Welt herum und begann erst 1980 wieder mit dem Songwriting. Er schickte Jackson Browne eine Kassette mit eigenen Liedern, die nur aus seiner Stimme bestanden. Browne vermittelte den Kontakt zu Geffen Records, die aber mit so einem Experiment nichts anfangen konnten.
Greg Copeland: Revenge Will Come ****
Geffen Records (USA 1982)
Produced by Jackson Browne
10 Tracks - 39:44 Min.
Deshalb wurde „Revenge Will Come“ zu einem eher konventionellen südkalifornischen Singer/Songwriter-Album, auf dem sich country-poppige Love Songs wie „Starting Place“ mit politischen Statements („El Salvador“, „Revenge Will Come“) mischten. Manche Songs klingen stark nach Warren Zevon, manche eher nach dem gefälligen Soft-Rock von Browne (der im selben Jahr etwa mit „Somebody’s Baby“ wieder in die Hitparaden kam), manche erscheinen wie Anleihen beim engagierten Storytelling eines Woody Guthrie. Die Voraussetzungen waren also sehr erfolgsversprechend: ein berühmter Freund als Produzent (Jackson Browne), erstklassige Studiomusiker (Bob Glaub, Danny Kortchmar, Rick Vito) und eine sehr ambitionierte Plattenfirma. Doch trotz guter Kritiken (Time Magazine zählte „Revenge Will Come“ zu den zehn besten Alben des Jahres 1982) waren die Verkaufszahlen dürftig, war Greg Copeland frustriert und Geffen Records nicht mehr an dem Künstler interessiert (bezeichnenderweise ist bis heute kein Re-Issue als CD produziert worden und die Vinyl-LP hat mittlerweile hohen Sammlerwert!). Für Greg Copeland war damit dieses Kapitel beendet, er suchte nach anderen Möglichkeiten seine Familie zu ernähren und distanzierte sich für ca. 18 Jahre vom Musik-Business.
Erst bei der Jahrtausendwende 2000 macht es bei Greg Copeland wieder „click“ und er beginnt Songs zu schreiben. Es dauert allerdings weitere acht Jahre, bis eine CD mit 13 Titeln fertig ist - aber hier hat sich das Warten wirklich gelohnt!
Greg Copeland: Diana And James *****
Inside Recordings (USA 2008)
Produced by Greg Leisz & Jackson Browne
13 Tracks - 49:52 Min.
With a little help from his friends Jackson Browne (Besitzer des Labels Inside Recordings sowie Executive Producer) und Greg Leisz (Multiinstrumentalist auf allen Arten von Saiteninstrumenten und Produzent) entsteht ein hervorragendes Album, ein Kleinod der südkalifornischen Songwriter-Szene, des leicht countryfizierten Folk-Rock. Alle Songs hat Greg Copeland geschrieben, doch nur zweimal taucht er mit akustischer Gitarre bei den Instrumentalisten-Credits auf. Seine Stimme hat ein rauchiges Profil, erinnert teilweise an Tom Waits oder Steve Earle, drängt sich aber nie zu sehr in den Vordergrund. Thematisch kreisen die Songs um das Thema „Beziehungen und ihre Probleme“, besonders anhörenswert dabei der Titelsong mit magischen E-Gitarren-Einwürfen, das mandolinenlastige „I Am The One“, das nachdenkliche „Between Two Worlds“ („King Cupid, your volunteers never go back / between two worlds there’s a broken door“), „Typical“, das Copeland als Zusammenfassung eines Lebens in vier Zeilen bezeichnet („Typical three-day day and a three-chord song / If it wasn’t for this, I’d be screaming in tongues / And the love light shines, sparkling on razor wire / Typical bud-wiser words, typical steel guitar“) und das atmosphärische Duett mit Carla Kihlstedt „Palace Of Love“.
Insgesamt ist es eine Schande, dass dieses Album so schnell wieder in Vergessenheit geriet, und für Greg Copeland wohl ein erneuter Hinweis, dass die Chemie zwischen ihm und dem Musik-Business nicht funktioniert.
Es dauerte sodann bis 2014, als wieder ein Lebenszeichen von Greg Copeland zu hören war - und das sogar live: zusammen mit Jackson Browne, Steve Noonan und Greg Leisz wurde ein Konzert im Fox Theater Fullerton organisiert, das zum einen die Restaurierung des Theaters und die OP-Kosten von Steve Noonan unterstützen sollte. Danach the same procedure as usual: Funkstille!
Wiederum vergehen einige Jahre, nach denen sich Greg Copeland motivieren lässt, in ein Studio zu gehen und neue Songs aufzunehmen.
Greg Copeland: The Tango Bar ***
Paraply Records (USA 2020)
Produced by Tyler Chester
9 Tracks - 41:06 Min.
Diesmal ist Tyler Chester die treibende Kraft im Hintergrund: als Produzent, als Arrangeur und als Multiinstrumentalist (g, piano, b, keyb, perc) hat er neun neue Songs von Greg Copeland fertiggestellt, die nun in den USA bei Franklin & Highland Recordings und in Europa - dank Peter Holmstedt - bei Paraply Records veröffentlicht worden sind. Die geradezu manische Zurückhaltung von Greg Copeland äußert sich jedoch in der Tatsache, dass er nur fünfmal selber singt und viermal zwei vielversprechenden Damen den Vortritt lässt. Das ist gleich am Anfang Inara George, die Tochter der Little-Feat-Legende Lowell George, später dreimal die aufstrebende Independent-Folk-Country-Künstlerin Caitlin Canty, die zuletzt in Nashville ein vielversprechendes neues Album („Motel Bouquet“) präsentiert hat.
Greg Copeland nähert sich mit seinem rauchigen Bariton immer mehr der Stimme eines Randy Newman, seine Songs haben aber nicht dessen zynische Schlagseite sondern sind sehr poetische, manchmal verrätselte Beobachtungen des eigenen Lebens (mit 74 Jahren). Der Titelsong, mit dem die CD schließt, verwendet die Tango Bar als Metapher für eines gewisse Schwerelosigkeit und Zeitlosigkeit und sendet die Ich-Botschaft „Something in my heart has changed“. Dazu passt auch das Retro-Coverfoto, das Greg Copeland - zusammen mit Ex-Ehefrau Pamela Polland - vor 52 Jahren beim Sommerurlaub auf einer griechischen Insel zeigt. Copeland memoriert auch das New Yorker Künstler-Phänomen Lou Reed: „snipers voice, 3-D-Guitar, full blown superstar“ - praktisch das Antibild zum schüchternen Herrn Copeland. Mitgewirkt im Studio hat auch wieder Greg Leisz, teilweise mit markanter E-Gitarre, teilweise mit epischer Breitwand-Kino-Pedal-Steel. Die größte Überraschung folgt aber bei den Informationen der Plattenfirma: schon 2021 wird Teil 2 dieser Studio-Produktion (bislang noch ohne Titel) folgen. Zwei CDs in zwei Jahren, was soll das noch werden? Und dann noch dieses Zitat aus einem aktuellen Copeland-Interview: „Wenn ich eine Band zusammenstellen könnte, für die ich selbst an einem Freitagabend meine Couch verlassen würde, um sie anzusehen, dann gehe ich auf Tour!“ Wird Gregs Ankündigung Wirklichkeit?
https://gregcopeland1.bandcamp.com/releases