SCHAU.BÜHNE


***** hervorragend   **** sehenswert   *** Licht und Schatten

** nur bedingtes Vergnügen    * überflüssig


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Eines langen Tages Reise in die Nacht – Instrumentalversion *****

frei nach Eugene O’Neill

Regie: Rieke Süßkow

Premiere am 13. Oktober 2024

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

 

„Das Einzige, was im Stück geschieht, geschieht im Gespräch. Indirekt, in Rede und Gegenrede entfaltet O`Neill die Charaktere seiner Deformierten“. So beschrieb der Literaturwissenschaftler Axel Schalk in seiner Abhandlung über das moderne Drama (Reclam, 2004) Eugene O’Neills Drama „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ (entstanden 1946, uraufgeführt aber erst 1956). Daher ist es zunächst ein äußerst wagemutiges Experiment, das Regisseurin Rieke Süßkow hier eingegangen ist, wenn sie den Text zu einer 75-minütigen „Instrumentalversion“ verdichtet.

 Was heißt das konkret: auf der Drehbühne mit drei wie bei einer Torte geschichteten Handlungsebenen agieren die vier Personen, die Mitglieder der Familie Tyrone (Vater James, Mutter Mary sowie die Söhne Jamie und Edmund), ohne Worte. Nur durch Mundbewegungen, Gesten und Bewegungen artikulieren sie, was in dieser Familie alles schiefläuft. Dazu ist aber jeder Person ein Musiker/eine Musikerin an die Seite gestellt, der/die mit einem Instrument, den jeweiligen Sprechakt oder die aktuelle Stimmungslage illustriert. Im Rahmen der intensiven Probenarbeit hat der musikalische Leiter Philipp C. Mayer aus Improvisationen kleine Kompositionen entwickelt. Für die Mutter spielt also Ekaterina Zeynetdinova die Geige, die schon vor dem Heben des Vorhangs mit kratzigen Sägetönen die nervliche Anspannung markiert. Lucas Jansen begleitet (im wahrsten Sinne des Wortes) den Vater am Cello, Nina Janßen-Deinzer veranschaulicht mit der Klarinette (nicht nur) die Hustenanfälle von Edmund und Lukas Immanuel Krauß markiert mit der Posaune das James-Dean-artige Rocker-Image von Jamie. Auf der abgedunkelten erhöhten Bühnen-Empore ist im Hintergrund Ines Lubej mit diversem Schlagwerk für den pulsierenden Rhythmus des Theaterabends verantwortlich.

Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Wir erleben also fast einen Stummfilm aus den 1920er Jahren - etwa „Das Cabinet der Familie Tyrone“? - im Stile von Fritz Lang, allerdings ohne erläuternde Text-Einblendungen. Wenn man konstatiert, dass das moderne Theater des 20. Jahrhundert sehr häufig vom Scheitern menschlicher Kommunikation erzählt hat, ist dieser Regieansatz nicht nur logisch, er ist sogar mit zunehmender Dauer faszinierend.

Was aber tun die Zuschauer, denen der Inhalt des Stückes nicht bekannt ist? Für sie öffnet die Inszenierung einen weiten Assoziationsraum und die Chance auf eine ganz neue Seh-Erfahrung. Punktuell eingesetzte Bühnen-Requisiten verweisen auf das Original: das Drogen-Arsenal und die Rückzugs-Matratze der morphiumsüchtigen Mutter, die Whiskyflaschen, mit denen die Söhne ihren Frust bekämpfen, das Grab, in dem der früh verstorbene Sohn samt Knuddeltier begraben ist, der Motor-Rasenmäher, mit dem der Vater stoisch und dominant seine Runden dreht. Alles in allem ein bildstarkes Seelen-Panorama einer kaputten Familie, die nicht in der Lage ist, an den Ursachen zu arbeiten. Im furiosen Finale kommen die Handlungs-Ebenen gefährlich ins Wackeln, es dreht sich alles im Kreis, Repetition und Redundanz sind die traurigen Befunde.

Auch für die vier SchauspielerInnen ist das Regie-Konzept eine Herausforderung und ein Befreiungsschlag. Stephanie Leue wird als Mutter zur zentralen Person und liefert ein perfektes Rollen-Porträt ab. Bedrohlich wirkt ins seiner Unterhemdsärmlichkeit der Vater (Stephan Schäfer). Die Verweigerung der Realität von Krankheit und beruflichem Scheitern präsentieren mit imponierender Körperlichkeit Justus Pfannkuch und Joshua Kliefert.

In Kooperation mit Mirjam Stängl (Bühne) und Sabrina Bosshard (Kostüme) hat Rieke Süßkow nach ihrer hoch gelobten Arbeit aus dem Vorjahr in Nürnberg wieder ein starkes Gesamt-Kunstwerk abgeliefert, das die Hoffnung auf einen weiteren Ruf aus Berlin nicht ganz abwegig erscheinen lässt.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-24-25/eines-langen-tages-reise-in-die-nacht-instrumentalversion/26-11-2024/2000


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Die Legende von Sleepy Hollow (nach der Erzählung von Washington Irving) UA ***

von Philipp Löhle

Regie: Christian Brey

Premiere am 8.11.2024

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

 

Im Nachgang zu den unvermeidlichen Halloween-Kapriolen präsentiert das Staatstheater Nürnberg ein grusliges Horror-Tableau auf der großen Schauspiel-Bühne. Hausautor Philipp Löhle hat Washington Irvings Erzählung „Die Legende von Sleepy Hollow“ (1820 in seinem „Sketch Book of Geoffrey Crayon“ erschienen) zu einem szenischen Kessel mit Süßem und Saurem umgeschrieben, bei dem die Parole lautet: Kopf oder Kürbis - Hauptsache schrill!

Im Genre der Pop-Musik würde man das Kunstwerk ein Mashup oder einen Bastard-Mix nennen, denn Löhle hat nur noch Krümel des Originaltextes verwendet, hat Irvings andere bekannte Erzählung „Rip van Winkle“ integriert und hat sich viele Ideen und viel Personal aus der Horror-Verfilmung von Tim Burton (1999) - damals mit Johnny Depp in der Hauptrolle - entliehen. Das Ganze wurde mit sehr heutigen Dialogen garniert, die uns möglicherweise auch zu der Frage führen könnten: Wie hätten die Bewohner von Sleepy Hollow bei der soeben beendeten US-Wahl entschieden?

Denn Sleepy Hollow ist eine sehr abgelegene Gegend am Hudson River, deren von holländischen Einwohnern abstammende Bevölkerung in einem beständigen Traum umherwandelt und allen Arten von Wunderglauben erlegen ist. Sie erzählen sich die Sage vom hessischen Reiter ohne Kopf, der immer wieder um Mitternacht von seinem Grab zum Schlachtfeld reitet, um seinen abgeschlagenen Kopf zu suchen. Das erinnert stark an Theodor Storms Nordsee-Novelle „Der Schimmelreiter“ (1888) mit ähnlicher Motivik und ähnlicher Personenkonstellation.

In die rückständige Provinz bei New York kommt der neue Schulmeister Ichabod Crane (Maximilian Pulst in einer Glanzrolle), der den Menschen vermitteln will, dass Wissen Macht ist, und daher alle Menschen über fundiertes Wissen verfügen sollten. Die Einheimischen bekennen sich aber zu einer gewissen Bauernschläue, gepaart mit solidem Aberglauben und offenherzigem Bekenntnis zur eigenen Dummheit. Die Erde ist für sie noch eine Scheibe, und 2 + 2 kann 4, aber auch 5 ergeben! Als treffenden Besetzungs-Gag darf man notieren, dass viermal Vater/Mutter und Sohn/Tochter von denselben Schauspielern dargestellt werden (Amadeus Köhli, Elina Schkolnik, Sascha Tuxhorn, Pola Jane O'Mara). Nur im Hintergrund erahnt man den bei Washington Irving bestimmenden Dreieckskonflikt zwischen dem Schulmeister und dem bäuerlichen Jungspund Brom Bones, die beide um die (vor allem erbtechnisch) attraktive Katrina van Tassel werben.

Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Anette Hachmann hat für die Produktion zwei starke Bilder auf die schattige Bühne montiert: vor der Pause eine leicht schiefe Blockhütte, in der der neue Lehrer leben und unterrichten soll. In diesem Raum aber zittern Hirschgeweihe, öffnen sich unvermittelt Fenster und Türen, recken sich Arme aus dem Boden und rundherum dröhnt die dunkle Außenwelt (Sounddesign von Thomas Esser). Nach der Pause sehen wir einen schwebenden Baum, dessen Wurzeln sich wie Fangarme einer Riesentarantel ausbreiten. Unter dem Baum befindet sich das Grab des ebenfalls kopflosen früheren Schulmeisters.

Christian Brey, der im Team mit Löhle die musikalische Komödie „Orbit - Geschichte einer Band“ in Nürnberg zum Publikumsrenner machte, will mit seinem übergreifenden Regieansatz das Gruselkabinett mit dem Nonsense-Slapstick vereinen - sozusagen eine „Spooky Horror Picture Show“ und „Das Leben des Ichabod Crane“ in einem Waschgang durchschleudern. Das funktioniert aber nur bedingt, denn die beiden Genres neutralisieren sich gegenseitig. Für das Publikum - geblendet von vielen unvermitteltem Stroboskop-Breaks - ist es schwierig, ständig zwischen Schrecken und Schenkelklopfen zu wechseln, Horror und Heiterkeit gleichzeitig aufzunehmen. Somit muss sich das Fazit irgendwo zwischen nice und nervig einpendeln.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-24-25/die-legende-von-sleepy-hollow/14-11-2024/1930


H. Dietz Fotografie
H. Dietz Fotografie

Thea von Tauperitz oder Kein Denkmal für die Frau hinter „Metropolis“ ****

von Kristoffer Keudel

Regie: Kristoffer Keudel

Premiere am 18.10.2024

Theater Hof (Studio)

 

Rechtzeitig zu Beginn der Internationalen Hofer Filmtage 2024 hat das Theater Hof ein filmhistorisches Projekt ins Programm gehoben. Kristoffer Keudel bekam den Auftrag, aus der Lebensgeschichte von Thea von Harbou (1888 - 1954) ein Theaterstück zu komponieren. Der regionale Bezug ergibt sich aus der Tatsache, dass Thea in Tauperitz, einem Ort nahe Hof geboren und aufgewachsen ist. Bekannt wurde sie aber ab 1913 als Buch-Autorin, später als Verfasserin von Drehbüchern und besonders als Ehefrau des Regisseurs Fritz Lang. Für ihn schrieb sie die Scripts von „Dr. Mabuse, der Spieler“, „Die Nibelungen“, „Metropolis“, „Spione“, „Frau im Mond“ und „M - eine Stadt sucht einen Mörder“.

Der Theaterabend soll auf keinen Fall ein Hochschul-Proseminar sein, er will uns diskursiv eine gespaltene Powerfrau vorführen, die zwischen künstlerischem Engagement und nationalsozialistischer Ideologie, zwischen Liebe zum Beruf und faschistoider, anti-emanzipativer Verblendung hin- und hergerissen ist.

Dialog zu verarbeiten und mit den kargen, aber symbolträchtigen Bühnen-Requisiten eine dynamische Interaktion herzustellen, Wir sehen vor der großen Videowand stabile Reisekoffer, die auch als Luftschutzraum dienen können, eine Schreibmaschine, ein Telefon, diverse Bücher und Teppiche sowie eine eiserne Abfalltonne, in der literarische Jugendsünden verschwinden.

H. Dietz Fotografíe
H. Dietz Fotografíe

Aus dem Off prasseln Statements von Literaturkritikern, Historikerinnen, Zeitzeugen und Politikern - dazu die Stimme von Maria, einem Maschinenmenschen aus dem Film „Metropolis“, auf Thea ein, die ständig zwischen der Rolle einer Angeklagten und einer Bewunderten wechseln muss.

Trotzig ruft sie ins Publikum „Ich war keine Frau der Nazis“, sie ist aber 1940 der NSDAP beigetreten. Nach 1945 erlegte man ihr in der britischen Besatzungszone ein kurzes Berufsverbot auf, wenig später wurde sie als „unbelastet“ freigesprochen. Von ihrem tragischen Ende, einem tödlichen Sturz beim Verlassen eines Kinos während der Berliner Filmfestspiele (1954) berichtet sie mit festem Blick in den Punktscheinwerfer.

Kristoffer Keudel, der für Recherche, Text, Inszenierung, Ausstattung und Videoproduktion zuständig ist, hat es geschafft, mit den traditionellen Methoden des dokumentarischen Theaters ein differenziertes Bild dieser schillernden Persönlichkeit zu zeichnen, Er hat - in seinen eigenen Worten - dieser Frau kein Denkmal, sondern ein Mahnmal gesetzt. Und im Abspann wandert - ganz wie im Kino - noch ein Zitat des US-amerikanischen Politikers John McCloy (Hochkommissar in Deutschland von 1949 bis 1952) über die Videowand, in dem er hochaktuell die aktive Verteidigung der Demokratie fordert.

 

https://www.theater-hof.de/


Foto: Appolonia Theresa Bitzan
Foto: Appolonia Theresa Bitzan

Meister und Margarita ***

von Michail Bulgakow

Regie: Matthias Köhler

Premiere am 5. Oktober 2024

Schauspiel Erlangen

 

Der Teufel ist los in Moskau. Er heißt nicht Stalin und auch nicht Putin, sondern Woland und sieht mit Zopf und elegantem Schwarz-Leder-Anzug aus wie Klaus Lagerfeld. Vor allem mit russischen Kulturschaffenden treibt er seinen Schabernack, bis diese schließlich - anders als Dürrenmatts Physiker- unfreiwillig im Irrenhaus oder in stählernen Käfigen landen. Das ist der hintersinnige Kern von Michail Bulgakows Kult-Roman „Meister und Margarita“ (1940 vollendet und erst 1966 posthum erschienen), der schon mehrfach in Bühnenfassungen erprobt und nun vom Schauspiel Erlangen zur Auftaktpremiere für die Saison 2024/205 erkoren wurde.

Hausregisseur Matthias Köhler hat zusammen mit der Dramaturgin Natalie Baudy eine Kompress-Fassung erstellt (der Roman zwingt den Leser durch gut 500 Seiten!), die immer noch knapp drei Stunden dauert und dabei vielleicht die eine oder andere Kurve zu viel mitnimmt. Es scheint auch, dass der neue Erlanger Schauspielchef Jonas Knecht, der mit dem Hesseschen Josef Knecht die Berufsbezeichnung magister ludi gemeinsam hat, ganz im Sinne von Goethes Theaterdirektors aus dem Faust-Theater-Vorspiel gefordert hat, man solle an diesem Abend die Prospekte nicht schonen und auch nicht die Maschinen, sowie das große und kleine Himmelslicht tüchtig gebrauchen - und natürlich auch das ganze Erlanger Ensemble dem erwartungsfrohen Publikum vorstellen.

Foto: Appolonia Theresa Bitzan
Foto: Appolonia Theresa Bitzan

Deshalb dröhnt bald deftig die Russen-Disko beim Teufelsball, Pontius Pilatus (Ralph Jung) - neben Jesus die zweite Hauptfigur aus der Parallel-Handlung - schmettert als Karaoke-Sänger seine Parole „Don`t expect me to cry“ in den Raum und die spektakulären Video-Sequenzen aus dem historischen Jerusalem (Marvin Kanas) wirken wie eine Mischung aus Quentin Tarantino und Monty Pythons „Leben des Brian“. Wenn die Gothic-Gefolgschaft des Teufels in Tanzwut verfällt, fühlt man sich in eine biegsame Slapstick-Version der Rocky Horror Picture Show versetzt. Berlioz, der Vorsitzende einer Literaturgesellschaft (Hermann Große-Berg) stürzt vor eine Straßenbahn, die ihm den Kopf abtrennt, aus dem später mit einem Strohhalm Blut abgesaugt wird.

Als Botenbericht vor dem Vorhang erfahren wir von der brutalen Zaubershow des Teufels, einem wirklichen Unehrlich-Brother. Margarita, die trauernde Muse des verschwundenen Meisters (Juliane Böttger), reibt sich mit Schwerelosigkeits-Creme ein und schwebt im Klettergurt zur Walpurgisnacht im Kreml, nicht ohne vorher die Wohnung des Kritikers Latunsky, der es gewagt hat, den Roman ihres Meisters herabzuwürdigen, in Schutt und Asche zu legen.

Damit werden aber die philosophisch-politischen Zwischentöne dieser verstörenden Satire ziemlich eingedampft. Bulgakows Auseinandersetzung mit der teuflischen Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, seine autobiografischen Reflexionen des resignierten Künstlers in einer Autokratie mit Zensur und Verboten, sein Plädoyer gegen die Feigheit als schrecklichste Sünde und seine Debatten über die historische Wahrheit des biblischen Jesus werden in dieser Inszenierung zeitweise durch Lautstärke und Grellheit übertüncht.

Dabei hätte die Bühne von Patrick Loibl einige politische Anspielungen geboten: über dem geometrisch geordneten schwarz-weiß-roten Bodenmustern schwebt ein mächtiger Leuchter, konstruiert aus einem Sowjet-Stern und vielen herabhängenden Ketten. Immer wieder senken sich eiserne Käfig-Teile in das Bühnen-Geschehen, und der Vorhang illustriert ganz profan das Verschwinden von Menschen, die dann mit Zwangsjacken hinter Gittern stehen.

Am Ende überwiegen wieder leisere Töne; Margarita findet mit ihrem Meister (Tobias Graupner), der wie Nawalny ex machina aus dem Bühnenboden emporsteigt („ich fürchte mich vor nichts mehr“), die finale Ruhe, der Song „Chandelier“ der australischen Sängerin Sia wird am Piano intoniert, dazu erhalten der Lyriker Besdomny (Johannes Rebers) und Pontius Pilatus einen abgewogenen Schluss-Monolog. Insgesamt aber schmeckt die Inszenierung weniger nach authentischer Pizza Margarita, sondern eher nach überwürzter Pizza Diavolo.

 

www.schauspiel-erlangen.de


Foto: Rudi Gigler
Foto: Rudi Gigler

Ein Bericht für eine Akademie / Eine kleine Frau ****

von Franz Kafka

von und mit Sven-Eric Bechtolf

Premiere am 9. August 2024

Stadttheater Gmunden (Salzkammergut Festwochen)

 

Wenn Sven-Eric Bechtolf zur One-Man-Show einlädt ist großes Bühnen-Kino garantiert. Da steht dann ein erfahrener Schauspiel-Routinier mit perfekter Sprach-Performance, mit differenzierter Artikulation und körperlicher Ausstrahlung vor seinem Publikum. Für die Salzkammergut Festwochen in Gmunden hat er sich zwei Kafka-Texte vorgenommen und daraus weit mehr als eine bloße szenische Lesung gemacht.

Er ist nicht der erste, der die hintergründigen, von Welt- und Selbstkritik gesättigten Ich-Monologe des Autors, der vor genau 100 Jahren im Sanatorium Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg im Alter von 40 Jahren gestorben ist, zu einem Mono-Drama geformt hat. Aber er ist sicher einer der wenigen, dem es gelingt, unter die Oberfläche von Kafkas sperriger Sprache zu bohren und dem Zuschauer ein tieferes Verständnis zu vermitteln.

Der „Bericht für eine Akademie“ (verfasst 1917) ist ein fast schon zynischer Kommentar zur Evolution, zur Menschwerdung des Affen. Bechtolf nutzt nur am Anfang eine Affen-Halbmaske und entflieht schnell dem Käfig, der aus vier Eisen-Bauzaun-Teilen konstruiert ist. Er unterstützt seine Gedanken durch Notizen auf einem großen weißen Plakat und stärkt sich kurz mit einer Banane. Zunächst ist er noch der verwundete, schmerzhaft langsam formulierende Affe in derber Zwangsjacken-Unterwäsche, später mutiert er zum gewandten Varieté-Künstler mit weißer Weste und weißem Anzug, der aber nie dem Ideal der Freiheit nachjagte, sondern nur noch einen Ausweg und ein Auskommen sucht. Er hat die „Durchschnittsbildung eines Europäers“ erlernt und konstatiert abschließend: „Im Ganzen habe ich jedenfalls erreicht, was ich erreichen wollte“.

Foto: Rudi Gigler
Foto: Rudi Gigler

Den zweiten Teil absolviert Bechtolf ohne Bühnen-Utensilien vor dem Vorhang. Nun ist er der Ich-Erzähler des Textes „Eine kleine Frau“ (entstanden 1924), ein verunsicherter Mann, der mit der Kritik einer Frau umgehen muss, zu der er aber überhaupt keine Beziehung hat. Der spannende innere Monolog offenbart subtile Nuancen von Neurose, Psycho-Stress und verzweifelter Selbst-Gewissheit. Hier setzt Bechtolf souverän auf die Zwischentöne , auf Mimik und Gestik, sowie auf die ständige Doppelbödigkeit der „Erzählung“. Wie soll er mit den gravierenden Vorwürfen der kleinen Frau umgehen, die er für unbegründet hält, die ihn angeblich viel wenige belasten als die Frau selbst? Schließlich flieht er vor dem verbalen Nervenkrieg wieder zurück in seinen Affenkäfig! Lang anhaltender Beifall für ein erstaunliches, stets unterhaltsames Solo!

 

https://www.festwochen-gmunden.at/de/aktuelles-programm?tx_event_pi1%5Baction%5D=show&tx_event_pi1%5Bcontroller%5D=Event&tx_event_pi1%5Bevent%5D=366&cHash=ed7cc841b9b00b4bbfddc94fab6f1af5


Foto: Thomas Langer
Foto: Thomas Langer

Die Physiker ***

von Friedrich Dürrenmatt

Regie: Werner Müller

Premiere: 25.07.2024

Fürther Bagaasch (Kulturforum Fürth)

 

Im mittelfränkischen Sprachraum steht das Substantiv Bagaasch für eine Menschengruppe mit eindeutig abwertender Konnotation. „Su a Bagaasch“ sagt der Franke für eine lärmende Kinderschar oder auch für eine Ansammlung von Personen mit ausländischer Herkunft. Die „Fürther Bagaasch-Ensemblebühne“ ist ein freies, unabhängiges Theater, das sich in den letzten 21 Jahren ein großes Renommee weit über die Stadtgrenzen hinaus erworben hat. Die ambitionierte Kultur-Truppe wurde 2001 von Ute (2021 verstorben) und Uwe Weiherer ins Leben gerufen. Seit 2014 richtet sie auf der Piazza am Kulturforum Fürth eine jährlich wiederkehrende Open-Air-Sommerproduktion ein, die heuer unter der Regie von Werner Müller, dem langjährigen Intendanten des Fürther Stadttheaters, Dürrenmatts modernen Klassiker aus den frühen 1960er Jahren präsentiert.

Es ist unverkennbar, dass das Stück „Die Physiker“ ein Produkt des Kalten Krieges war, in dem mit den Mitteln der Groteske die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft, aber auch nach den Gefahren einer skrupellosen Machtpolitik gestellt wird. Der reflektierende Physiker Johann Wilhelm Möbius und die Irrenärztin Mathilde von Zahnd verkörpern diese beiden Grundfragen. Damals stand die Welt in der Kuba-Krise am Rande einer atomaren Selbstauslöschung, doch auch gut sechzig Jahre später ist das Thema nach diversen AKW-Havarien und nach Putins Drohungen mit taktischen Atomwaffen noch aktuell.

Im etwas schmucklosen Pflasterstrand des Innenhofs des Fürther Kulturforums hat Werner Müller die Komödie in zwei Akten aus Ehrfurcht vor dem Original nur behutsam modernisiert. Die Inszenierung startet etwas zäh als eine Art „Tatort Zürich“ mit nüchternem Dialog-Theater, das im 1. Akt durchaus noch ein paar Sprizzer Leichtigkeit und Komik verdient hätte. Es endet aber nach der Pause deutlich lebhafter als Hommage an das Genre der James-Bond-Filme.

Am Anfang schlurft Inspektor Voß (Jörg Scheiring) mit Colombo-Trenchcoat auf die Szene, um den zweiten Mord an einer Krankenschwester im Irrenhaus „Les Cerisiers“ zu ermitteln. Am Ende sitzt Mathilde von Zahnd (Rike Frohberger: ganz und gar nicht die bucklige alte Jungfrau!) im maskenhaften Stil des Bond-Bösewichts Ernst Stavro Blofeld mit weißer Perserkatze im Designer-Sessel und spricht die triumphierenden Worte: „Mein Trust wird herrschen … Die Rechnung ist aufgegangen“. Demnächst könnte sie in der Nervenklinik wohl noch eine Abteilung für IT- und KI-Experten errichten. An ihrer Seite der neu eingestellte Pfleger Sievers (Kianusch Mohamadekian), der als krakeelende Kendo-Kämpfer für Angst und Schrecken sorgt.

Dazwischen erlebt man die pointierten Wort- und Mord-Gefechte der beiden eingeschleusten West-Ost-Agenten Kilton (Tim Sokollek) und Eisler (Ulrike Gradl): der eine mit Newton-Perücke und Freiheits-Ideologie, der (oder die?) andere mit Einstein-Zunge und köstlicher Marx-Brothers-Persiflage. Beide wollen sich die geniale Weltformel von J. W. Möbius sichern, den Uwe Weiherer mit salomonischer Abgeklärtheit, mit Weltschmerz à la King Lear, mit gehörigem Selbstzweifel und mit einer Prise „Spiel mir das Lied vom Tod“ interpretiert. Die eigene Frau (Karin Schubert) ist ihm mit einem Missionar davongelaufen, und die Liebe der Krankenschwester Monika (Varvara Imas) darf er nicht erwidern. Fast wie ein Deutschlehrer erklärt er den enttarnten Agenten an der Schiefertafel die Gefahren von schrankenloser Wissenschafts-Freiheit und machiavellistischer Machtpolitik. Für ihn steht fest: Erkenntnis kann tödlich sein, nur im Irrenhaus ist er noch frei - ein naiver Irrtum, wie sich schließlich herausstellt.

Auf den Polstermöbeln im Bühnenraum sitzt es sich wahrscheinlich bequemer als auf den eng gruppierten Klappstühlen der Zuschauertribüne, dennoch war das Publikum der ausverkauften Premiere sehr amüsiert. Weitere Vorstellungen finden am 26., 27. und 28., Juli sowie am 1.- 4. August statt.

 

https://www.fuerther-bagaasch.de/

https://www.kulturforum.fuerth.de/desktopdefault.aspx/tabid-1050/


Foto: Rudi Gigler
Foto: Rudi Gigler

Liebelei ****

von Arthur Schnitzler

Regie: Anna Stiepani

mit: Samuel Finzi u.a.

Premiere am 11.7.2024

Salzkammergut Festwochen Gmunden (Österreich), Stadttheater

 

Es beginnt mit einem verrätselten Schattenspiel, mit einem Walzer, bei dem der Student Fritz Lobheimer eine unbekannte Lady In Black über die Bühne schwenkt. Erst dann enthüllt das Licht eine Szenerie, bei der ein blumiger Gaze-Vorhang à la Gustav Klimt, die Hinterbühne und die dort wartenden Akteure von der noch leeren Vorderbühne mit einem goldenen Schrägdach und einem pompösen Kronleuchter trennt.

So beginnt Arthur Schnitzlers Erfolgs-Debüt „Liebelei“ (die Uraufführung war 1895 im Burgtheater in Wien) bei der Koproduktion der Salzkammergut Festwochen Gmunden und des Landestheaters Linz, wo das Schauspiel ab dem 25. Oktober zu sehen sein wird. Und schon im Voraus kann man konstatieren: so weiblich und so emanzipiert wie bei Regisseurin Anna Stiepani ist dieses Stück noch nie aufgeführt worden.

„Liebelei“ war eigentlich ein folkloristisch angehauchter Jugendstil-Diskurs über Beziehungen am Ende des 19. Jahrhunderts. Die zwei wohlhabenden Studenten Theodor und Fritz palavern darüber, ob das Verhältnis Mann - Frau eher Erholung sein sollte oder doch zwangläufig in eine Tragödie führen muss. Theodor hat da eine sehr direkte Position: „die Weiber haben nicht interessant zu sein, sondern angenehm“. Beide sprechen in politisch inkorrekter Diktion nur von Maderln, Kindern, Engeln, Schatzis und Katzen. Bei Fritz ist die Tragödie aber schon in voller Blüte: sein Verhältnis mit einer verheirateten Frau wird ihn in den Tod führen.

 

Foto: Rudi Gigler
Foto: Rudi Gigler

Die beiden Freundinnen Mizi und Christine, die mit Mokkacremetorte zu einem gemütlichen Abend in Fritzens luxuriöser Wohnung auftauchen, sind ähnlich unterschiedlich. Während die propere Mizi selbstbewusst den Männern gegenübertritt, ihren Spaß haben will und auch nicht an die ewige Liebe glaubt, ist Christine das geborene Opfer, die in Fritz den einzigen Mann ihres Lebens sehen will. So illustriert sie den Soul-Song von Charles Bradley („I´m a victim of love“), der das Ende des ersten Aktes einläutet. Gleichzeitig vereint sie einige Frauenfiguren aus dem Literaturkanon des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie erinnert an die Louise Miller in Schiller „Kabale und Liebe“ (auch deren Vater ist Musiker!), sie verkörpert ein bisschen die Reinheit des Goetheschen Gretchens und sie unterwirft sich gesellschaftlichen Regeln und Ritualen wie einst Effi Briest, die auch ihren Liebhaber Major Krampas durch ein Duell verlor.

Am Ende setzt aber Regisseurin Anna Stiepani den dicken Rotstift an: plötzlich wird aus dem süßen Maderl und der Drama Queen Christine eine toughe, erwachsene Frau, die ernüchtert in einem großen Solo über das „fucking“ Duell schimpft und ankündigt, künftig nur mehr an sich selber zu denken. Ähnlich hat die Effi-Briest-Verfilmung aus dem Jahr 2009 einen neuen Schluss gefunden, in der sich Hauptdarstellerin Julia Jentzsch genüsslich eine Zigarette reinzieht. Im Schnitzler-Original war dagegen die am Boden zerstörte Christine mit den verzweifelten Worten „Ich will dort nicht beten“ an das Grab ihres Fritz gestürmt - um dort Selbstmord zu begehen!

Als Stargast hat sich Samuel Finzi in das spielfreudige Linzer Ensemble integriert; er spielt „nur“ den Violinspieler Hans Weiring, den Vater von Christine. Diesen charakterisiert er als liberalen Erzieher, der die emotionale Tochter zur Vernunft ermahnen will: „es ist unsinnig, gleich alles aufzugeben, weil man sein erstes Glück hingeben muss“. Als kleines Schmankerl intoniert er zum Ende des zweiten Aktes am Piano ein frühes Gedicht von Elfriede Jelinek, das aus der Beobachtung des berühmten Gemäldes von Gustav Klimt („Der Kuss“) entstanden ist.

Während Lorena Emmi Mayer als Christine, Cecilia Perez als Mizi und Jakob Kajetan Hofbauer als Theodor ihren Figuren viel Leben, Glaubwürdigkeit und teilweise sogar Ironie einhauchen, kann Alexander Julian Meile die Rolle des Fritz mit ihrer Doppelbödigkeit und ihren Selbstlügen nicht immer adäquat transportieren. Katharina, die Frau eines Strumpfwirkers und damit die Vertreterin der aufstrebenden Arbeiterschaft mit den Werten Vernunft und bürgerliche Strebsamkeit wird von Gunda Schanderer sprachsicher dargestellt.

Lang anhaltender Beifall für eine sehr solide Bühnen-Erzählung, die deutlich macht, wie aktuell Schnitzlers Thema auch heute noch ist.

 

https://www.nachtkritik.de/nachtkritiken/oesterreich/oberoesterreich/gmunden/salzkammergut-gestwochen-gmunden/liebelei-salzkammergut-festwochen-gmunden-eine-schnitzler-inszenierung-mit-upgedatetem-ende-und-prominentem-gast

 

http://www.festwochen-gmunden.at/de/aktuelles-programm?tx_event_pi1%5Baction%5D=show&tx_event_pi1%5Bcontroller%5D=Event&tx_event_pi1%5Bevent%5D=357&cHash=427ab66010534f8fb7d750155a8ccaf3

 

https://www.landestheater-linz.at/stuecke/detail?ref=202420251600&spielzeit=2024/25


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Maria ****

von Simon Stephens

Regie: David Bösch

Premiere: 24.05.2024;

besuchte Vorstellung: 14.06.2024

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

 

Im Lukas-Evangelium erfahren wir von der schwangeren Maria, die mit ihrem Verlobten Joseph nach Bethlehem ging, um sich schätzen zu lassen. Dort gebar sie in einer Herberge ihren erstgeborenen Sohn Jesus - die Folgen sind bekannt. Ganz anders geht die Geschichte, die der englische Dramatiker Simon Stephens für die Bühne mit dem Titel „Maria“ komponiert hat und die 2019 in Hamburg ihre Uraufführung erlebt hat.

Die heutige Maria ist erst 18 Jahre alt, lebt in einer englischen Hafenstadt, ist ebenfalls schwanger, weiß aber nicht, wer der Vater des zu erwartenden Mädchens ist und schlägt sich mehr schlecht als recht als Putzfrau in einem Fitness-Studio durch. Ihre Mutter ist von einem betrunkenen Lastwagenfahrer überrollt worden, ihr Vater arbeitet an der Kasse eines Supermarktes. Marias einzige Anlaufstelle ist die kranke Oma (herrlich kauzig gespielt von Adeline Schebesch), die aber mit ihren eigenen Sorgen genug zu tun hat und ihre verbleibenden Lebenstage aggressiv bellend verbringt. Mit dem eigentlich sympathischen Hafenarbeiter (Aydin Aydin), der gerne eine Stütze wäre, kann nun Maria nicht viel anfangen, auch wenn er der jungen Frau eine ulkige Möwen-Choreografie vorspielt. So nähert sich das Schicksal von Maria immer mehr dem bekannten Satz von Herbert Achternbusch: „Du hast keine Chance, aber nutze sie!“ Vieles erinnert an die sozialkritischen Volksstücke, mit denen einst Franz Xaver Kroetz das Theater aufmischte. Doch bei Stephens kommt eben noch der typisch englische Humor und die englische Tradition des well made play hinzu.

Regisseur David Bösch inszeniert das Stück mit viel understatement und mit dem berechtigten Glauben an die Authentizität der Figuren und an die Zielsicherheit der Dialoge. Auf der flotten Drehbühne (Patrick Bannwart) fahren die Stationen etwa eines halben Jahres an Maria vorüber: die Praxis des Frauenarzts (Thorsten Danner), die Umkleidekabine des Fitness-Studios, das Büro des Pfarrers (Amadeus Köhli), der Supermarkt-Pausenraum des Vaters und das Wohnzimmer (später das Sterbezimmer) der Großmutter. Über allen schwebt die dezent angerissene Aussage des Stückes: die moderne Arbeitswelt im Kapitalismus zerstört die soziale Nähe unter den Menschen. Noch deutlicher wird diese Message vorgeführt, als Maria nach der Geburt ihrer Tochter zu Hause am Computer als zu bezahlende Ansprechperson für Einsame arbeitet (aber kein Sex-Telefon!).

Die Nürnberger Aufführung hat noch zwei Pluspunkte, die nicht unterschlagen werden dürfen: da ist zum einen Katharina Kurschat als Maria, die auf herrliche Weise die Balance zwischen Tragik und trotzigem Optimismus glaubhaft macht und unter ihrer Schwangerschafts-Latzhose ein großes Herz verbirgt. Zum anderen hat Vera Mohrs zu dem Stück ein paar Songs geschrieben, die mit lakonischem Indie-Pop und schön schrägen Texten die Lebenswelt der handelnden Personen und Marias TV-Doku-Sucht illustrieren. Sie erzählen zum Beispiel vom Hafenarbeiter Nummer 1096, von der Selbstbedienung im Supermarkt und von der Dialektik zwischen Mensch und Möwe: „Möwen wollen brüten und ihre Ruhe dabei / Und Menschen eben noch einen Hotelkomplex am Kai“.

Da hat auch Klaus Lage die Lage der Arbeiterklasse in seinem Song „Monopoli“ (1984) nicht besser umschrieben: „Du bist nur die Randfigur in einem schlechten Spiel!“

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-23-24/maria/28-06-2024/1930


Foto: Franz Aumayr
Foto: Franz Aumayr

Franzobels Wolf. Das Mystical (UA) ****

Libretto: Franzobel; Musik: Gerd Hermann Ortler

Regie: Viktoria Schubert

Premiere: 23.05.2024

Salzkammergut Seebühne Wolfgangsee (Österreich)

 

Wenn man sich den steilen Pilgerweg von St. Gilgen auf den Falkenstein hinaufschleppt - vielleicht noch zwecks Sündenerlass mit ein paar Steinen beschwert -, kommt man schwitzend an eine fulminante Aussichtsstelle, wo dereinst der Heilige Wolfgang eine Axt in Richtung Abersee (so hieß der See früher!) geworfen haben soll. Er verband dies mit dem Versprechen, am Ort der Landung eine Kirche bauen zu lassen. Nun hat der Tourismusverband unweit davon eine imposante Seebühne errichten lassen, um darauf zu Ehren des 1100. Geburtstags des See- und Orts-Namenspatrons ein Musical, das als Mystical tituliert wird, aufzuführen.

Den Text hat der unweit vom Wolfgangsee aufgewachsene Schriftsteller Franzobel (vulgo: Franz Stefan Griebl) verfasst. Er verfolgt das Leben des Steppen-Wolferls als eine Mischung aus Heiligen-Epos und Dekonstruktion der Legende („Ich will kein Held, kein Heiliger sein“). Das Stationen-Drama lebt vom Kontrast zwischen dem gläubigen, aber auch suchenden, zweifelnden Gut-Menschen und den Einflüsterungen des Teufels, also einer frühmittelalterlichen Variation des Faust-Motivs. So steht es auch auf einer Bildtafel am Falkenstein: „Den heiligen Wolfgang zu vernichten, schüttelt der Teufel Felswände / Doch betend verwehrt er den Sturz durch seine Hände.“

In szenischen Rückblicken beleuchtet das Seh-Stück Wolfgangs Weg vom schwäbischen Kaff Pfullingen zur Domschule am Bodensee, vom Ausflug nach Rom, das als red light district und Sündenpfuhl charakterisiert wird, zum Bischofsamt in Regensburg. Dort entzieht sich Wolfgang den Ränkespielen zwischen geistlicher und weltlicher Macht, er flüchtet in die Eremiten-Kartause im Salzkammergut. Doch bald entscheidet er sich wieder zu einer spektakulären Metamorphose und verwandelt sich in St. Wolfgang Superstar, der wie Elvis in Las Vegas seine Fan-Gemeinde mit einem Kirchen-Bau befriedigt. Dazu braucht es allerdings einen Deal mit dem Teufel, der schon in seinem ersten Song programmatisch vorgetragen hat: „Ich will eure Seelen!“

Foto: Franz Aumayr
Foto: Franz Aumayr

In den Hauptrollen überzeugen Konstantin Zander als Wolfgang, der alle Formen der Liebe (zu Frauen, zu Männern und zu Gott) ausprobiert und Kaj Lucke, der den Teufel als zynischen Black Rider mit Gothic-Outfit und Meat-Loaf-Röhre interpretiert. Am Ende ergeht es ihm aber wie Goethes Mephisto: durch einen bloßen Zufall geht ihm die Seele Wolfgangs flöten. Für relativierende Kommentare aus der Perspektive der Gegenwart sorgen die drei weisen Frauen: kostümiert wie Mode-Püppchen der 50er Jahre, gesanglich wie die Andrew-Sisters und inhaltlich zwischen Sarkasmus und Belanglosigkeit pendelnd.

Eduard Neversal hat die puristische See-Bühne mit einem Fassungsvermögen für 800 Zuschauer im Sinne der Nachhaltigkeit konstruiert: abbaubar und wiederverwendbar. Sie lebt letztlich von dem echten Wolfgangsee als Infinity-Pool im Hintergrund, der am Premierenabend sturm- und regenfrei bleibt. Von Jerôme Knols stammen äußerst originelle Choreografien, sei es eine Thera-Band-Gymnastik von Aussätzigen, ein Schwertkampf-Ballett beim Krieg gegen die Ungarn ein weißbetuchter Modul-Baukasten der Kirche oder ein Engelschor auf der Musik-Empore. Dort sitzt auch - leicht verborgen - die 18-köpfige Band unter der Leitung von Christoph Huber, die Gerd Hermann Ortlers Kompositionen mit knackigem Sound abspielt. Stilistisch eröffnet sich eine unterhaltsame Bandbreite von anrührenden Musical-Balladen und konzertantem Pomp-Rock.

Man sieht also erfreut, dass die Verantwortlichen kein rein touristisches Kultur-Programm abgeliefert haben, sondern das Publikum immer wieder mit bösen Brechungen auf die Probe stellen. Felix Austria: du hast mit dem „Watzmann“ ein legendäres Rustical, mit dem Salzburger „Jedermann“ ein sang- und klangloses Klerikal und nun auch mit dem Wolf am Wolfgangsee ein sehenswertes Mystical. Die zehn Abende zwischen dem 23. Mai und dem 22. Juni sind jedenfalls schon weitgehend ausverkauft.

 

https://www.wolfmystical.at/

https://www.nachtkritik.de/nachtkritiken/oesterreich/salzburg-region/ried/musiktheater-wolfgangsee/wolf-musiktheater-wolfgangsee-ein-historisches-musical-von-franzobel-auf-der-atmosphaerischen-freilichtbuehne


Foto: Thomas Langer
Foto: Thomas Langer

Die Guten ***

von Rebekka Kricheldorf

Regie: Anna Tenti

Premiere: 2.5.2024

Stadttheater Fürth (Kulturforum Fürth, Große Halle)

 

Es ist fast wie bei einem Klassentreffen: alle zehn Jahre versammeln sich die vier Kardinaltugenden der Antike und bereden die Lage der Dinge, besonders wie es denn um den guten Menschen (nicht nur von Sezuan) steht. Das ist die Grundstruktur des Theaterstückes von Rebekka Kricheldorf mit dem Titel „Die Guten“, das 2022 in Heidelberg uraufgeführt wurde und nun in einer Eigenproduktion des Theaters Fürth im Kulturforum Schlachthof präsentiert wird.

Das Adjektiv „gut“ hat tendenziell eine unwissenschaftliche Konnotation, wird neuerdings in der Politik aber gerne als Euphemismus gebraucht - man denke an das Gute-Kita-Gesetz. In der Nachbarstadt Nürnberg (und nicht nur dort!) gibt es sogar eine Wählergemeinschaft „Die Guten“, die einen Sitz im Stadtrat erobert hat. Originalzitat: „Bis heute leben wir sehr gut ohne Programm. Wer genug gute Ideen hat und selber denken kann, muss sich nicht an einem Programm festhalten.“ Und dann gibt es noch das böse Wort vom „Gutmenschen“, das 2015 zum Unwort des Jahres gekrönt wurde. Die Jury formulierte damals: „Mit dem Ausdruck Gutmensch wird das ethische Ideal des guten Menschen in hämischer Weise aufgegriffen, um Andersdenkende pauschal und ohne Ansehung ihrer Argumente zu diffamieren und als naiv abzuqualifizieren.“

All diese Aspekte hat Rebekka Kricheldorf durch die Theater-Maschine gedreht, herausgekommen ist - ähnlich ihrem Frühwerk „Homo Empathicus“ (2014) - ein launiger und intellektuell fordernder Einakter, der den Zuschauer manchmal in eine etwa zähe Warteschleife versetzt. Die Fürther Inszenierung von Anna Tenti versammelt die vier Tugenden Gerechtigkeit, Mäßigung, Weisheit und Tapferkeit an einem variablen schmucklosen Bühnen-Mobiliar, das wahlweise als Sprech-Podium, als Krabbel-Kiste oder als Konferenztisch genutzt werden kann (Bühne: Natalie Krautkrämer), im Sinne der Mäßigung gibt’s nur Weißweinschorle, Äpfel, Trauben und Salzletten. Anfangs herrscht noch freudiger Optimismus, denn nach schlechten Jahren scheint nun wieder eine Tugenddämmerung sichtbar zu werden. Die Menschen essen keine Avocados mehr, schämen sich beim Wurstaufstrich, nutzen weniger das Flugzeug, brauchen nur noch ein tiny house und spenden für Geflüchtete.

Doch bald setzt bei den Tugendwächtern Ernüchterung ein: Iustitia (Sunna Hettinger) hält ihre Existenz nur noch mit Anti-Depressiva aus, wenn sie beobachtet, was in ihrem Namen geschieht und wie schwer sich eigentlich Gerechtigkeit definieren lässt. Fortitudo (Boris Keil) ergeht sich in blutrünstigen Zweikampf-Fantasien, wenn er die Kollegen wie in einem Trainingslager auf die kommende Auseinandersetzung Tugend vs. Laster vorbereitet. Auch Temperantia (Hannah Candolini) kriegt gegen Ende die Krise, stopft sich mit Süßigkeiten voll und will einfach mal schwach sein dürfen. Einzig die nerdige Prudentia (Daniel Warland) bleibt cool und richtet den Realo-Blick auf die Menschheit: „Wir wollen uns auf das Machbare konzentrieren“.

Es gibt noch einen mantra-artigen Hu-Hu-Hu-Humanitas-Gospel, eine Imagekampagne für Demut wird geplant, bis schließlich das frustrierte Schluss-Fazit zur Sprache kommt (hoffentlich nicht als Text-Baustein für den Kritiker!). Man habe 100 Minuten zusammengesessen und unstrukturiert gequatscht, als Conclusio und als Message sei wieder mal nur herausgekommen, dass alles so beschissen wie immer ist. Ernüchtert geht damit eine knallige Bühnen-Show als Mischung aus Gesellschafts-Satire und gymnasialem Grundkurs Ethik zu Ende, das spielfreudige und aufgedrehte Tugend-Quartett verabschiedet sich in den Philosophen-Himmel und lässt ein amüsiertes, manchmal aber auch etwas überfordertes Publikum im Schlachthof-Amphitheater zurück.

 

https://www.nachtkritik.de/nachtkritiken/deutschland/bayern/fuerth/stadttheater-fuerth/die-guten-stadttheater-fuerth-anna-tenti-inszeniert-das-stueck-von-rebekka-kricheldorf

https://www.stadttheater.de/programm/kalender/stueck/dieguten2324


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Romeo und Julia nach William Shakespeare ****

Text: Joanna Praml und Dorle Trachternach

Regie: Joanna Praml

Premiere: 13.4.2024

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

 

Schon mehrfach hat Joanna Praml ihre Methode der „Klassikerüberschreibung“ an deutschen Theatern erprobt. 2013 wurde zum Beispiel unter ihrer Leitung im Berliner Theater an der Parkaue „Romeo und Julia“ - sehr frei nach William Shakespeare - von ambitionierten Jugendlichen filetiert - und wenig später zum Berliner Theatertreffen der Jugend eingeladen. Neun Jahre später hat sie am Düsseldorfer Schauspielhaus sieben junge Laien und fünf Profis in ein „Making-Of-Shakespeare“-Format gepackt, in dem bühnenwirksam und spielerisch diskutiert wurde, wie man heute Stücke des britischen Dramatikers präsentieren sollte. Nun also - als Uraufführung - eine weitere Überschreibung zu „Romeo und Julia“, die ebenso das Label „Überredung“ tragen könnte: Reden wir einfach mal darüber!

Es treffen sich auf der großen Bühne dreizehn von der Dramaturgie (Sabrina Bohl) gecastete Jugendliche aus Nürnberg und Umgebung mit dem erfahrenen Kammerschauspieler Pius Maria Cüppers, der am Staatstheater schon in mehreren Shakespeare-Rollen zu sehen war - etwa auch als Franziskanermönch Bruder Lorenzo. Der Anspruch ist von der ersten Minute an klar ersichtlich: das hier soll kein amateurhaftes Schülertheater werden, hier wird mit Bühnentechnik, Video, Sound (Hajo Wiesemann) und Licht (Günther Schweikart) geklotzt, hier wollen junge Menschen im Alter von 16 bis 23 Jahren mit sehr unterschiedlichen ethnischen und sozialen Hintergründen die berühmteste Liebes-Tragödie, die vor über 400 Jahren entstanden ist, auf ihre Gegenwarts-Tauglichkeit testen. Geführt werden sie dabei von Joanna Praml, die zusammen mit Dorle Trachternach zentrale Text-Bausteine für die Probenarbeit vorgegeben hat. Der Rest ist work in progress, bei dem später jeder noch ein bisschen seine eigene Biografie und seine eigenen Emotionen einbringen kann.

So entsteht eine turbulente Mischung aus den bekannten Handlungs-Höhepunkten, aus der Text-Befragung im Stuhl-Sitzkreis und aus einzelnen, manchmal verwirrenden Rollen-Dissonanzen. Gleich am Anfang diskutiert die Gruppe - schön aufgeteilt in historisch kostümierte Jung-Veroneser und Schlabber-Look tragende Generation-Z-Hedonisten (Kostüme: Claudia Kalinski) - über die Alternativen Happy End oder fünf Todesfälle, „Give peace a chance“ oder ausweglose Tragödie. Mit chorischem Sprechen artikulieren die Akteure ihre Grundfragen: Muss die Jugend (also die 14jährige Julia und der 16jährige Romeo) sterben, damit die Gesellschaft (also die verfeindeten Häuser Montague und Capulet) umdenkt? Wäre eine Überwindung der gespaltenen Gesellschaft das Ende aller Welt-Tragödien?

Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Es geht aber auch um das Phänomen der Liebe auf den ersten Blick, das erst in Zweier-Aufstellungen, dann unter einem großen Zelt-Tuch erprobt wird - mit durchaus unterschiedlichen Ergebnissen. Beim Maskenball, der hier eine drogenlastige Techno-Party ist, fällt plötzlich der altmodische Satz: „Ich war noch nie in meinem Leben so verliebt.“

Realität schlägt Utopie, daran ist auch Pius Marias Cüppers. der einzige Profi auf der Bühne, mitschuldig. Am Anfang spielt er den beleidigten Premieren-Besucher der seinen traditionellen Shakespeare sehen will, dann mischt er sich als Fürst, DJ, Pater Lorenzo und auch als Zauberer ins Getümmel. Es gibt noch ein bisschen Einstürzende Balkone in Verona, Klimakleber, die mechanische Tacker verwenden und ein sich zum Choral aufbäumendes „Something“ von den Beatles. Am Ende können sich alle auf den Kompromiss einigen, dass es kein Ende gibt, dass es sich lohnt weiterzumachen, dass uns auch ein Magier nicht weiterhelfen wird und dass es manchmal ganz erfrischend ist, im Regen zu stehen - trotz der Warnung von Bob Dylan: „A hard rain is gonna fall“.

Eine Einzelkritik des Ensembles verbietet sich, alle agieren mit großer Körperlichkeit, mit tapferer stimmlicher Präsenz, mit ein bisschen Selbstironie und mit einer ganz großen Theater-Leidenschaft. Eine Ausnahme machen wir bei der 11jährigen Frida Bohl, die mit erfrischender Selbstsicherheit für eine weitere Perspektive sorgt: sie kann noch nicht über Liebe mitreden, aber sie weiß schon, dass hier ihre Zukunft verhandelt wird, eine Zukunft, die ein Großteil der Zuschauer nicht mehr erleben wird.

Natürlich dürfte der eine oder andere langjährige Premieren-Besucher darüber mäkeln, dass man ihm für sein Geld Theater von Amateuren vorführt. Dennoch hat ein solches Projekt seine Berechtigung, weil sich damit eine Öffnung in die kulturferne Stadt-Gesellschaft denken lässt und möglicherweise nachhaltig neue Besuchergruppen angelockt werden. So viel Beifall und standing ovations gab es jedenfalls bei den bisherigen Premieren dieser Spielzeit noch nicht!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-23-24/romeo-und-julia/13-04-2024/1930

https://www.nachtkritik.de/nachtkritiken/deutschland/bayern/nuernberg/staatstheater-nuernberg/romeo-und-julia-staatstheater-nuernberg


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Friedrich Schiller: Wallenstein ****

Regie: Jan Philipp Gloger

Premiere: 26.1.2024 / besuchte Vorstellung: 23.3.2024

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

 

In den Zeiten der zunehmenden Kriege mag es von Interesse sein, sich mit einem lange zurückliegenden Waffengang zu beschäftigen: der promovierte Historiker Friedrich Schiller hat das im Falle des Dreißigjährigen Kriegs (1618 - 1648) schon seit 1790 gemacht, herausgekommen ist eine geschichtliche Abhandlung und ein Theaterstück, in dem der frühere Sturm-und-Drang-Idealismus nur noch in der erfundenen Figur des Max Piccolomini durchschimmert. Ansonsten ist „Wallenstein“ (uraufgeführt in Weimar im dreiteiligen Jahresrhythmus von 1798 bis 1800) etwas, was wir heute Doku-Fiction nennen würden - mit einem klaren Akzent auf die dramatische Charakterisierung der handelnden Figuren. Nun wagt sich der Nürnberger Schauspieldirektor Gloger nach seiner erfolgreichen Don-Carlos-Inszenierung im Vorjahr an die Aufführung dieses widerspenstigen Textbrockens.

Dabei verzichtet er auf jeglichen Firlefanz, er steckt die Akteure in leicht historisierende Kostüme (Annelies Vanlaere) und stellt sie auf eine äußerst karge, nur schwach beleuchtete Bühne (Franziska Bornkamm). Er vertraut damit auf die Kraft der Dialoge und auf die Zur-Schau-Stellung der individuellen Gewissensnöte - und das Ensemble erfüllt diesen Anspruch.

An erster Stelle ist Tjark Bernau als Wallenstein zu nennen, der irgendwo zwischen kaltem Kriegsmanager und utilitaristischem Friedensfreund zu verorten ist. Ob man sich dabei an den Wagner-Söldner Prigoschin oder an den Hitler-Attentäter Stauffenberg erinnern soll, bleibt im Auge des Betrachters. Bernau zeichnet die ambivalente Figur mit bemerkenswerter Präsenz, lässt aber auch die Betriebsblindheit des erfolgsverwöhnten Feldherrn erahnen. Sein Gegenspieler ist Octavio Piccolomini, den Janning Kahnert mit großer sprachlicher Präzision belebt. Er ist der intellektuell überlegene Strippenzieher, der im Auftrag des Kaisers den übermächtig gewordenen Wallenstein aus dem Rennen wirft. Vervollständigt wird dieses schauspielerische Elite-Trio durch einen Neuzugang in Nürnberg: Luca Rosendahl ist mit ganzem Herzen der idealistische Stürmer, geprägt von Liebesdrang und Loyalität, der aber von seinem Mentor in bekannten Worten eingebremst wird: „Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort, / Das schwer sich handhabt, wie des Messers Schneide, / Aus ihrem heißen Kopfe nimmt sie keck / Der Dinge Maß, die nur sich selber richten“.

Das Militaria-Umfeld repräsentieren vor allem Sascha Tuxhorn als Buttler, Nicolas Frederick Djuren als Illo und Thorsten Danner als Isolani. Sie werfen auch mal mit zinnernen Trinkbechern oder schwarzen Stapelstühlen um sich und sind willfährige Knetmasse im Spiel der kaiserlichen Intrigen.

Nach der Pause senkt sich vom Bühnenhimmel eine große Betonplatte auf die handelnden Personen, die kurz vor Wallensteins Tod nur noch gebückt agieren können. Doch auch der aufrecht oben stehende Octavio Piccolomini ist kein Sieger, denn - und damit zurück zur Aktualität - der Krieg kennt keine Gewinner. Verlierer sind dagegen immer die Freiheit und die Brüderlichkeit!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-23-24/wallenstein/26-01-2024/1900


Foto: Fersterer
Foto: Fersterer

Parzival (nach Wolfram von Eschenbach) ***

Textfassung: Kieran Joel, Fabian Schmidtlein

Regie: Kieran Joel

Premiere: 21.3.2024

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

 

Gahmuret hat keinen Bock mehr: das ewige ritterliche Kampfgehabe ödet ihn an, die Rolle als tapferer Held hat er abgespielt, das Klirren der Schwerter bei Turnieren verursacht ihm Tinnitus. Deshalb will er als alleinerziehender Vater (!) seinen Sohn Parzival aus dieser ritualisierten, höfisch-heroischen Welt heraushalten und ihn lieber im Wald zu einem friedfertigen Normalbürger aufziehen. So lautet das Anfangs-Konstrukt - mit der gestrichenen Mutter Herzeloyde -, das sich Regisseur Kieran Joel und Dramaturg Fabian Schmidtlein für den Nürnberger Schauspiel-Parzival ausgedacht haben. Denn am Staatstheater wird die mittelalterliche Helden-Figur aus dem Versepos von Wolfram von Eschenbach gleich mit einem Doppel-Wumms präsentiert: am 31. März kommt im Opernhaus auch noch Wagners „Parsifal“ in einer Inszenierung von David Hermann auf die Bühne.

Der sang- und klanglose Parzival (Nicolas Frederick Djuren in einer fesselnden Hauptrolle) folgt aber nicht den Sozialisations-Geboten seines Vaters. Urplötzlich fällt ihm aus dem Bühnenhimmel eine Plastik-Ritterfigur vor die Füße, die ihn ahnen lässt, dass es da noch eine andere Welt jenseits der Wald-Wildnis gibt (die „Truman-Show“ lässt grüßen!): „sol mich nâch rîters êren / an schildes ambet kêren“ heißt es im Original. Und so kann Gahmuret (Thomas Nunner) gramgebeugt nicht verhindern, dass sich sein Sohn mit einem roten E-Motorroller und einer roten Narren-Nase auf den Weg macht.

Jetzt wird die Geschichte endgültig zu einer wilden Mischung aus Epos-Dekonstruktion, aktuellen ethischen Reflexionen und selbstreferentieller Theater-Bespiegelung. Parzival muss im Trial-and-error-Verfahren lernen, was Liebe und Mitleid ist (oder sein könnte) und dass die Sehnsucht nach dem Gral so ähnlich ist wie die Sucht nach Konsum im Kapitalismus. Diese mutig weitergedachte Aktualisierung des Stoffes hat Kieran Joel mit einer aufwändigen Video-Produktion (Leon Landsberg) und mit viel szenischer Kreativität bebildert. Die Drehbühne rotiert unermüdlich und auf dem zentralen Spiel-Gerüst leuchtet die knallige Botschaft „You Can Be A Hero“. Hat aber nicht Bertolt Brecht schon dialektisch erkannt, dass das Land am glücklichsten ist, das keine Helden braucht? Am Ende hat Parzival sein Ziel als Gralskönig erreicht und hält bis zur Erschöpfung wie bei einer Fußball-WM im Konfetti-Regen Schwert und Pokal in die Höhe. So weit, so originell.

Dass aber Regisseur Joel sein Ensemble nötigt, ständig neben der bekannten (?) Handlung noch eine Metaebene zu bespielen, wirkt auf Dauer nervig. Denn Stephanie Leue, Sasha Weis, Matthias Luckey und Luca Rosendahl müssen zusätzlich zum intensiven Rollenwechsel immer noch thematisieren, wie sie mit der Situation der Verkörperung einer Nebenrolle zurechtkommen oder wie sie mit der Gefahr gestrichen zu werden umgehen. Auch der Auftritt eines Deutschlehrers im Publikum (Jürgen Held), der sich über die moderne Regie-Konzeption beschwert, ist nicht mehr als ein kleiner, klischeehafter Insider-Gag. Sascha Tuxhorn als kommentierender Wolfram im Off setzt dagegen witzige Akzente und Brechungen. Insgesamt ist die Inszenierung ein schöner und lohnenswerter Versuch der Auseinandersetzung mit einer mittelhoch-deutschen Kultfigur.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-23-24/parzival/21-03-2024/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Caren Jeß: Ave Joost ***

Regie: Branko Janack

Premiere: 14.03.2024

Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)

 

1w + 3m im Alter von 14 bis 44: so lautet die Formel für Caren Jeß’ interaktionsreiches Theaterstück, das als Auftragsarbeit für das Staatstheater Nürnberg geschrieben wurde und nun dort seine Uraufführung in den Kammerspielen fand. Die vier Hauptpersonen („Ordinary People“ steht auf einem Graffiti-Trainingsanzug) repräsentieren einen Ausschnitt aus der postmodernen Krisenwelt der Gegenwart, stammen aus unterschiedlichen sozialen Milieus und haben eines gemeinsam: einen tragischen Knick in ihrer Sozialisation und ein Problem mit der aktuellen Erwerbsgesellschaft.

Der titelgebende und lateinisch gegrüßte Joost (Justus Pfankuch) ist als Ex-Hausmeister eines Gymnasiums gezeichnet von Arbeitslosigkeit und Drogen-Missbrauch, der eigentlich taffe Geschäftsmann Marcus (Amadeus Köhli) - die Autorin bezeichnet ihn als „Kneifzange unter den Pinzetten“ - kann den frühen Tod seiner Tochter nicht verwinden, sein erwachsener Sohn Bastl (Joshua Kliefert) wäre gerne Handball-Profi geworden, verkümmert aber im öffentlichen Dienst. Die drei Männer treffen sich regelmäßig zu ritualisierten (natürlich illegalen) Schießübungen in einer stillgelegten oberbayerischen Molkerei; in der Inszenierung von Branko Janack wird daraus ein verkehrter Tell-Schuss, ein wummerndes Apfel-an-die-Wand-Knallen, ein symbolischer Aggressions-Abbau, der möglicherweise die politisch korrekte Nürnberger Lebensmittel-Polizei auf den Plan rufen könnte.

In diese Welt der weißen Männer-Freundschaft schleicht sich mit weißen Plateau-Sohlen plötzlich die 14jährige Schülerin Malin (Pola Jane O’Mara), die an sogenannten lost places Stories für ihren YouTube-Kanal filmen will. Sie erzählt vor der Web-Kamera fantastische Geschichten von Amalie und Amalia, die leider bislang nur von 27 Followern angeschaut werden. Joost wird sich bald in den Kreis ihrer Bewunderer einreihen. Ihre virtuelle Fantasy-Traumwelt ist aber ein harter Kontrast zu Joosts Industrial-Techno-Sound und dem bierseligen Mia-san-mia-Dröhnland von Vater und Sohn, die fordern, dass Malin (= die Schlaue?) schleunigst wieder aus der Schusslinie verschwindet.

Wiederkehrende Höhepunkte des Stückes sind die Auftritte der kommentierenden Erzählerin Annette Büschelberger, die sich mit Jagdgewehr und Gummistiefeln an den handelnden Personen reibt und ihre Kurzbiografien schön ironisch mitteilt. Die resopal-glatte Molkereiwand hat eher Hafermilch-Ästhetik und ist so gar keine Nachbildung einer abgewrackten Bergbauern-Industrie-Ruine. Sie dient aber trefflich als Projektionsfläche der Video-Sequenzen, die von der Hinterbühne gesendet werden (für Bühne und Video ist Maryvonne Riedelsheimer verantwortlich).

Man erkennt, dass die Autorin keinesfalls in die Tradition des sozialen Dramas von Franz Xaver Kroetz eintauchen wollte, stattdessen erprobt sie eine bildreiche, oftmals verrätselte Assoziations-Dramatik der Fake-Realität, verstrickt sich aber zunehmend in sprachlich verworrenes Flechtwerk mit inhaltlichen Längen. Die Suche nach Glaube, Liebe und Hoffnung rekurriert ein bisschen auf das kritische Volkstheater eines Ödön von Horváth, die Suche nach einem Quantum Trost für Joost endet in dem absurden Bild von umgehängtem Toastbrot und Teebeutel. Am Ende bricht wieder die unschöne Realität in die Szene; mit vier gefährlichen Benzinkanistern und einem echten Gewehrschuss in der Dunkelheit. Kann aus Joost noch etwas werden? Eher nicht!

 

https://www.die-deutsche-buehne.de/kritiken/nuernberg-ave-joost-janack/

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-23-24/ave-joost/14-03-2024/1930


Foto: Nik Schölzel
Foto: Nik Schölzel

Dietrich Garstka: Das schweigende Klassenzimmer ****

Regie: Anna Stiepani

Bearbeitung und Dramaturgie: Barbara Bily

mit: Nils David Bannert, Nils van der Horst, Daria Lik, Isabella Szendzielorz, Eva-Lina Wenners, Georg Zeies

Premiere: 22.2.2024

Mainfranken Theater Würzburg (Probebühne)

Dauer: 1 Stunde und 15 Minuten, keine Pause

 

Am Anfang war das Ereignis: eine Abiturklasse mit fünf Mädchen und 15 Jungen in der ehemaligen DDR, genauer: in der 5000-Einwohner-Stadt Storkow (Mark Brandenburg), entschließt sich Ende Oktober 1956 während des Geschichtsunterrichts zweimal zu demonstrativen Schweigeminuten für den Befreiungskampf der Ungarn gegen die sowjetische Besatzungsmacht. Dietrich Garstka (verstorben 2018) war einer dieser Schüler (und bestimmt ein Mit-Initiator der provokanten Aktion), er hat die ganze Geschichte mit ihren Folgen dokumentiert und 2007 veröffentlicht. Sein quellenreiches Sachbuch trägt den Untertitel „Eine wahre Geschichte über Mut, Zusammenhalt und den Kalten Krieg“.

2017 stieß Regisseur Lars Kraume - bekannt durch zahlreiche „Tatort“-Regiearbeiten und durch die Produktion „Der Staat gegen Fritz Bauer“ - auf den zeitgeschichtlich interessanten Stoff und machte daraus einen Film, der ein Jahr später bei der Berlinale seine Weltpremiere hatte.

Längere Zeit hatte die Dramaturgin Barbara Bily das Projekt schon in der Schublade, nun kommen die Geschehnisse auch noch auf die Bühne - in einer Uraufführung des Mainfranken Theaters Würzburg, unterstützt vom Institut für Deutschland-Forschung der Ruhr-Universität Bochum und von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Bily und Regisseurin Anna Stiepani distanzieren sich allerdings deutlich von der stark ins Fiktionale driftenden Verfilmung und orientieren sich eher an den Traditionen des deutschsprachigen Dokumentartheaters, geprägt von Peter Weiss und Heinar Kipphardt. Das hat zur Folge, dass die Inszenierung an einigen Stellen etwas ins Genre Schulfunk und Bildungsfernsehen abrutscht, dass die Akteure viel mit Erzählerberichten und dem Verlesen von Dokumenten beschäftigt sind. Doch dann überwiegen die Momente der persönlichen Betroffenheit und der Nachdenklichkeit, etwa wenn Georg Zeies als Geschichtslehrer ganze fünf Minuten mit dem schweigenden Publikum konfrontiert ist oder Nils van der Horst als Schüler Dietrich verkündet „Ich geh jetzt weg“.

Foto: Nik Schölzel
Foto: Nik Schölzel

Auf der Probebühne herrscht zunächst sterile Labor-Atmosphäre, die aber bald durch nicht ganz zeittypische Overhead-Projektoren, durch rote Plastikstühle und ein antiquarisches Radiogerät, durch eine Wandkarte und sogar durch eine Tischtennisplatte zum Rundlauf aufgelockert wird (Bühne, Kostüme und Licht von Anna Wörl). Aus dem Lautsprecher kommen nicht nur RIAS-Reportagen mit Originalstimmen von Willy Brandt und Otto Suhr, sondern auch Traumwelt-Schlager der 1950er Jahre wie Freddys „Heimweh“ und „Que sera“ von Doris Day. Die schreibmaschinen-geschriebenen Stasi-Protokolle werden am Ende ganz radikal von vier Laubbläsern durcheinandergewirbelt. Das sechsköpfige Ensemble agiert flexibel mit wechselnden Rollenzuordnungen, immer wieder ordnen sie sich zum Gruppenfoto vor dem Originalfoto der geflüchteten Abiturienten.

Die Dramatik jenes Konflikts war nicht zwangsläufig. Wenn die SED-Regierung in Person des Volksbildungsministers Fritz Lange den Fall nicht zur systemrelevanten Chefsache gemacht hätte, wäre die mutige Aktion womöglich vom damaligen Schuldirektor als unüberlegter Lausbubenstreich abgetan und abgehakt worden. Lange wollte sozialistische Linientreue und Denunziation der Rädelsführer, bekam aber Klassen-Solidarität und entschloss sich ein Exempel zu statuieren: alle Schülerinnen und Schüler sollten vom Abitur ausgeschlossen werden. Das Ergebnis: ein Großteil der Klasse nutzte die damals noch vorhandene offene Grenze und floh nach West-Berlin.

Im hessischen Bensheim an der Bergstraße machten sie leicht verspätet ihr Abitur, BRD-Außenminister von Brentano kam zur Abifeier, in der BILD-Zeitung wurden sie als Helden der Freiheit gefeiert. Zum Glück transportiert die Aufführung jenes Legenden-Gemälde aus der Schwarz-Weiß-Tube nicht unkritisch in die Gegenwart, vielmehr erlebt man ein ziemlich unterhaltsames Lehrstück über Solidarität und Widerstand in einer Diktatur und bekommt eine ganz neue Definition des Begriffs „revolutionäre Klasse“ an den Kopf geworfen.

Dem Stück ist eifriger Besuch durch heutige Schulklassen zu wünschen. Die knapp 80 Minuten (= eine Doppelstunde im Schulfach politische Bildung und Zeitgeschichte) sind eine treffliche Alternative zum lehrerzentrierten Frontalunterricht. Vielleicht können dann in der Nachbesprechung noch ein paar aktuelle Fragen diskutiert werden: Wo liegen die Unterschiede zu den von Greta Thunberg inszenierten Schulstreiks für das Klima, die zur Bewegung „Fridays for Future“ führten? Oder noch direkter: Wird es derzeit an Russlands Schulen auch Schweigeminuten für Alexej Nawalny geben?

 

https://www.mainfrankentheater.de/spielplan/spielplan/2024-02/schauspiel/das-schweigende-klassenzimmer/1860/


Foto: Andreas Etter
Foto: Andreas Etter

Hannah und ihre Schwestern ***

von Woody Allen

Regie: Christian Brey

Premiere am 16.12.2023

Staatstheater Mainz (Kleines Haus)

 

In die Top 5 der besten Woody-Allen-Filme gehört neben „Der Stadtneurotiker“, „Match Point“, „Manhattan“ und „Irrational Man“ für viele auch sein 1986er-Werk „Hannah und ihre Schwestern“. Daraus hat Jürgen Fischer schon in der Mitte der 90er Jahre eine deutsche Bühnenfassung mit 30 Szenen gestrickt, die nun im Kleinen Haus des Staatstheaters Mainz zu sehen ist.

Als Regisseur fungiert Christian Brey, ein erfahrener Woodyologe und gleichzeitig ein anerkannter Experte für Leichtes und Komödiantisches. Bei dieser Produktion erliegt er aber über weite Strecken einem Missverständnis: der skeptischen, ja fast ein bisschen zynischen Sicht Woody Allens auf die conditio humana und seinem notorischen Widerstand gegen die political correctness wird man nicht gerecht, wenn man das Stück als überdrehte, schrille Komödie im Rahmen einer 80er-Jahre-Retro-Disco und Kostümparty abfeiert. Eher würde man sich Momente von Beckettscher Absurdität und Tschechowscher Resignation wünschen.

„Hannah und ihre Schwestern“ war einer der ersten Filme, in dem sich Woody Allen nur eine Nebenrolle zuschrieb und stattdessen drei Frauen in den Mittelpunkt stellte. Hannah (Kruna Savić) ist der prinzipielle Gutmensch, „der so viel gibt und so wenig dafür verlangt“, dessen Hilfsangebote aber oft als fürsorgliche Belagerung verstanden werden. Dagegen überwiegen bei der Schwester Holly (Maike Elena Schmidt) die Minderwertigkeitskomplexe: von Kokain-Episoden gezeichnet bleibt sie als Schauspielerin erfolglos, ist als Catering-Unternehmerin unzufrieden und bei Männern meist nur zweite Wahl. Schwester Lee (Lisa Eder) hat sich zeitweise in die kulturelle Erziehungs-Diktatur des Malers Frederick (Klaus Köhler) geflüchtet, kommt aber mit seiner elitären Misanthropie immer weniger zurecht.

Um dieses an Tschechows „Drei Schwestern“ konstruierte Trio (man beachte den Namen „Stanislawski“ für Hollys Projekt eines Catering-Service!) schwirren wiederum drei Männer: neben jenem Frederick noch Hannahs Ehemann Elliott (Vincent Doddema), der sich triebgesteuert an Lee ranmacht, dann aber reumütig zur Ehefrau zurückkehrt, und Hannahs Ex-Mann Mickey (Henner Momann als Woody-Allen-Wiedergänger mit passendem braunen Cord-Anzug), der fürs Fernsehen Comedy-Shows produziert, beim Kinderkriegen und bei Arztbesuchen aber nichts zu lachen hat und zunehmend in eine grundsätzliche Lebenskrise hineinrutscht.

So ist mit dieser komplizierten Familien-Aufstellung der Kosmos der frühen Allen-Welt in allen Facetten aufgeboten: es geht um schwierige heterosexuelle Beziehungen, um religiöse Sinnsuche und um die Alltagsprobleme der mehr oder weniger gebildeten New Yorker Oberschicht - von A wie Alkohol über H wie Hypochondrie oder Hare Krishna bis T wie Thanksgiving-Rituale.

Die vielfältigen Bezüge einiger Filmpersonen zur Bühne und Woody Allens Ironie-gesättigte Dialog-Akrobatik machen das Drehbuch (für das es seinerzeit einen voll berechtigten Oscar gab) tatsächlich theatertauglich. Norma und Evan, die Eltern der drei Schwestern (Iris Atzwanger und Martin Herrmann), die an dem Abend ein paar berührende Gesangs-Einlagen hinlegen, waren beide bekannte Schauspieler, Hannah selber hat neben ihrer Rolle als Ehe-, Hausfrau und Mutter immer wieder punktuelle Theater-Einsätze (als „Nora“ oder als „Desdemona“ - wie passend!). Holly schafft nach mehreren vergeigten Castings am Broadway immerhin ein TV-Drama-Script, das Mickey als „großartig“ und „einfach toll“ einstuft.

Ein auf den ersten Blick etwas biederes Bühnenbild (von Anette Hachmann und Elisa Limberg), über dem drei Styropor-Wolken schweben, schafft es immerhin die zahlreichen Schauplätze des Originals temporeich in Szene zu setzen: eine Drehtür rotiert, zwei Türen und ein Fenster öffnen sich in den richtigen Momenten und transportieren so das Geschehen von den Dinner-Partys in der Wohnung von Hannah und Elliott, zu Fredericks Loft, zu einem Fernsehstudio, in die Sprechzimmer von Ärzten und Psychotherapeuten, in eine Loge der Metropolitan Opera, in ein Hotelzimmer, einen Hard-Rock-Club und in den legendären New Yorker Jazz-Club Carlyle.

Der unterlegte Soundtrack der 80er Jahre, mit dem Woody Allen sicher nicht viel anfangen könnte, illustriert einen Nebenaspekt des Stückes: „Love Is A Battlefield“. Die eingeblendeten Video-Sequenzen (Christoph Schödel) verschwimmen auf den Konturen der Kulissen. Stimmiger erscheinen da schon die eingebauten Choreographien eines Jogging-Rundlaufs im Central Park, einer Hare-Krishna-Tanzeinlage und einer Verliebtheits-Pantomime zu dem Song „Only You“.

Am Ende finden sich die alten und neuen Paare wieder zur Truthahn-Party, es gibt es lebhaften Beifall vom Publikum. Doch man weiß0 nicht so recht, ob man nun bei "Sex and the City" oder bei "Mainz bleibt Mainz wie es singt und lacht" war.

 

https://www.staatstheater-mainz.com/web/veranstaltungen/schauspiel-23-24/hannah-und-ihre-schwestern


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Dieses Stück geht schief ***

von Jonathan Sayers, Henry Shields und Henry Lewis

Regie: Christian Brey

Premiere am 28.10.2023 (besuchte Vorstellung: am 26.11.2023)

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

 

Es ist der nackte Wahnsinn, obwohl skurril-englisch angezogen: am Nürnberger Staatstheater präsentiert eine sehr ambitionierte, sehr bemühte Laienspielgruppe die Aufführung ihres Krimis „Mord auf Schloss Haversham“. Der heimliche Chef dieser Produktion scheint aber Edward Aloysius Murphy zu sein, der einst das nach ihm benamte Gesetz verkündete: Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen!

Und so beginnt der Abend schon mit der Einladung eines Zuschauers auf die Bühne, der bei der Montage eines Wandsimses helfen soll, und mit einer Suche nach dem Hund Winston, der sich möglicherweise in den Stuhlreihen des ausverkauften Schauspielhauses versteckt hat. Tontechniker Trevor (Pius Maria Cüppers) erwähnt noch, dass er seine Duran-Duran-CDs irgendwo verlegt habe. Es folgt die euphorische Ansage des Theaterdirektors (Luca Rosendahl), der verkündet, man habe endlich ein Stück gefunden, das genau zum Personal der Bühnen-Kompanie passe.

Nach diesen Intro-Gags geht es zur Sache - und wie! In den folgenden zwei Stunden wird ein traditioneller englischer Krimi mit etwa drei (vermeintlichen) Leichen und den unvermeidlichen Zutaten vom Adel über den Butler und den Scotland-Yard-Inspektor bis zum Gärtner abgespult. Viel wichtiger ist aber die Pannen-Serie und das Slapstick-Feuerwerk, das die Aufführung systematisch ins Chaos abdriften lässt. Bilder fallen von der Wand, Sideboards sind fehlerhaft montiert, Accessoires sind nicht am richtigen Platz, SchauspielerInnen fallen in Ohnmacht, statt Cognac wird Spiritus serviert und ein Wohnungs-Aufzug fängt zu qualmen an. Am Ende gerät das ganze Bühnenbild (Annette Hachmann) in eine dramatische Schieflage und einige Kulissen knallen zu Boden. Das hat allerdings nicht mehr den feinen Humor von Loriot-Sketchen sondern ist schon eher eine moderne Form von Brachial-Komik, die noch durch das penetrante Geschrei der Akteure verstärkt wird.

Die Schauspieler beweisen allerdings hohe physische Präsenz, sie müssen mit absurden Verrenkungen und artistischen Fensterstürzen die Fehlerketten ausgleichen. Schöne Running Gags kommen vom Butler Perkins (Thorsten Danner), der wie sein Arbeitskollege James („Dinner For One“) durch die Szene stolpert und einmal eine fünfminütige Textschleife produziert. Regisseur Christian Brey (in Nürnberg mittlerweile der Mann fürs Grob-Komödiantische) hat dem Stück ein präzises Timing verpasst: es klappert immer in dem Moment, wenn etwas nicht klappt!

Dass man sich mit dieser Komödie vom englischen Erfolgstrio Sayer, Shields & Lewis manchen Produktionen der nahegelegenen Fürther Comödie nähert, scheint niemanden zu stören: das Publikum lacht enthusiastisch und feiert am Ende das Ensemble. Alle Zutaten für einen Quotenrenner sind vorhanden!

 

https://fundus.staatstheater-nuernberg.de/detail/im-detail-dieses-stueck-geht-schief


Foto: Konrad Fersterer / Staatstheater Nürnberg
Foto: Konrad Fersterer / Staatstheater Nürnberg

ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM *****

 von Werner Schwab

Regie: Rieke Süßkow

Premiere am 6.10.2023

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

 

Der eine oder andere kennt vielleicht aus eigenem Erleben jene gastronomischen Absturz-Zentren, jene „Fundbüros“, in denen sich - nach einem Zitat von André Heller - die Verlorenen selber abgeben. So eine Kneipe ist der Schauplatz von Werner Schwabs Sozialdrama mit verrätseltem Titel, das 1991 in Wien uraufgeführt und nun zum Saison-Auftakt des Nürnberger Staatstheaters von Rieke Süßkow höchst originell in Szene gesetzt wurde.

Sie gehört zu den aktuellen Shootingstars im Regiefach und wurde vor kurzem zur Nachwuchsregisseurin des Jahres 2022 gekürt. Auch ihre Österreich-Prüfung hat sie mit Bravour absolviert: Am Wiener Burgtheater war sie verantwortlich für die Uraufführung von Peter Handkes „Zwiegespräch“ und wurde mit dieser Produktion zu den Berliner Theatertagen 2023 eingeladen.

Der Autor Werner Schwab (1958 - 1994) - nach Peter Handke und Wolfgang Bauer das letzte Glied einer literarischen Dreierkette des Vereins Sturm (und Drang) Graz - stellt wohl jede Inszenierung vor grundsätzliche Probleme. Im Gegensatz zum frühen Handke ist sein Anliegen nicht die Beschimpfung des Theaterpublikums, er wirft den zivilisierten Zuschauern unkommentiert „Fäkalien“ aus einem unbekannten (oder verdrängten) Alltag vor die Füße.

Regisseurin Süßkow wagt in Nürnberg eine mutige, aber vollkommen erfolgreiche (nicht nur kosmetische) Operation am Text von Werner Schwab. Sie stellt die neun Personen in Reihe auf wie in einer Oktoberfest-Kirmesbude der Extremitäten und lässt sie nach einer strengen Choreografie als präzise Marionetten eines Figurentheaters agieren. Die Schauspieler:innen stecken in fleischfarbenen Ganzkörpermasken mit vorgeschnallten Plastik-Körperteilen - zwangsläufig auch primären Geschlechtsorganen - (Kostüme: Sabrina Bosshard) und bewegen sich mechanisch zu einer stimmigen Geräuschkulisse (Sounds: Philipp C. Mayer). Man hört Schmatzen, Knirschen, Schläge, dazu die Sounds eines Flipper-Automaten und natürlich Schlagerfetzen aus der Musikbox. Gefasst wird die Szenerie von einem beweglichen, breit-wulstigen Bilderrahmen, der unterschiedliche Bereiche der Bühne freigibt (Mirjam Stängl). Da die Interaktion der sieben Kneipen-Stammgäste immer wieder an Aggression und Sexualität orientiert ist, kommt es zu vereinzelten Schlagabtäuschen, die aber vom verdeckten Trampolin aufgefangen werden: Das Prekariat als Stehaufmännchen und -frauchen!

In diesem stilisierten Ambiente erhalten die Monologe und Dialoge eine neue Qualität. Der oft sinnfreie Trash-Talk, das alkoholisierte Philosophieren und die gegenseitigen Beleidigungen von Jürgen, Schweindi, Hasi, Karli, Herta, Fotzi und der Wirtin transportieren jene typische Schwab-Sprache, vom Autor selbst als „unreiner Dreck“ bezeichnet, der Klarheit besorgt, aber keine Einsicht. Insgesamt erinnert das Schwab-isch an die Sprach-Kritik eines Ödön von Horvath, der in vielen seiner Stücke den entleerten Bildungsjargon, die Spießer-Mentalität und die Dummheit des Kleinbürgertums karikierte.

Foto: Konrad Fersterer /Staatstheater Nürnberg
Foto: Konrad Fersterer /Staatstheater Nürnberg

Doch es geht dem Stück nicht nur um einen Blick auf kaputte Existenzen, als Gegenspieler tritt noch das schöne Paar auf: „die da oben“ sind attraktiv, geschmackvoll gestylt, auf sich selbst bezogen. Als Karli die unbekannten Wirtshaus-Nachbarn auf einen Obstler einlädt, löst die Ablehnung Aggressionen aus („niederträchtige Menschen“, „Kriegsverbrecher“). Es kommt zum Eklat mit Ohrfeigen, Zu-Boden-Reißen und ansatzweiser Vergewaltigung. Diesen kannibalistischen Rückfall aus der Zivilisation zeigt die Inszenierung verfremdet als zeitlupenhaftes Abendmahl untermalt von Countertenor-Gesängen (Matthias Luckey).

Schließlich setzt die „Handlung“ mit wiederholter Einleitung zu einem neuen Schluss an: das wiederbelebte Paar amüsiert sich über die Stammgäste als primitive, einfache Menschen, sieht das Ganze als eine Art Theater, als eine Darstellung des waschechten Volkes, zu dem man ein berührendes Drehbuch schreiben könnte. So wird das Stück zu einer Studie über Voyeurismus, die auch die Zuschauer im Theater quasi als Besucher eines Gesellschafts-Zoos miteinbezieht: „Schauen wir uns mal dieses Prekariat genauer an!“ Ein ähnlicher Effekt wird erzielt, wenn man den Roman „Der goldene Handschuh“ von Heinz Strunk liest und auf diesem Weg das Personal der legendären Hamburger Kneipe kennenlernt.

Insgesamt feiern die Zuschauer ein punktgenaues Gesamtkunstwerk mit Bildern, die einem so schnell nicht mehr aus dem Kopf gehen. Eine Einzel-Bewertung des Ensembles (in dem sich einige Neuzugänge für das Nürnberger Staatstheater verbargen) verbietet sich, es genügt zu sagen: sie haben als Kollektiv einwandfrei funktioniert. Und die Warnung des Staatstheaters („geeignet ab 18 Jahren“) ist eigentlich überflüssig: die Auseinandersetzung mit solch einer stilisierten Vulgarität kann einem Jugendlichen nicht schaden.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-23-24/uebergewicht-unwichtig-unform/14-10-2023/1930


Foto: Marie Liebig
Foto: Marie Liebig

Nach dem Essen ****

von Simone Kucher

Regie: Gustav Rueb

Theater Regensburg (Studiobühne Haidplatz)

Premiere: 30.09.2023

 

Missionarischer Veganismus vs. Fleischkonsum. Aktionen von Fridays for future und den Klimaklebern der „letzten“ Generation vs. Wachstumsglauben der Wirtschaftswunder-Generation: Diese Debatten beherrschen seit einigen Jahren den gesellschaftliche Diskurs - und sind eine perfekte Steilvorlage für den Hörspiel- und Bühnentext von Simone Kucher, der nun am zum Spielzeitauftakt am Theater Regensburg uraufgeführt wurde.

„Nach dem Essen sollst du ruh‘n oder 1000 Schritte tun“ sagte schon ein lateinisches Sprichwort. Doch für den 14jährigen Jonas, der in Regensburg von dem mit gleichem Vornamen ausgestatteten Jonas Julian Niemann gespielt wird, hat die Präposition „nach“ eine ganz andere Bedeutung. Er tritt nämlich nach einem Angelerlebnis mit einem Fisch an der Ostsee in einen Hunger- und Kommunikationsstreik und wird so zu einem provokativen Fragezeichen für seine ganze Familie. Sein Schweigen wirkt auf die anderen (und auch auf das Publikum) wie ein reflexiver Rück-Spiegel: Was sollen wir machen?

Simone Kucher hat diesen Drei-Generationen-Konflikt zunächst 2020 als Hörspiel für den WDR geschrieben und nun für die Bühnen-Uraufführung am Theater Regensburg komplett überarbeitet. Wie reagiert die Schwester, wie reagieren die Eltern und die Großmutter auf die trotzige Verweigerung? Während der Vater (Michael Haake) den Sohn als beleidigte Leberwurst einordnet und von eigenen rebellischen Jugenderlebnissen in der Anti-Atom-Bewegung fabuliert, flüchtet die Mutter (Kathrin Berg) eher in eine „Maria-ihm-schmeckts-nicht “-Ausrede. Die gebeugte Großmutter (Max Roenneberg) versucht es mit Fütterung von Knödeln und mit dem Verweis auf eigene existentielle Erlebnisse nach dem Zweiten Weltkrieg. Schwester Billie (Anna Kiesewetter) lanciert dagegen den Bruder zum Instagram-Star und produziert launige TikTok-Videos. Sie löst damit eine World-Wide-Follower-Bewegung unter dem Hashtag #wearehungry aus, die am Ende jedoch aus dem Ruder läuft. Gleichzeitig alarmiert der Familienstreit einen sensationsgeilen Reporter (ebenfalls: Max Roenneberg), der bei Jonas „etwas Großes“ wittert.

Soweit die durchaus aktuelle Problemsituation, die aber noch durch einige spannende Assoziationsebenen unterfüttert wird: Jonas erinnert an den biblischen Jona, der im Bauch eines Wals überlebte und dann der Stadt Ninive den Untergang voraussagte. Im Gegensatz zu heute glaubten dem Propheten die Menschen (etwa 120 000 sollen damals dort gelebt haben) und Gott verschonte ihre Stadt. Auch der mittelalterliche Kinderkreuzzug, Verweise auf zirzensische Attraktionen der Hungerkünstler und die Gesänge der Sirenen mit weißen Overalls als moderne Deutung der Warnungen des antiken Chors führen die Handlung des Stückes in vertiefte Dimensionen.

Die multimediale Präsentation ist ein dickes Plus dieser Inszenierung von Gustav Rueb. Die bühnenbreite Videowand dient als stimmiger Hintergrund, der das Meer praktisch in die Szene plätschern lässt. Florian Barth hat diesen Video-Raum perfekt eingepasst, Jonas Julian Niemann hat für das Stück einen atmosphärischen Soundtrack am Laptop gezaubert.

Und dann ist da noch ein märchenhafter Fisch (Lilly-Marie Vogler), der sich zunächst als Gräten-Gerippe auf dem Esstisch der Familie wiederfindet, gleichzeitig aber mit glitzerndem Schuppen-Pailletten-Kostüm seinen jungen Jäger verzaubert und ihn schließlich in die ewigen Jagdgründe des Meeres entführt. Jonas findet nämlich doch wieder seine Stimme, singt mit sichtlicher Verunsicherung einen Song von Ton Steine Scherben („Der Traum ist aus, aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird“) und verschwindet dann durch eine Bühnentür in den Tiefen des Salzwassers.

Langanhaltender und absolut verdienter Beifall für einen höchst originellen und aktuellen Text, für ein präzises Ensemble und für eine stets unterhaltsame und zugleich nachdenkliche Inszenierung.

 

https://www.theaterregensburg.de/produktionen/nach-dem-essen.html?m=71&back=day-031023


Gruppenbild mit Hangar (2.v.r.). In der Mitte (mit Gitarre) Lothar Böhm
Gruppenbild mit Hangar (2.v.r.). In der Mitte (mit Gitarre) Lothar Böhm

Hangar - The Art Opera ***

von Lothar R. Böhm

Regie: Kathrin Brockmüller

Kulturforum Schlachthof, Fürth

Premiere am 23.09.2023

 

 

Mit einem spektakulären Multimedia-Projekt eröffnet das Kulturforum Schlachthof die Spielzeit 2023/24. Der Fürther Allround-Künstler und spartenübergreifende „Kaltscher“-Experte Lothar R. Böhm hat zusammen mit Regisseurin Kathrin Brockmüller seinen umfangreichen 600-Seiten-Roman „Hangar - die unglaubliche Reise des Király úr“ zu einer szenischen Lesung mit Rockband-Begleitung, Video-Performances, digitalen Einwürfen und ein paar Figurentheater-Schnipseln verdichtet. Das Ganze wird mit dem ziemlich treffenden Untertitel „The Art Opera“ auf zwei Bühnen-Plattformen präsentiert - und doch bleibt nach 80 - mal dröhnenden, mal poetisch-besinnlichen - Spiel-Minuten die Frage, ob hier wirklich zusammengekommen ist, was zusammengehört.

Die rechte Bühne präsentiert vor allem die schleppenden Gänge der Hauptfigur Hangar (Sigi Wekerle), ein wohl in Budapest lebender Mensch, der sich nie ganz im Klaren ist, ob er gerade träumt oder doch die Wirklichkeit erlebt. In seinem Künstlerzimmer stapeln sich in Kartons gesammelte Traumtagebücher zwischen einer Staffelei (gleichzeitig als Dachfenster verwendbar) und einer Kaffeemaschine. Die Erzählerin (Stefanie D. Kuschill) vermittelt Hangars Gedanken und Erlebnisse. Er schleicht nachts in die Vorstellung eines obskuren Kellertheaters („laienhafter Unsinn“) und findet sich wenig später in einer grünen Naturhölle mit Riesenblättern und Matsch, in dem man versinken kann. Häufig sucht er nach dem mysteriösen Barmann Heinrich (Christian Kaltenhäußer - leider nur als Schauspieler und nicht als Bariton). Am Ende ist Hangar wieder da, wo er am Anfang war - alles dreht sich im Kreis? Das Ambiente und die Texte erinnern an den phantastischen Realismus eines Gustav Mayrink, an das graue Prag Franz Kafkas und an das Magische Theater in Hermann Hesses „Steppenwolf“.

Auf der anderen Bühne hat sich eine vierköpfige Band namens „Freudeman“ eingerichtet, die das düstere Geschehen teils mit zarten perkussiven Geräuschen, teils mit knalligem repetitiven Psychedelic Prog Rock begleitet. Zwei Schlagzeuger (Markus Grill, Florijan Ribič) und der Bassist Lutz Mays legen das Fundament für die Songs des Bandleaders, Sängers und Gitarristen Böhm, dessen gewollt banale und gleichzeitig sperrige Texte jedoch schwer zu verstehen sind. Der Gesamtsound vermittelt eine Symbiose von Ton Steine Scherben und Van der Graaf Generator (falls diese Band-Namen noch bekannt sind?). Als wenig ergiebiger Kontrast wird ein rein instrumentaler „Radiosong“ der Fake-Gruppe „Die Dominos“ und eine Mitsing-Passage eingestreut. Man muss nicht alles erklären können!

Auf dem Stichwort-Zettel des Kritikers findet sich der Satz „Eine Vorstellung, die ihm keine Freude bereiten wird“; doch - halt -, das ist nur ein Gedanke Hangars im versifften Theater! Lothar Böhm hat im Vorhinein angekündigt, er habe mit dem Projekt etwas zu sagen, was eine gewisse Bedeutung hat. Vielleicht war es dieser Gedanke aus dem Zitatenschatz von Hangar: „Es kann schon sein, dass man in dieser Welt den Überblick verliert!“

 

https://lothar-boehm.de/


Zur schönen Aussicht ***

von Ödön von Horváth

Regie: Susi Weber

ETA Hoffmann Theater Bamberg (Calderon-Spiele / Alte Hofhaltung)

Premiere: 30.6.2023

besuchte Vorstellung: 18.7.2023

 

Ein gewagtes Projekt für Freiluft-Sommertheater: das Bamberger ETA Hoffmann Theater serviert zum unvermeidlichen Aperol Sprizz eine sperrige Komödie des Gesellschaftskritikers Ödön von Horváth, sein dramatisches Frühwerk „Zur schönen Aussicht“ aus dem Jahre 1926 (das übrigens erst 43 Jahre später in Graz zur Erstaufführung kam!).

Man kann an dieser Ansammlung von Menschen im Hotel aber schon das Personal studieren, das Horváth in seinen späteren Werken weiterhin unter die Lupe nahm: den im sozialen Abstieg befindlichen Adel, den präfaschistoiden Macho, die bornierten Spießer und bauernschlauen Kleinbürger, gescheiterte Existenzen, die sich über ihre Lage hinweglügen, am Rande der Legalität wandelnde Individuen mit prekärer Vergangenheit und Gegenwart, die der Spielsucht Verfallenen und die von vergangenem Ruhm Zehrenden. Alles zusammen ein Soziogramm der westeuropäischen Gesellschaft nach dem 1. Weltkrieg und vor der Weltwirtschaftskrise.

Sie alle versammeln sich in einem abgewirtschafteten, verstaubten und verwahrlosten Hotel, irgendwo vor angedeutetem Alpenpanorama, zu dem Horváth wohl in Murnau am Staffelsee ein Vorbild vorgefunden hat, das aber letztlich ein Symbol für den Zustand der Welt insgesamt ist. Bei booking.com wohl nicht mehr zu finden!

Die Bühne (Luis Graninger) vor der Zuschauertribüne erweist sich als zweistöckiger Spielort mit Sitzgelegenheiten und Tischen im Erdgeschoss und sieben Gästezimmern im 1. Stock. Darüber prangt die LED-Leuchtschrift „ZUR SCHÖNEN AUSSICHT“, bei der aber während des Stückes nur die Buchstaben „UR SCHÖN“ und am Ende ganz lapidar die Buchstaben „AUS“ beleuchtet sind - so viel zur aktuellen Energiespar-Debatte!

In der Reihenfolge des Erscheinens lernt man den Kellner Max (Leon Tölle), den Chauffeur Karl (Pit Prager), den Sekt-Vertreter Müller (Marek Egert), den Hotel Chef Strasser (Stefan Herrmann) sowie Emanuel „Bubi“ Freiherr von Stetten (Stephan Ulrich) und seine Zwillingsschwester Freifrau Ada (Iris Hochberger) kennen. Das dramatische Geschehen kommt aber erst richtig ins Rollen mit dem Auftauchen der 21jährigen Christine (Jeanne Le Moign), die vor einem Jahr vom Hotelchef geschwängert wurde und nun seine väterliche Verantwortung einfordert. Dagegen starten die fünf Männer eine konzertierte Aktion, indem sie alle behaupten, mit Christine intime Beziehungen gehabt zu haben; sie sei ohnehin nur eine arbeitsscheue Prostituierte. Doch im Gegensatz zu den armen Hascherln, die in späteren Horváth-Dramen in die Opferrolle gedrängt werden, präsentiert sich Christine als toughe Frau mit finanziellem Erb-Hintergrund, der plötzlich alle Männer den Hof machen. Sie hat Glaube, Liebe und Hoffnung als verklärte Illusionen erkannt und verlässt lieber am nächsten Tag mit dem Frühzug das ruinöse Etablissement. Zurück bleiben fünf abgewrackte Männer, für die Don Henleys Textzeile aus dem Song „Hotel California“ (The Eagles) gelten könnte: „You can check out any time you like / But you can never leave“. Zurück bleibt auch die wie Alice Cooper geschminkte Alkoholikerin und Nymphomanin Ada, die weiß, dass Geld Macht bedeutet, aber zu spät ihre soziale Ader entdeckt und in schönster Horváthscher Dialektik formuliert: „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu“.

Während bei der Inszenierung vor der Pause noch der dramaturgische Motor stottert und durch vordergründigen Klamauk, Gebrülle und sportliche Artistik übertüncht wird, gewinnt das Stück später an Geschlossenheit und dialogischer Schärfe. Die angedeutete Hawaii-Hemden-Nostalgie mit Steel-Gitarren-Gesäusel und eingestreuten US-Schlagern der 50er Jahre enthüllt nun ihren ideologiekritischen Aspekt: du hast keine Chance, nutze sie! Und - als Provokation für die konservative Bischofsstadt - Gott hilft nur ab und zu - „die meisten dürfen verrecken“!

 

https://theater.bamberg.de/spielplan/stuecke/zur-schoenen-aussicht/


So glücklich, dass du Angst bekommst ***

von Dagrun Hintze und Miriam Tscholl

Gastspiel Theater Dresden

Figurentheaterfestival Kulturforum Fürth

21.05.2023

 

Das Internationale Figurentheaterfestival 2023 endete im Kulturforum Fürth mit einer deutschen Produktion, die mehr auf Menschen als auf Figuren ausgerichtet war. Das Stück „So glücklich, dass du Angst bekommst“ erzählt von einer Migranten-Gruppe, die in der heutigen aufgewühlten Diskussion kaum mehr beachtet wird. Es sind Frauen aus Vietnam, die schon vor über 40 Jahren als Studentinnen oder als Arbeiterinnen in die damalige DDR gekommen sind: 1980 schlossen die beiden Staaten einen Pakt über die Entsendung von Vertragsarbeitern, 1989 lebten etwa 60 000 Menschen aus dem südostasiatischen Staat zwischen Ost-Berlin und Karl-Marx-Stadt.

Letztere Großstadt heißt mittlerweile Chemnitz, hat der Region den Titel Kulturhauptstadt 2025 weggeschnappt, und das dortige Theater initiierte mit dem Projektteam „neue unentdeckte narrative 2025“ ein Recherche-Projekt: die Biografien dreier Vietnamesinnen, die noch heute in Chemnitz leben, wurden in einem Theatertext komprimiert. Und so sitzen nun Frau Lim, Frau Lam und Frau Bich hinter schwarzen Holz-Klötzen, bedienen Singer-Nähmaschinen und erzählen ihre eigene Geschichte: Laien-Theater trifft auf Dokumentartheater und schafft eine bedrückende Authentizität.

Und die Figuren? Das sind drei Puppen (gestaltet von Atif Hussein, geführt von Claudia Acker, Linda Fülle und Thuy Nga Dinh), die Jugend-Bilder der drei Frauen, die mit ihnen in den Dialog treten. Es geht bei diesen Selbst-Gesprächen um Banales und Besonderes, um Kritikwürdiges und um Heiteres, um gefährdetes Glück und um die Mentalität des Immer-nur-Lächelns. Es geht um den Weg von Hanoi nach Chemnitz, um die Lebensbedingungen zu Hause in Vietnam, um die Integration in Deutschland, um die harten Arbeitsbedingungen (Schwangerschaft definitiv unerwünscht!) und um das Erlernen der schwierigen deutschen Sprache. Es geht auch um das Leben nach der Wende 1989, das für viele Vietnamesinnen ein Ende des Aufenthalts bedeutete - wenn sie nicht einen deutschen Mann fanden. Da stößt man dann auf so manche Vorurteile der Deutschen, die in Gerhard Polts Mai-Ling-Sketch („die asiatische Frau schmutzt nicht“) ihren satirischen Brennpunkt fanden.

Miriam Tscholl hat die Bewegungen dieses doppelten Trios unaufgeregt inszeniert, spielt ein bisschen mit Wechseln des Bühnenbildes, farbigen Tüchern und kontrollierten Bewegungen. Am Ende kommen in Video-Botschaften die echten Töchter zu Wort - und siehe: für die nächste Generation scheint die Integration geklappt zu haben. Da darf man das Theater auch mit einem fröhlichen Viet-Pop-Song ausklingen lassen.

 bedrückende Authentizität.

 

https://www.theater-chemnitz.de/figurentheater/premieren/spielzeit-2022/2023

https://programm-nun.de/#aktuelles


Foto: Konrad Fersterer (Staatstheater Nürnberg)
Foto: Konrad Fersterer (Staatstheater Nürnberg)

Orbit - Geschichte einer Band (UA) ****

Rechercheprojekt mit Livemusik von Philipp Löhle, Christian Brey und Thomas Esser

Regie: Christian Brey

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Prermiere: 20.5.2023

 

Es gab mal ein deutsches Dokumentartheater, Rolf Hochhuth und Peter Weiss waren seine Propheten. Doch im postmodernen und postfaktischen 21. Jahrhundert erfreut man sich eher am Genre des Mockumentary, jenem Hybrid aus Dichtung und Wahrheit, das den Gutgläubigen in die Irre schickt und bei dem Skeptiker ein wissendes Lächeln hervorlockt. Die besten TV-Mock-Momente stammen übrigens von dem Comedian Olli Dittrich. In diesem Sinne hat Philipp Löhle, Hausautor des Staatstheaters Nürnberg, ein „Recherche“-Projekt angestoßen, das über die Jahre 1972 - 1985 die obskure Karriere einer vergessenen Rockband namens ORBIT aufdeckt und mit ein paar Stationen Kulturgeschichte in der Region Nürnberg vermengt. Doch auch ohne Spoiler-Verdacht darf man schon vorher sagen: es ist fast alles erschtonken und erlogen, jedoch getreu dem Motto „Wenn wir es so erzählen, dann war es so!“

1972 treffen sich also fünf ambitionierte Kulturschaffende, denen ein gewisser Herr Gustl eine Garage als Proberaum und seine Kneipe als Live-Bühne anbietet. In schönster Punk-Tradition streiten sie erst einmal, wer eigentlich welches Instrument spielen soll, dann wird über mehrere Tage diskutiert, wie die Band heißen soll. Weil die Vornamen der Musikanten Ottmar, Rolf, Bucki, Isi und Thomas lauten, kommt man auf die geniale Idee „Orbit“, verliert aber den entnervten Sponsor Gustl. Gut, dass es zu dieser Zeit den überregional bekannten Kulturreferenten Hermann Glaser in Nürnberg gab, der sein Projekt der Sozio-Kultur verfolgte und der Band einen Probenraum im ebenfalls überregional bekannten (Massenverhaftungen 1981!) Kommunikationszentrum (genannt „Komm“) vermittelte. Dort nisten sich Orbit häuslich ein und wollen ihr weiteres Leben nur noch der eigenen Musik widmen - bestärkt durch ein allseitiges Gelübde gegen dreckige Ohren. Es wird in der selbst gewählten Klausur viel geredet, die fünf Akteure wirken - eingekleidet in stimmige Klamotten sowie Perücken der 1970er und 80er Jahre wie wandelnde Flokati-Teppiche, das musikalische Equipment wird langsam aufgerüstet, ein vollständiges Schlagzeug fährt aus dem Bühnenboden, Keyboarder Ottmar bekommt noch eine zweite Orgel mit Blechrahmen und Isi, die Frau im Quintett stellt sich hinter ein modernes DJ-Mischpult. Dass man auch im Gefängnis (Massenverhaftungen 1981!) gute Musik machen kann, demonstriert Drummer Rolf, der die Sticks zu Fenstergittern formt und dann „I’ve Been Looking For Freedom“ intoniert. So entstehen im Lauf der Jahre zahlreiche Eigenkompositionen, die textlich einen regional-fränkischen Charakter aufweisen, aber verdammt nach Hits dieser Zeit klingen („Daddy Cool“, „Money, Money, Money“, „In The Air Tonight“, „Billie Jean“),

Schuld daran ist der schleimige Manager Hasso Krüger, der die Orbit-Songs mit dem Tonband aufnimmt und dann weltweit an bekannte Rockbands weiterverkauft. Immerhin schafft er es, die Songwriter-Ikone Bob Dylan vor dessen Auftritt auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände (1978) zu den eingeschlossenen Musikern zu lotsen und ihnen ein Angebot als Vorband zu übermitteln. Doch die deutsche Kultur des Diskurses und des Selbstzweifels führt zu spontaner Auftrittsphobie vor 80 000 Menschen, lieber geht man gemeinsam zum Griechen! Das Ende der Orbit-Geschichte wird durch einen Zufall eingeläutet: die fesche Biggi schaut sich via Fernsehen das Live-Aid-Konzert im Wembley Stadium (1985) an und muss feststellen, dass Freddy Mercury von Queen den Song „Bohemian Rhapsody“ vorträgt, den einige Jahre zuvor Sänger Bucki mit der Band erarbeitet hatte. Manager Krüger flüchtet, er setzt sein Auto und alle darin lagernden Tonbänder in Flammen - Orbit ist damit aus der Musik-Geschichte getilgt wie die Renegaten in Stalins Sowjetunion.

Foto: Konrad Fersterer (Staatstheater Nürnberg)
Foto: Konrad Fersterer (Staatstheater Nürnberg)

Zum Glück bietet der Theaterabend noch einen fulminanten Epilog: Krüger, der mittlerweile unter dem Namen Pius Maria Cüppers als Kammerschauspieler am Nürnberger Staatstheater arbeitet, organisiert eine Hologram-Avatar-Show der Band Orbit, bei der fünf KI-Klone noch einmal ein deftiges Rock-Programm abziehen, bevor sie mit „Major Tom“ und einer Raumkapsel ins Weltall abdüsen.

Die höchst unterhaltsame Rock-Show lebt vom inszenatorischen Tempo des Regisseurs Christian Brey, vom skurrilen Wortwitz des Autors Löhle und von den perfekt musizierenden Schauspielern: Nicolas Frederic Djuren (voc, g), Justus Pfankuch (keyb, g, voc), Sascha Tuxhorn (b, voc), Amadeus Köhli (dr, g, voc) und Pola Jane O’Mara (voc). Ein grandioses und komödiantisch ausgefeiltes Nebenrollen-Potpourri arbeitet Thorsten Danner ab. Die Bühne ist eine Bühne oder besser: eine Proberaum-Bühne mit ein paar Flight-Cases, viel Trockeneis-Nebel und präzisen Licht-Effekten. Bei mehreren Video-Interviews haben Nürnbergs Bürgermeisterin Julia Lehner, Ihre-Kinder-Veteran Ernst Schultz, Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger und mehrere Schauspiel-Kollegen das doppelbödige Spiel mitgemacht. Das Premieren-Publikum war begeistert, feierte das Ensemble mit standing ovations und bekam als Zugabe noch ein originelles „Take On Me“ mit Casio-Orchester im Sitzkreis: einer von vielen Aha-Effekten. „Orbit“ hat auf jeden Fall das Potenzial für einen Kassenknüller!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-22-23/orbit-geschichte-einer-band-ua/26-05-2023/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Gostfreundschaft

Ein transkultureller Audiowalk durch Gostenhof (UA) ****

Regie: Pauline Neukampf

Text: Sabrina Bohl, Pauline Neukampf

mit: Aydin Aydin, Lisa Mies (Sprecherin)

 

Das ist nun schon der vierte vom Staatstheater Nürnberg produzierte Audiowalk: nach der Aussiedler-Entdeckung in Langwasser („Willkommen zurück“), nach einem literarischen Text (Franz Kafkas „Das Schloss“) vor der Altstadt-Kulisse, nach der Auseinandersetzung mit gigantomanischer NS-Architektur auf dem Reichsparteitagsgelände nun ein Kiez-Kursus mit Stadtteil-Geschichte und -Gegenwart. Genauer: Eine kleine Spazier-Schleife durch Gostenhof mit Audio-Guide, szenischen Stationen und Mitmach-Angeboten unter dem vielsagenden Leitbegriff „Gostfreundschaft“.

Die thematische Recherche stammt von Pauline Neukampf und Sabrina Bohl, die zahlreiche O-Töne aus dem früher schlecht beleumdeten Glasscherbenviertel gesammelt und prägnante Erklär-Texte geschrieben haben (eingesprochen von Lisa Mies). Die Gostenhofer Walking-Runde beginnt und endet am lauten und architektonisch wertlosen Plärrer, sie führt über sieben Stationen auch in ruhige Gassen und begrünte Hinterhöfe, etwa zu dem lauschigen Petra-Kelly-Platz.

Bei Yusuf Baris‘ Obst- und Gemüsehandel taucht man in das trubelige Ambiente von Gostanbul ein und möchte fast schon ins Restaurant Cesme auf einen Teller Köfte abzweigen. Doch das bleibt ein Plan für nachher, vorher führt der Weg noch an den Sozial-Stationen Nachbarschaftshaus und Heilsarmee vorbei zum Petra-Kelly-Platz, wo ein spontaner Espresso serviert wird.

Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Dadurch ist man gestärkt für einen Rückblick auf die Arbeiterbewegung in Nürnberg zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Schauspieler Aydin Aydin wartet in einem bedrückenden Kellerraum des Hauses Bauerngasse 29, der an die Zellen des Stasi-Knasts in Hohenschönhausen erinnert. Aydin schlüpft in die Rollen von Karl Liebknecht, der 1914 im Reichstag eine Rede gegen die Kriegskredite gehalten hat, und von Wally Rodammer, einer tapferen Frau aus der Nürnberger Gewerkschafts-Bewegung, deren Buch über die eigene Jugend in Nürnberg („Wally“) leider nur noch antiquarisch erhältlich ist. Danach wieder post-industrielle Frischluft vor der Fabrik des ehemaligen Blechspielzeugherstellers Georg Kellermann und interreligiöse Friedenswünsche im Backstein-Showroom des Ateliers Urban. Die letzte Station kurz vor dem Plärrer erinnert an ein antikes Scherbengericht, allerdings positiv gewendet: jeder Teilnehmer kann vor einer Eisdiele auf eine Glasscherbe schreiben, was für ihn Nachbarschaft ausmacht.

Insgesamt ein lohnenswerter ca. 90minütiger Audio-Walk, diesmal mit mehr touristisch-informativen als theatralischen Elementen, aber mit vielen Blicken über den eigenen Tellerrand.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-22-23/gostfreundschaft-ua/13-05-2023/1730


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Moskitos ****

von Lucy Kirkwood

Regie: Bérénice Hebestreit

Premiere am 25.3.2023

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

 

Als Friedrich Dürrenmatt 1962 in seiner mittlerweile zum Klassiker geronnenen Groteske drei Physiker in einer Schweizer Nervenheilanstalt versammelte, konnte er nicht ahnen, dass die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft auch noch 55 Jahre später als Stoff für ein Theaterstück taugen würde. Die englische Dramaturgin Lucy Kirkwood hat 2017 ihr Stück „Moskitos“ im Londoner Royal National Theatre zur Aufführung gebracht, das Nürnberger Staatstheater präsentiert nun (nach der deutschen Erstaufführung 2018 in Kassel) eine bemerkenswerte weitere Auflage dieses well made play nach bester englischer Machart.

Schauplatz ist wiederum die Schweiz, wo die nobelpreis-verdächtige Alice im Genfer Beschleunigungszentrum CERN wissen will, was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält, und deshalb Elementarteilchen durch die 28 Kilometer lange Schleife mit dem schönen Namen „Large Hadron Collider“ jagt. Doch keine Angst, auch ohne ein abgeschlossenen Physik-Studium kann man dem unterhaltsamen Stück folgen, denn die wissenschaftliche Apparatur ist nur der Hintergrund für ein Familiendrama mit drei Generationen. Alice hat nämlich eine Schwester Jenny, die völlig aus der Art der streng rational orientierten Sippe gefallen ist. Diese rustikale Dreigroschen-Jenny ist eine Glanzrolle für Julia Bartolome, die der Versicherungs-Verkäuferin in einem dubiosen Call-Center herrlich prollige Züge verleiht. Sie ist Querdenkerin, Impfverweigerin und Gelegenheits-Nymphomanin, sie glaubt an Astrologie und bewundert den grandiosen Pimmel ihres Neffen Luke. Manchmal nähert sie sich in ihrer grellen Dümmlichkeit Martina Hills Rolle als Influencerin Larissa in der ZDF-Heute-Show. Das Schwestern-Duell Alice vs. Jenny erinnert außerdem fatal an Michel Houelebecqs provokanten Kult-Roman mit dem hier passenden Titel „Elementarteilchen“, wo allerdings die beiden Brüder Bruno und Michel ihren Privatkrieg inszenieren.

Die multiple Zimmerschlacht wird vervollständigt durch Karen, die Mutter der beiden Schwestern (ebenfalls beeindruckend: Annette Büschelberger). Einst war sie gefeierte Wissenschaftlerin, nun muss sie sich mit Inkontinenz und beginnender Demenz auseinandersetzen. In einem berührenden Monolog erläutert sie ihre These, dass Liebe nicht die entscheidende Kraft im Universum ist, eher glaubt sie da schon an die Schwerkraft oder den Sekundenkleber. Liebe hat der Mensch nur erfunden, um das Chaos zu überwinden!

Als Vertreter der möglicherweise letzten Generation tummeln sich Alices Sohn Luke (Nicolas Frederik Djuren) und seine Freundin Natalie (Elina Schkolnik) auf dem Schlachtfeld der Individuen. Die beiden befürchten, dass die Apokalypse nur noch durch Massen-Sterilisation abgewendet werden kann und beschränken sich folgerichtig auf Distanz-Sex mit Whats-App-Bildern. Erstaunlicherweise mischt sich auch noch Thomas Nunner als belebtes Higgs-Teilchen in die Familien-Streitigkeiten: einmal träumt er im Toni-Erdmann-Kostüm vom zweiten Big Bang und von der Entstehung eines neuen, klügeren Universums, an anderer Stelle erläutert er als Reinigungs-Fachkraft die fünf Varianten eines möglichen Weltuntergangs: Live Aid oder Leifheit?

Das ganze sehr ambitionierte Themen-Panorama wird von der Autorin und Drehbuch-Expertin Kirkwood immer wieder durch präzise Dialoge geerdet und in einen meist schlüssigen - teilweise sogar spannenden - Handlungsrahmen gepackt. Regisseurin Bérénice Hebestreit kann sich auf die stimmige Text-Vorlage und auf das kommunikationsstarke Ensemble verlassen und mit zielstrebigem Tempo und gezielten Black-Outs Akzente setzen. Die Bühne von Mira König zeigt im Vordergrund mit sehr beschränktem Mobiliar die Wohnung der Familie, hinter einem durchsichtigen Vorhang, der auch als Video-Leinwand dient, befindet sich die Stahl-Architektur des abgedunkelten Forschungszentrums.

Der Antagonismus von Wissenschaftsgläubigkeit und schreiender Dummheit, von naivem Optimismus und zynischem Bekenntnis zum Chaos beweist an diesem Theaterabend seine ungebrochene Aktualität. Und der etwas rätselhafte Titel „Moskitos“ bekommt durch häufige Brummtöne eine immerhin angedeutete Erklärung.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-22-23/moskitos/04-04-2023/1930

https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=22243:moskitos-staatstheater-nuernberg-berenice-hebestreit-inszeniert-lucy-kirkwoods-familiendrama-als-bissiges-hochaktuelles-themenpanorama&catid=247&Itemid=40


Foto: Marina Maisel
Foto: Marina Maisel

Der Biberpelz ****

von Gerhart Hauptmann

Regie: Stefan Zimmermann

a.gon Theater GmbH München

Premiere am 4.2.2023

besuchte Aufführung: 21.2.2023 im Stadttheater Fürth

 

Als der Kölner Kardinal Josef Frings in seiner Silvesterpredigt 1946 den Kohlenklau aus der Notlage der Nachkriegszeit rechtfertigte, war ein neues Verbum geboren: „fringsen“ steht seither für den Tatbestand des Mundraubs. Doch schon über 50 Jahre vorher hat die resolute Waschfrau Wolff in Gerhart Hauptmanns Diebeskomödie „Der Biberpelz“ den Besitzerwechsel von zwei Festmeter Knüppelholz und einem Biberpelz mit einer gewissen Berliner Bauernschläue erläutert: „Mir sein keene Diebe“. Das Tätigkeits-Wort „wolffen“ hätte also durchaus ebenfalls Teil des deutschen Sprachschatzes der sozialen Gerechtigkeit werden können.

In Zeiten von Energiekrise, Heiz-Sparappellen und Strompreisbremsen passt Hauptmanns hintergründiger Vierakter (uraufgeführt 1893) in die aktuelle Kultur-Landschaft - nicht nur an der Spree. Das Münchner Tourneetheater a.gon zeigte im Fürther Stadttheater eine konventionell gestrickte, aber durchaus eindringliche, dialogstarke und unterhaltsame Inszenierung des „Biberpelz“.

Die Mutter Wolffen ist natürlich eine Paraderolle für die durch Bühne, Film und zahllose Fernsehserien gestählte Diana Körner. Sie gibt dieser Mischung aus Mutter Courage, weiblichem Robin Hood und Wilderer Jennerwein eine natürliche Ausstrahlung, verbunden mit einer schnoddrigen Hinterfotzigkeit. Selbst den alten Chef-Dialektiker Bertolt Brecht hat so eine relativ emanzipierte Frauen-Figur („ehrbare Diebin“) zu einer Neu-Bearbeitung veranlasst. Im Programmheft verweist Diana Körner darauf, wieviel heutige Thematik in dem Stück steckt und wie ohnmächtig die Politik der Kluft zwischen arm und reich gegenübersteht. Vielleicht wäre Frau Wolff heute eine Senioren-Aktivistin, die mit dem Jesuitenpater Jörg Alt Lebensmittel-Container vor Supermärkten ausräumt.

Ihr Gegen- oder Mit-Spieler in der Tragikomödie ist der stramm preußische Amtsvor­steher von Wehrhahn, den Oliver Severin mit der satirischen Überspitzung eines George Grosz nachzeichnet. Unter dem preußischen Adler sitzt er mit Scharfzüngigkeit und Sockenhaltern am Schreibtisch („hier bin ich König“), sieht sein Amt als „heilige“ Berufung und macht mit dem Denunzianten Motes Jagd auf den verdächtigen Demokraten Dr. Fleischer (Thomas Henniger von Wallersbrunn in einer reizvollen Schwarz-Weiß-Doppelrolle als Motes und Fleischer). Wehrhahn erinnert in seiner Selbstherrlichkeit und Verblendung an den Kleistschen Dorfrichter Adam, ist aber auch ein Ausblick auf eine Justiz-Verwaltung, die bei der Parole „hier muss mal richtig gesäubert werden“ auf einem Auge blind war.

Daneben präsentieren sich Joachim Völpel als Finanz-Kapitalist und Villenbesitzer Krüger mit Sprachfehler, Lutz Bembenneck als vertrottelter Ehemann Julius Wolff, Laura Maria Puscheck als muntere Tochter Adelheid mit dem Traum vom Theater, Gregor von Holdt als devoter und floskel-beladener Amtsschreiber Glasenapp sowie Marcus Jakovljevic als geschäftstüchtiger Spree-Schiffer.

Regisseur Stefan Zimmermann belässt das Stück in seiner Entstehungszeit und verordnet seinem Ensemble einen gemäßigten Berliner Dialekt, der auch in fränkischen Theatern verstanden wird. Die Bühne von Steven Koop ist eine teilweise durchsichtige Latten-Konstruktion, die mit wenigen Handgriffen von einer einfachen Wohnküche in ein großes Amtszimmer verwandelt werden kann. Das offene Ende entlässt die Zuschauer mit einem anregenden Fragezeichen: auf die forsche Aussage des Amtsvorstehers Wehrhahn („Die Wolffen ist eine ehrliche Haut“) antwortet diese - resigniert den Kopf schüttelnd - „Da weeß ich nu nich …“.

 

https://a-gon.de/produktion/der-biberpelz/


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Vendetta Vendetta ***

von Thomas Köck

Regie: Jan Philipp Gloger

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 10.2.2023

 

Rache ist süß, jedoch in der zivilisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts eigentlich nicht mehr politisch korrekt. Rache-Gelüste sind aber wohl ein dauerhafter Bestandteil der conditio humana und können auch im aufgeklärten Rechtsstaat nicht gänzlich verdrängt werden. Eine zusammenfassende Kulturgeschichte des Rache-Motivs wurde noch nicht geschrieben, dafür hat der ober-österreichische Autor Thomas Köck im Auftrag des Schauspiels Leipzig 2021 immerhin ein paar Denkbausteine unter dem Titel „Vendetta Vendetta“ zusammengetragen. Diese wurden nun von Schauspiel-Direktor Jan Philipp Gloger am Nürnberger Staatstheater neu montiert und zu einem unterhaltsamen Mehrsparten-Projekt organisiert.

Auf der Bühne, die vor der Feuerschutzwand ein Treppenhaus im Mehrfamilien-Wohnblock andeutet und dahinter ein griechisches Amphitheater mit animiertem Himmel-Panorama darbietet (ausgedacht von Marie Roth) tummeln sich drei Schauspieler*innen, zwei Sänger*innen, zwei Tänzer*innen und ein siebenköpfiges Ensemble der Staatsphilharmonie. Der musikalische Leiter Kostja Rapoport steht im Bühnenraum am Keyboard und steuert von dort die Produktion der Tonkunst.

Von der griechischen Mythologie (Medea, Elektra) über die Bibel (Kain) und die deutsche und englische Klassik (Shakespeares Shylock, Kleists Kohlhaas, Mozarts Königin der Nacht) bis zur frühen Moderne (Lulu bei Wedekind und Alban Berg) hat Autor Köck das Thema Rache gesucht und gefunden. Die Text- und Ton-Zitate aus den einschlägigen Werken werden durch eine Meta-Diskussion der Akteure verbunden: man sucht nach einer Definition des Begriffs „Rache“, nach den Voraussetzungen für Rache, nach dem Spannungsverhältnis Recht und Rache und nach der Rolle, die den ewigen Kreislauf der Rache beenden könnte. Auf den aktuellen Bezug zum Ukraine-Krieg wird verzichtet; hier wäre aus radikal-pazifistischer Perspektive die Opferrolle dieses Volkes die beste Lösung für ein Ende der Gewalt-Spirale. Dafür geht der abwechslungsreiche Abend der Frage nach, warum die Opfer meist weiblich, die Täter dafür meist männlich waren - Claire Zachanassian in Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ ist da wohl ein Ausnahme-Modell.

Glogers Inszenierung setzt auf deftige Kontraste, vermischt die alberne Pantomime mit dem dramatischen Monolog und fordert von den Akteur*innen mutige Rollendistanz. Das Wettrüsten im Mehrfamilien-Wohnhaus ist ein sprachloser Höhepunkt, die Rachepläne von Elektra und Orest im griechischen Restaurant bei Souflaki und Gyros sind eine preiswerte Lachnummer. Mit sichtlicher Freude pendelt Bassbariton Wonyong Kang zwischen Rigoletto-Dramatik und Ski-Ballett, Schauspielerin Elina Schkolnik ergänzt das Stück um eine sehr persönliche Rachefantasie bezüglich ehemaliger Hitlerjungen, und Andromahi Raptis wechselt gekonnt von der Königin-der-Nacht-Arie zur beiläufigen Bemerkung: „Also privat hab ich mit Rache überhaupt null zu tun“!“

Der Schluss erweist sich dann aber als verfehlter Griff ins soziologische Klosett: in einer überlangen Video-Botschaft sing-sprecht der philharmonische Open-Chor die Theorie von der sich als Opfer sehenden Mittelschicht und ihrer daraus resultierenden Aggressivität gegen Minderheiten. Hier wäre Reue (oder Kürzung) geboten.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-22-23/vendetta-vendetta/23-02-2023/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Alice im Wunderland ****

Musikalisches Schauspiel für Erwachsene nach Lewis Carroll 

von Johanna Wehner (Text), Vera Mohrs (Liedtexte und Komposition) und Kostia Rapoport (Komposition)

Regie: Ensemble mit Johanna Wehner, Janning Kahnert, Paula Pohlus

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 3.12.2022

 

Bei der Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag mussten die Abgeordneten unlängst literarisches Allgemeinwissen bemühen. Bundeskanzler Olaf Scholz attestierte dem Unionsfraktionschef Friedrich Merz, er habe eine verzerrte Sicht auf die Wirklichkeit. Seine Rede habe ihn an „Alice im Wunderland“ erinnert: „Was in Wahrheit groß ist, das reden Sie klein, und umgekehrt.“ Was zunächst logisch klänge, sei in Wahrheit blanker Unsinn. Wer an Merz‘ Behauptungen glaube, der glaube auch an sprechende weiße Kaninchen.

Damit hat Lewis Carolls 1865 veröffentlichte Geschichte nun Eingang in den politischen Diskurs gefunden; knapp 14 Tage später präsentiert die renommierte Opern- und Theaterregisseurin Johanna Wehner im Nürnberger Staatstheater ihre musikalisch angereicherte Text-Version des Kinderbuchs für Erwachsene als Uraufführung im Schauspielhaus. Dies allerdings mit einigen Hindernissen: das schon für 2020 geplante Projekt fiel der Corona-Pandemie zum Opfer, nun musste Johanna Wehner wegen einer Lungenentzündung das Probenfinale distanziert aus dem Krankenbett mitverfolgen und dem Ensemble - allen voran Janning Kahnert und Regieassistentin Paula Pohlus - viel Eigenverantwortung übertragen.

Der Inhalt dürfte und sollte weithin bekannt sein; schließlich nahmen Denis Scheck und auch die ZEIT-Redaktion von 1980 das Buch in den Kanon der 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur auf: Durch ein Kaninchenbau-Loch in der Erde gerät Alice im freien Fall in ein unterirdisches Wunderland, in eine verkehrte Welt voller Irritationen. Dort wird sie konfrontiert mit gefährlichen und manchmal absurden Situationen, gleichzeitig mit den höchst unlogischen Sprüchen, die die Phantasietiere und -menschen im Munde führen.

Recht unterschiedliche Lesarten sind zu diesem Klassiker des literarischen Nonsens möglich: der Übersetzer Christian Enzensberger (Bruder des verstorbenen HME) sah darin 1966 wohl ein antiautoritäres Kinder-Emanzipations-Märchen, anglo-amerikanische Rockmusiker:innen wie Grace Slick (Jefferson Airplane), Tom Waits oder John Lennon verstanden den Text als psychedelisches Traumspiel mit Bewusstseins- und Körper-Erweiterung. Ganz anders die Herangehensweise von Johanna Wehner: sie entzieht „Alice im Wunderland“ die fantastische Märchenhaftigkeit und macht aus dem Text ein dystopisches Exit-Game mit abgeriegelter Tür und allseitiger Sprachverwirrung.

Die fast schon erwachsene Alice (Llewellyn Reichman) wird in eine geschlossene Gesellschaft versetzt, in der eigentlich „kein Platz“ mehr frei ist, in der die gar nicht so tierischen Menschen gehetzt aneinander vorbeireden, in der alles relativ und nur eine Frage des Standpunkts ist. Das erinnert manchmal an ein Handkesches Sprechstück, manchmal an ein absurdes „Endspiel“. Die verängstigte Alice hat so viele Fragen, die alle um das Problem kreisen: Ich bin kein Star, wie komme ich hier wieder raus? Doch die sechs verschrobenen Wunderland-Bewohner machen das Mädchen auf der clever ausgeleuchteten Drehbühne (Benjamin Schönecker) mit ihren Gegenfragen nur schwindlig und flüchten sich lieber in Nonsens-Exkurse über die Nützlichkeit von Silikon-Spritzpistolen, über ungeheuer große Einladungs-Briefe und über die Frage, ob Paris die Hauptstadt von London ist. Janning Kahnert spielt mit Bravour einen konfusen Hutmacher, Annette Büschelberger ist die schnöde Kopf-Ab-Königin und Justus Pfannkuch überzeugt als gehetzter Duracell-Hase. Alice möchte das Gesellschafts-Spiel zwar mitspielen, doch sie weiß nicht, welche Regeln eigentlich gelten und wie man gewinnen oder verlieren kann.

Dazu haben Verena Mohrs und Kostia Rapaport einen stimmigen Soundtrack geschrieben, der wie eine Mischung aus avantgardistischem Elektro-Pop und einer Anmutung von Kurt Weill klingt. Mit zwei Keyboards, Cello, Geige, Bass-Ukulele, Akkordeon und diversen perkussiven Werkzeugen entstehen schräge Chansons mit leicht verrätselten Texten.

So ist der ausgiebig beklatschte Abend eine lohnende, kurzweilige und hintersinnige Denksport-Aufgabe; insbesondere geeignet für die Millionen von Menschen, die unermüdlich in Festzelten und Après-Ski-Hütten „Who the f… is Alice?“ grölen.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-22-23/alice-im-wunderland-ua/07-12-2022/1930


Foto: Sandra Then
Foto: Sandra Then

Die Affäre Rue de Lourcine ****

von Eugène Labiche

Regie: András Dömötör

Residenztheater München

Premiere am 18.11.2022

besuchte Vorstellung: 24.11.2022

 

Selbst im Theater nennt man das einen Filmriss: wenn man nach einer durchzechten Nacht wieder nach Hause kommt und sich am nächsten Tag an nichts mehr erinnern kann. Genau das passiert dem Rentier Lenglumé, der zudem noch feststellen muss, dass neben ihm im Bett ein fremder Mann - der ihm sehr ähnelt! - namens Mistingue liegt. Als die Haushälterin Justine dem Verkaterten die (allerdings falsche) Morgenzeitung bringt, liest er die Meldung von einem Mord in der Rue de Lourcine an einer Kohlenschlepperin. Eine Reihe von Indizien (Kohlenstaub, Damenschuh, Häubchen, Gehstock) deuten darauf hin, dass er selbst der Täter war!

So ist die bekannteste Boulevardkomödie von Eugene Labiche konstruiert, der seine Vaudeville-Stücke praktisch in Serienproduktion fabrizierte, meist aber noch einen Ehebruch (und ein paar Lieder) ins Geschehen einbaute. Seine Hauptpersonen sind Spießbürger mit Morgenmantel und Pantoffeln, deren bürgerliche Doppelmoral Kratzer erleidet.

Die flotte Übersetzung von Elfriede Jelinek hat Regisseur Andras Dömötör nochmals aktualisiert und durch die Mangel seiner Gag-Ideen gezogen. Daraus entstanden 80 Minuten atemloser Unterhaltung, die lediglich beim Griff in die Horror- und Splatter-Kiste etwas überzogen wirken. Dömötör hätte sich nämlich noch mehr auf die komödiantische Qualität seiner drei Hauptpersonen verlassen können, den beiden verstörten Männern Thomas Lettow und Michael Wächter und der Ehefrau Norine, die Mareike Beykirch mit einer Glanzrolle als halb-emanzipierter und gleichzeitig genervter Mutter ausstattet.

Die Bühne von Sigi Colpe ist eine sehr nüchternes Pressspan-Innen-Architektur, an den beigen Wänden kleben große Geldscheine als Machtmittel des Bürgertums, manchmal schiebt sich ein schwarzer Kasten als Symbolisierung des schwarzen Loches in Lenglumés Kopf ins Geschehen. Wegen der hohen Etagen-Konstruktion sollte man allerdings die vorderen Reihen des Theaters meiden, weil man dort einen steifen Nacken riskiert! Ob es überhaupt nötig war, die Szene noch durch Live-Video-Projektionen (Zsombor Czeglédi) zu ergänzen, kann trefflich diskutiert werden.

Am Ende steht ein vorhersehbares Happy End, doch die Untiefen und Abgründe im Hobby-Keller der bürgerlichen Welt bleiben in Erinnerung.

 

https://www.residenztheater.de/stuecke/detail/die-affaere-rue-de-lourcine


Foto: Krafft Alexander
Foto: Krafft Alexander

Das Erbe (UA) **

von Nuran David Calis

Regie: Pinar Karabulut

Kammerspiele München

Premiere am 23. November 2022

 

Vor genau dreißig Jahren ereignete sich in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln ein Brandanschlag auf zwei, von türkischen Familien bewohnte Häuser. Das Verbrechen mit rechtsextremem Hintergrund, bei dem es drei Todesopfer und neun Schwerverletzte gab, erregte bundesweites Aufsehen. Der Theater- und Filmautor Nuran David Calis war damals 16 Jahre alt und das Thema ließ ihn nicht mehr los. 2014 entwickelte er zum zehnten Jahrestag des Nagelbombenanschlags in der Köln-Mühlheimer Keupstraße am Schauspiel Köln das Stück „Die Lücke - Ein Stück Keupstraße“, später das Nachfolgeprojekt „Die Lücke 2.0“. Anfang 2022 erarbeitete Calis wiederum in Köln mit Schauspielern, die ihre eigene Biografie einbrachten, das Stück „Mölln 92/22“. Nun folgte als Uraufführung an den Münchner Kammerspielen ein weiteres Kapitel dieses Erinnerungsreigens, die Tragödie in drei Akten mit dem Titel „Das Erbe“.

Aus diesem erneuten Blick zurück im Zorn ist nun jedoch mit Hilfe der Regisseurin Pinar Karabulut etwas geworden, das für drei ganz verschiedene Theaterabende gereicht hätte. Bereits Calis kann sich offenbar nicht entscheiden, was der Abend nun sein soll: gut gemeintes Deklamations-Theater gegen Ausländerfeindlichkeit, Thesen-Stück über Deutsch-Türken zwischen Assimilation, Integration und kultureller Selbstbehauptung oder ein grundsätzliches Generationen-Drama, wie es sich in jeder Familie ereignen könnte.

Was an den drei Tagen zwischen dem 23. und 25. November 1992, in denen das Stück spielt, passiert: nach dem Tod des schwerreichen türkischen Unternehmers Murat Dogan, der in Deutschland eine erfolgreiche Logistik-Firma aufgebaut hat, sind sich seine Witwe und die drei Kinder nicht einig, wie sie mit dem Erbe umgehen sollen. Arzu, die älteste Tochter (Elmira Bahrami), tritt als bekennende Lesbe auf, betreibt eine Kunstgalerie in London und greift auch mal zur Hasch-Zigarette. Tochter Leyla (Zeynep Bozbay) dagegen ist eine überzeugte Kopftuchträgerin, lebt mit ihrem Mann, einem Imam, in Istanbul und sieht in dem aufstrebenden Politiker Erdogan eine neue Hoffnung für die Türkei. Sohn Halil (Mehmet Sözer) schließlich ist der Hahn im Korb, aber auch ein offensichtlicher Versager, denn seine bisherigen unternehmerischen Versuche endeten alle mit der Insolvenz. Dogans schwerkranke Witwe Nazik (Sema Poyraz) will nur noch das testamentarische Vermächtnis ihres Mannes durchsetzen: die Familie und die Firma in Deutschland erhalten. Am Abend nach der Rückkehr von der Beerdigung schwirren durch alle Medien die Nachrichten von den Ereignissen in Mölln. Damit wird die Debatte in der Familie auf eine neue Ebene gehoben.

Soweit eine Konstellation, die durchaus Spannungspotential hat, was aber schon durch das Auftreten der Anwältin Ilias (Edith Saldanha) unterminiert wird. Ihre Zeigefinger-Auftritte mit quasi-pastoraler Attitüde wirken außerdem ein bisschen aus der Zeit gefallen. Auch die Gespräche der drei Geschwister haben immer wieder die Tendenz zu einem schlichten Argumentations-Aufsage-Theater. Und kann man diesen wohlhabenden und stylisch gekleideten Jung-Millionären wirklich abnehmen, dass sie sich fragen, ob sie in diesem „Scheiß-Deutschland“ leben können, ohne sich zu verleugnen? Man sehnt sich im Laufe des Abends manchmal nach der Erfüllung einer Bitte von Tochter Arzu: „Können wir nicht einmal normal miteinander reden?“

Dies alles spielt sich auf einer leergeräumten blauen Drehbühne ab (Aleksandra Pavlovic), hinter der ein blauer Gaze-Vorhang flattert und über der ein imposantes Lichtobjekt wie eine Mischung aus Damokles-Schwert, UFO oder Kronleuchter schwebt. Am Anfang des dritten Aktes erlebt man plötzlich eine vernebelte und ziemlich sinnfreie Dance-Pantomime zu dröhnendem Industrial-Techno-Sound. Für Kino-Liebhaber gibt es zahlreiche Video-Sequenzen (Susanne Steinmaßl) mit beeindruckender Rainer-Werner-Fassbinder-Ästhetik, in denen etwa die Zwanzig-Millionen-Dogan-Villa vorgestellt und eine Nebenhandlung mit zwei Angestellten (Stefan Merki als DDR-Flüchtling Gerhard und Vincent Redetzki als dessen Neffe Bernd) präsentiert wird.

Auf das mehrheitsfähige Schlusswort von Anwältin Ilias („Unsere Geschichten müssen erzählt werden … es ist Zeit zuzuhören“) folgt langanhaltender Beifall, der abrupt abbricht, als eine Liste von Opfern rechtsradikaler Gewalttäter über die Videowand läuft.

 

https://www.muenchner-kammerspiele.de/de/programm/13685-das-erbe-mras


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Die Nibelungen ****

von Friedrich Hebbel

Regie: Armin Petras

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 19.11.2022

 

Die Walküren haben es wahrscheinlich schon geahnt: drei Tage vor der Nürnberger Premiere von Hebbels Trauerspiel „Die Nibelungen“ zog sich Hauptdarsteller Felix Mühlen einen Bänderriss zu. So musste sich der eigentlich unverwundbare Held Siegfried im ersten Teil mit einem Rollstuhl auf der Bühne bewegen. Doch abgesehen vom Pech des Schauspielers passte dieses Missgeschick irgendwie zu der knalligen Inszenierung von Armin Petras. Dieser wollte nämlich das „deutsche“ Heldenepos keineswegs unkritisch auf die Bühne bringen, sondern die inneren Widersprüche der Geschichte plakativ veranschaulichen. Dass er dabei seinen Assoziationskasten etwas überdehnt hat und die Zuschauer in ein schrilles Wechselbad von Hyper-Emotionalität und Klamauk versetzt, lässt sich verkraften.

Es wäre nämlich definitiv nicht angemessen gewesen, diesen Mythos, der sich durch Mord, Betrug, Hass, Rache, Machtgier und Hinterlist definiert, unhinterfragt zu präsentieren, diese Collage aus Hybris und übermuot mit Schlagworten wie „Nibelungentreue“ oder „Dolchstoßlegende“ zu kaschieren. So findet Regisseur Petras eine Fülle von meist provokativen Verfremdungen und Parallelebenen: Die Sippe der Burgunder wird gleich am Anfang als aufdringliche Pauschal-Touristen vorgestellt, die sich mit Norweger-Anorak und Snowboard bei Brunhild (Julia Bartolome) in Island vorstellig macht. Diese Brunhild ist kein kraftstrotzendes Mannweib, sondern eher eine schmächtig-gestählte Marathonläuferin im Schlabber-Look, die mit keifender Stimme ihrer Agenda folgt. Dagegen sieht man König Gunther (Rafael Rubino) als rechten Trottel, der auf der Donau-Flusskreuzfahrt nach Ungarn alle Passagiere mit Ketchup und Mayo besudelt und offensichtlich in die Behandlung bei einem Urologen gehört. Spielmann Volker (Yascha Finn Nolting) steht mit Stratocaster-Rockgitarre auf der Bühne und intoniert ohne die Kratzigkeit von Bonnie Tyler „I'm holding out for a hero 'til the end of the night / He's gotta be strong, and he's gotta be fast / And he's gotta be fresh from the fight”. Nach so einem Helden sehnt sich Kriemhild (als Gast in Nürnberg: Sabine Waibel), die in farbig wechselnden Pailletten-Roben Liebe und Rache personifiziert und in einem Video-Clip durch den Odenwald rennt, wo ihr Mann im fluoreszierenden Laterna-Magica-Design brutal hingerichtet wurde. Die Hochzeitsnacht im Wormser Schloss fand vorher auf nüchternen Schaumstoff-Dämmplatten statt, der Nibelungen-Hort wird im Aldi-Einkaufswagen herumgekarrt, bevor er im Rhein verschwindet. Dass der Intrigant Hagen von einer Frau (Stephanie Leue) gespielt wird, untermalt die Schlager-These „Das Böse ist immer und überall“. Dazu kommt im Gegenzug noch eine männliche Frigga (Tjark Bernau), später performt dieser mit Hausjäckchen einen Dietrich von Bern, der gelassen die Neue Züricher Zeitung liest. Man sieht, hier wird einiges gegen den Strich gebürstet, hier werden tradierte Sehgewohnheiten bitter enttäuscht.

Für das abschließende Gemetzel bei Etzel reichen dann eher düstere und morbide Symbole: alle stehen im Regen und ein überdimensionales Knäuel aus Plastikmüll und blutverschmierten Altkleidern bewegt sich von unten nach oben - und zurück. Es ist also schon ein rechter Kessel Buntes und Nachdenkliches, das da in den gut drei Stunden angeboten wird. Nicht so radikal in der Kritik wie Heiner Müllers „Germania. Tod in Berlin“, aber auch nicht so beliebig wie Moritz Rinkes Wormser Freiluft-Spektakel.

Das Nürnberger Premierenpublikum war trotz mancher Ratlosigkeit ziemlich begeistert; für kreuz-konservative Bayreuth-Pilger und für Sucher nach deutsch-nationalen Identitäten muss aber jetzt schon eine Warnung vor den erwünschten Nebenwirkungen dieser Inszenierung ausgesprochen werden.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-22-23/die-nibelungen/19-11-2022/1930


Oleanna ****

von David Mamet

Regie: Werner Müller

Stadttheater Fürth

Premiere am 17.11.2022

 

Vor dreißig Jahren hielten viele Menschen MeToo für eine asiatische Hardrock-Band, Gender-Sternchen für Himmelskörper; die Universitäten waren noch nicht von Studierenden und Lehrenden bevölkert, sondern vom Herrn Professor und der verschüchterten Studentin. Doch schon 1992 verfasste David Alan Mamet unter dem Eindruck des öffentlichkeitswirksamen Falls „Hill vs. Thomas“ sein Theaterstück „Oleanna“, das seitdem (in der Übersetzung von Bernd Samland) Einzug in die Repertoires deutschsprachiger Theater gehalten hat - nun auch als Eigenproduktion des Fürther Stadttheaters.

„Oleanna“ ist ein Kammer-Macht-Spiel in drei Akten für zwei Personen und ein Telefon; Schauplatz ist das Büro des Hochschul-Professors John. Dieser vertritt - fast wie einst Mephisto in der Schülerszene von „Faust“ - zynische Thesen zum Mythos höherer Bildung. Dabei erkennt er nicht, dass für seine Studentin Carol ebendiese Bildung lebenswichtig ist: „Ich muss den Schein machen!“ Leider versteht sie aber seine Theorien nicht und attestiert sich selber Dummheit. Darauf wird der Professor auf einmal menschlich und entwickelt Sympathie für die verstörte Carol, fasst ihr beruhigend an die Schulter. Der problematische Dialog der beiden wird ständig durch Telefonanrufe unterbrochen: Johns Frau Grace und sein Steuerberater berichten von einem Hauskauf und fordern seine Anwesenheit beim Vertragsabschluss. Das ist also das wahre Motiv von John: er will eine verbeamtete Stellung als Hochschulprofessor erreichen und für seine Familie einen komfortablen Wohnort schaffen.

In den beiden folgenden Akten dreht Carol das Spiel um. Nun ist sie die Anklagende, hat einen Beschwerdebericht an die Uni-Leitung geschrieben und bezichtigt John sexistischer Verhaltensweisen und des Machtmissbrauchs. Die Sitzordnung im Büro (Bühne: Andreas Braun) ändert sich, die Dialoge werden schärfer, und John erkennt nun, dass sein Lebensentwurf existenziell gefährdet ist. Er soll sogar ein Schuldeingeständnis unterschreiben um sich in seiner Stellung zu halten.

Das Besondere an Mamets Wort-Gemetzel ist, dass der Autor völlig neutral bleibt und es dem Zuschauer überlässt, auf wessen Seite er sich schlagen will. Intendant Werner Müller verlässt sich als Regisseur auf die Dialog-Schärfe der Textvorlage, er hat mit Lisa Fedkenheuer und Andreas von Studnitz zwei profilierte Akteure, die den beiden Hauptpersonen ein eindrucksvolles Profil geben. Studnitz ist in dezente Brauntöne gekleidet (Kostüme: Kaja Fröhlich-Buntsel), er erinnert an den „Irrational Man“ in Woody Allens gleichnamigen Film (2015). Seine körperliche Größe mutiert immer mehr zur Gebeugtheit, seine Sprache ist vom Anakoluth geprägt, von einer erstaunlichen Bandbreite aus Intellektualität und Vulgarität. Ganz anders die Carol von Lisa Fedkenheuer: zunächst ist sie ein armes Hascherl, Typus verunsichertes Erstsemester, mit Schlabber-Strickjacke und City-Rucksack. Bald aber steckt sie ihr Haar hoch und wird zur kampfbereiten Frau, zur cleveren Lobbyistin ihrer Sache.

Das Spiel endet nach 90 spannenden Minuten mit einem 2:1 für die Studentin Carol. Doch sie erkennt, dass ihr Sieg wohl um ein Tor zu hoch ausgefallen ist: beide Kontrahenten haben sich in eine Lose-Lose-Situation hineinmanövriert: „einer muss immer leiden, und bisweilen leiden wir alle. Ist es nicht so?“. Oder: wenn menschliche Kommunikation von Macht-Ritualen bestimmt ist, gibt es nur Verlierer. Langanhaltender Beifall des Premierenpublikums für einen kurzweiligen und ungebrochen aktuellen Theaterabend.

 

https://www.stadttheater.de/stf/home.nsf/contentview/01D0CC2BE6018B17C125885300502E12?Open&showId=7677&


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Ich bin wie ihr, ich liebe Äpfel ****

von Theresia Walser

Regie: Jan Philipp Gloger

Staatstheater Nürnberg (3. Etage)

Premiere am 4.11.2022

 

Es ist ein Zickenkrieg hinter dem Vorhang, den die Zuschauer vor dem Vorhang live miterleben. In dem 2013 uraufgeführten Stück „Ich bin wie ihr, ich liebe Äpfel“ - übrigens ein zynisches Zitat aus einem Gedicht des libyschen Despoten Muhammar al-Gaddafi - hat Theresia Walser, die jüngste Tochter von Martin Walser, drei (eigentlich fünf) Diktatorengattinnen in einem fiktiven Setting arrangiert: es ist die Stunde vor einer Pressekonferenz, bei der sie über die mögliche Verfilmung ihrer Lebensgeschichten Auskunft geben sollen. Daraus entsteht ein pointenreiches Kabarett-Kammerspiel mit politischem Hintergrund und partieller Demaskierung.

In Nürnberg hat nun Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger dieses Stück für die 3. Etage entdeckt und zu einer Talk-Show-Bühne für drei profilierte Schauspielerinnen (und - nicht zu vergessen - einen Mann) gemacht. Lisa Mies spielt mit Verve Frau Leila, eine Hybrid-Version von Leila Ben-Ali (Tunesien), Suzanne Mubarak (Ägypten) und Asma al-Assad (Syrien), alles Länder, in denen einmal das Pflänzchen Arabellion zu wachsen schien. Adeline Schebesch ist die kapriziöse Frau Imelda (Marcos), die Schuhe-sammelnde Gattin des Philippinen-Diktators Ferdinand Marcos mit schusssicherem BH. Die brillante Annette Büschelberger arbeitet sich kratzbürstig an Frau Margot (Honecker) ab, sicher die politischste Figur in diesem Trio, da die anderen beiden Damen eher Objekte der Yellow Press waren.

Im Wortsinne zwischen den Stühlen - die Bühne (von Marie Roth) besteht tatsächlich nur aus vier roll baren Polstersesseln und einem schlichten Kaffeewägelchen - irrlichtert Justus Pfannkuch als Simultan-Dolmetscher Gottfried aus Jena (?), stets in devot gebückter Haltung, der die gegenseitigen Verbal-Attacken der streitfreudigen Damen abzumildern versucht.

So entsteht ein farbiges Charakter-Spektrum aus starrsinniger Selbstbehauptung des stalinistischen Sozialismus, aus politischer Ahnungslosigkeit und aus schlichter Verharmlosung. Frau Margot postuliert kämpferisch: „Ich stehe hier nicht als Frau Ich stehe hier als Idee!“. Nie würde sie auf einer Bühne von links nach rechts gehen, trinkt aber gerne das Imperialisten-Gesöff Coca-Cola. Frau Imelda denkt im goldfarbenen Glitzer-Kostüm vor allem an die eigene Dekoration, an süße Makrönchen und Blumen. Die Gewaltherrschaft im eigenen Land (Philippinen) ist für sie nur eine dramatische Opern-Inszenierung. Frau Leila schwankt zwischen Bildung und Einbildung und beklagt sich über die weltweite Diskreditierung ihrer Person.

Das Stück lebt von den flotten und bissigen Dialogen, die meistens auf der eher heiteren Seiter des politischen Kabaretts verharren. Am Ende aber gibt es noch eine satte Portion schwarzen Humors, als Frau Margot die Urne ihres Erichs präsentiert und dessen Asche versehentlich auf der Bühne verstreut wird. Das hätte auch Thomas Bernhard nicht besser erfinden können!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-22-23/ich-bin-wie-ihr-ich-liebe-aepfel/04-11-2022/2000


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Don Karlos ****

von Friedrich Schiller

Regie: Jan Philipp Gloger

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 17.9.2022

 

Alles dreht sich im Königreich Spanien des 16. Jahrhunderts: um den Machterhalt des Königs Philipp II., des Weltreiches und der katholischen Kirche. Alles dreht sich auch im Kopf des Kronprinzen Don Karlos (häufig auch Carlos geschrieben), der hin- und hergerissen ist zwischen einem frühneuzeitlichen Ödipus-Komplex und den revolutionären Freiheitsideen seines Freundes Marquis von Posa.

So präsentiert sich die stimmige und durchaus zeitlose Inszenierungsidee von Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger beim Saisonauftakt des Nürnberger Staatstheaters. Dazu hat er sich von Marie Roth einen Rundlauf bauen lassen, der aussieht wie eine horizontale Gebetsmühle aus spanischen Wänden. In der drehen sich die Akteure unterwürfig im Kreis: entscheidend ist, dass das System am Laufen bleibt!

Friedrich Schillers Mischung aus Ideendrama und politischem Staatsdrama (uraufgeführt 1787 in Hamburg) hat viel von der frührevolutionären Räuber-Aufbruchstimmung, weist aber in Sprache und Abgewogenheit schon auf die Weimarer Klassik hin. Diese Mischung aus Emotion und beginnender Resignation ist auch in Glogers Konzept zu erkennen. Der Marquis Posa von Yascha Finn Nolting ist ein glühender Stürmer und Dränger, der aber im Verlauf der Geschichte zum ideologisch verbohrten Robespierre wird und den Karren der Geistesfreiheit in den Dreck zieht. Der König Philipp II. (Janning Kahnert) entwickelt sich am Ende nicht zu einem kaputten Autokraten wie Kreon oder King Lear, er sieht sich - trotz privater Einsamkeit - in seiner Status-Quo-Realpolitik sogar weitgehend bestätigt. Die systemtragenden Strippenzieher Herzog Alba (relativ eindimensional: Sascha Tuxhorn) und Beichtvater Domingo (Thomas Nummer, er spielte übrigens schon 1997 in Nürnberg den Don Carlos und 2013 den König Philipp) sind die vorläufigen Sieger - und das wohl bis auf den heutigen Tag? Die weiblichen Hauptrollen präsentieren eine im Ansatz emanzipierte Elisabeth (Llewellyn Reichmann) und eine in ihrer Intrige nur partiell überzeugende Prinzessin Eboli (Lisa Mies). Maximilian Pulst verabschiedet sich aus Nürnberg (er ist seit Juli Mitglied im Ensemble des Wiener Burgtheaters) mit einem feuerköpfigen Don Karlos, der Züge von Büchners Danton und dem UK-Prinzen Harry trägt. Er legt seine Gefühle schutzlos blank und ist damit als Thronfolger nicht zu gebrauchen.

Die Nürnberger Inszenierung setzt auf Texttreue und behutsam historisierte Gewänder (Justina Klimczyk). Die verwirrende Ansammlung von falschen Briefen in Schillers „Familiengemälde“ kann letztgültig nicht ganz aufgelöst werden. Deshalb laden eher die spannungsreichen Dialoge (neuerdings auch mit englischen Übertiteln), zum konzentrierten Zuhören ein, vielleicht auch zu aktuellen Assoziationen in Zeiten von Ukraine-Krieg, autoritären Machthabern, Königinnen-Bestattung und kirchlichem Amtsmissbrauch. Oder wie Regisseur Gloger zu den Zuschauern sagen könnte: „Ich habe das Meinige getan. Tun Sie das Ihre!“ Bei der ausverkauften Premiere gab es jedenfalls langanhaltenden Beifall.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-22-23/don-karlos/17-09-2022/1900


Foto: Armin Smailovic
Foto: Armin Smailovic

Verrückt nach Trost  ****

von Thorsten Lensing

Regie: Thorsten Lensing

Salzburger Festspiele 2022 (Universität Mozarteum, Max-Schlereth-Saal)

Premiere: 6.8.2022

besuchte Vorstellung: 17.8.2022

 

Über Salzburg hängt eine massive Hitze-Glocke, die bis in das Foyer des Mozarteum-Beton-Quaders hineinreicht. Drinnen erfrischen sich zwei Kinder, die zehnjährige Charlotte und der elfjährige Felix am Strand. Sie sind nicht „verrückt nach Meer“, sondern eher „verrückt nach Trost“, weil ihre Eltern gestorben sind. Diesen Trost finden sie ansatzweise, wenn sie das Verhalten ihrer Eltern bei früheren Strandbesuchen nachspielen. Es geht ums „Sich-gegenseitig-Eincremen“, ums Kuscheln im Bademantel und um ein Kuss-Training.

Dies ist die Ausgangssituation die Thorsten Lensing - erstmals als Autor und Regisseur - für sein kongeniales Mimen-Quartett entworfen hat. Bei Thomas Bernhard würde so ein Stück vermutlich „Blomberg, Jung, Lardi, Striesow“ heißen und um ein Vielfaches galliger daherkom­men. Lensing kaschiert die Ratlosigkeit und Beziehungs-Inkompetenz seiner Figuren durch komische Slapstick-Einlagen, durch philosophische Dialoge und durch gewagt-phantastische (alp)traum-ähnliche Assoziationen. Die Bedrohlichkeit und Absurdität des Lebens, das man - schlag nach bei Beckett! - eigentlich nur mit einer gewissen Verrücktheit ertragen kann, wird durch einen riesigen Metall-Zylinder symbolisiert (Bühne: Gordian Blumenthal und Ramun Capaul), der am Anfang die Meeresbrandung symbolisiert und am Ende an den Bühnenrand rollt und damit den Lebensraum im Alter begrenzt.

Es handelt sich also bei Lensings neuestem Projekt nicht um postmodernes oder de­konstruktives Regietheater sondern um schillerndes Schauspieler-Theater, bei dem der nur manchmal etwas papieren wirkende Text eine prächtige Spielwiese für die vier Darsteller ausbreitet. Ursina Lardi und Devid Striesow spielen die beiden Kinder und verfolgen mit großer Präzision weitere Lebens-Stationen bis zum 88. Geburtstag. Striesow benennt sich als gar nicht glücklicher Felix, der nichts mehr fühlt und spürt, aber immerhin noch in der Lage ist einen poetisch zündenden Wetterbericht abzuliefern. Sebastian Blomberg und Andre Jung greifen mit teilweise leicht verrätselten Funktionen in das bild- und sprachstarke Geschehen ein. Blomberg ist ein leidenschaftlicher Taucher, der nur in den Tiefen des Meers seine Ruhe findet, nachdem ihm der Alltag sein Gehör zerstört hat. Auf festem Boden wäre er eigentlich am liebsten nur ein Stuhl, weil er dann immerhin eine klar definierte Aufgabe hätte, oder eine Schildkröte wegen der radikalen Entschleu­nigung. André Jung mischt sich als sprachloser Orang-Utan in die Szene, spielt dann einen gealterten schwulen Liebhaber, der die Geräusche eines früheren Freundes abhört, um wenigstens auf diesem Weg noch eine Beziehung herzustellen. Am Ende ist er der empathische Pflege-Roboter für die 88jährige Charlotte (Ursina Lardi), die vorher als hyperaktive Stabhochspringerin und als Octopussy gymnastische Glanztaten vollführt hat.

Bei ihrer Feier zum 88. Geburtstag im Seniorenheim stimmt der Saal „God save the queen“ an und sie verkündet als Schlussgedanke noch ein Quantum Trost: „alle werden erlöst!“ Zum Beispiel in die laue Salzburger Nacht mit einem eisgekühlten Sommerspritzer.

 

https://www.salzburgerfestspiele.at/p/verrueckt-nach-trost


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Wer ist wir?     ***

Installativer Rundgang mit Beiträgen von Max Czollek, Cana Bilir-Meier, Thomas Perle, Atif Mohammed Nour Hussein, Branko Janack u.a.

Dramaturgie, Produktionsleitung und Künstlerische Leitung: Fabian Schmidtlein, Greta Calinescu

Staatstheater Nürnberg (Schauspiel)

Premiere: 10. Juni 2022 (Kongresshalle)

Besuchter Rundgang: 23.6.2022 (19.30 Uhr)

 

Die Kongresshalle auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände ist seit langem eine Ansammlung von Steinen des Anstoßes, ein dankbares Objekt für den Streit über die richtiger Erinnerungskultur. Teile des kolossalen Gebäudes werden kulturell genutzt: von den Nürnberger Symphonikern und zeitweise als Ausweichquartier des Nürnberger Sprechtheaters. 2009 inszenierte Kathrin Mädler Peter Weiss‘ Auschwitz-Oratorium „Die Ermittlung“ als bedrückenden Rundgang durch die Backstein-Flure der Kongresshalle. 2022 wird nun ein „installativer Rundgang“ in Bereichen der Außenfassade angeboten: „Wer ist wir?“ soll als eine Mischung aus Audio-Spaziergang und Stationen-Drama die Probleme zivilgesellschaftlichen Gedenkens thematisieren.

Fabian Schmidtlein und Greta Calinescu haben dazu verschiedene KünstlerInnen um Beiträge gebeten, die sich auf sehr unterschiedliche Weise mit der Aufgabenstellung auseinandersetzen. Kleine Besuchergruppen starten im 30-Minuten-Takt an der Südpforte des Volksfestplatzes, statt Drei im Weckla, Zuckerwatte und Achterbahn gibt es am Anfang ein anspruchsvolles Essay von Max Czollek unter dem Titel „Beunruhigungskultur“ auf die Ohren - nicht ganz leicht zu rezipieren, wenn nebenan leise der Dutzendteich plätschert und die Sonne vom Himmel sticht. Aussagen von Betroffenen des NSU-Terrors (eingelesen von Süheyla Ünlü) bilden dann eine halbschattige Standpauke und einen Sprung in die bundesdeutsche Aktualität. An der Außenwand der Kongresshalle warten Aydin Aydin und Thorsten Danner neben einer lebensgroßen Puppe im Rollstuhl, die der Berliner Atif Hussein geschaffen und mit einem Monolog versehen hat. Ziemlich sprunghaft und höchst assoziativ berichtet die Zausel-Figur von Beobachtungen am Rande des Monumental-Gebäudes. Die nächste (vierte) Station ist eine Art Ausstellung mit Video-Präsentation, die von Nachfahren der Gastarbeiter-Generation gestaltet wurde. Immerhin war die Kongresshalle eine lange genutzte Packstation der Versandfirma Quelle. Was das wiederum mit der bayerischen Revolution von 1918 und dem Unabhängigkeitskampf in Pakistan zu tun hat, muss der Zuschauer selbst erschließen. Süheyla Ünlü und Anette Büschelberger laden danach vermeintlich zu einem Glas Schampus ein, predigen aber mit Texten von Hannah Arendt und Eike Geisel eher hart gekalktes Wasser - noch dazu in einer schwer aufzureißenden Alu-Folie. Die knapp zweistündige Runde endet mit einem Wiesen-Picknick, bei dem eine migrantisch strukturierte Gruppe der Nürnberger Stadtgesellschaft - instruiert von Theaterpädagogin Anja Sparberg - unterschiedlich spannende Ich-Botschaften aufsagt, immerhin mit wuchtigem Postkarten-Blick auf die Kongresshalle.

Das Ganze ist ein manchmal mühsamer Walk of german life für gutwillige Kultur-Touristen, die auch Ratlosigkeit noch als verstörende Anregung empfinden. Kathrin Mädlers Ermittlung hatte da vor etwa 13 Jahren eine ganz andere Sprengkraft. Mittlerweile wurden schon mehrere Rundgänge aus „dispositionellen Gründen“ abgesagt - zu wenig Nachfrage?

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/wer-ist-wir-ua/09-07-2022/1730


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Der unsichtbare Reaktor (UA)   ****

Projekt von Nis-Momme Stockmann und Jan-Christoph Gockel

Regie: Jan-Christoph Gockel

Staatstheater Nürnberg (Schauspiel)

Premiere am 21.5.2022

 

„Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen“ formulierte Matthias Claudius empfindsam und treffend. Postmodern weitergedacht heißt das dann bei dem Schriftsteller Nis-Momme Stockmann (geboren 1981): wenn mich das Goethe-Institut nach Japan einlädt, dann kann ich daraus ein theatralisches Reiseprojekt mit politischem Hintergrund machen. Es war 2012, ein Jahr nach dem katastrophalen atomaren GAU in Fukushima, als Stockmann sich entschied, in dieser Region mit Notizblock, Fotoapparat und Videokamera zu recherchieren. Es entstanden Interviews mit dort lebenden Menschen, Nachfragen bei Fachleuten und viele Bilder einer zerstörten und verstrahlten Landschaft. 2016 fuhr er noch einmal dorthin, die Sammlung von Notizzetteln und audiovisuellen Dateien schwoll an. 2021 hätte dann die nächste Reise mit einer Gruppe von Schauspielern stattfinden sollen, weil „wahr ist es nur, wenn man da war“.

Doch die Pandemie verhinderte diesen Schlussteil des Projekts, und Stockmann kam auf eine einerseits abwegige, andererseits geniale Idee: er mietete sich den Japaner Yuichi Ishi als Stellvertreter. Ishi war Eingeweihten durch „Family Romance LLC“ (2019), den Film von Werner Herzog bekannt, in dem der deutsche Regisseur das skurrile Geschäftsmodell des Japaners dokumentierte. Bei der Firma „Family Romance“ kann man Stellvertreter für alle Lebenslagen buchen.

Damit war nach zehnjähriger Projekt-Arbeit der Weg frei für die Uraufführung des Stückes am Staatstheater Nürnberg in der Regie von Jan Christoph Gockel, der zuletzt „Wer immer hofft, stirbt singend“, eine vogelwilde Zirkusshow nach Motiven Alexander Kluge an den Münchner Kammerspielen inszeniert hatte.

Wer jetzt freilich ein nüchternes politisches Doku-Drama über den Reaktor-Unfall und seine Folgen erwartet, wird enttäuscht. Dem reisenden Schriftsteller Stockmann geht es vielmehr um eine Selbstreflexion seiner eigenen Rolle als Katastrophen-Tourist und um einen oft sehr emotionalen Drahtseilakt zwischen Wirklichkeit und emotionaler Träumerei. Dazu bringt er sich selbst als fünfmal gespaltene Persönlichkeit auf die Bühne, viermal in Gestalt der Schauspieler Julia Bartholome, Llewellyn Reichmann, Moritz Grove und Raphael Rubino, einmal durch seinen medial vermittelten Stellvertreter Ishi. Mit Kostümen in Holzfäller-Karos, Brillen und Plastik-Perücken illustrieren sie die inneren Monologe des Autors im Stile eines „Making Of“: Wie soll ich anfangen? Ist das Thema nicht schon längst vom Tisch? Je näher man einer Sache kommt, desto unschärfer wird sie! Teilweise fürchtet man, das gewagte multimediale Projekt könnte sich in einer Art „Lost In Translation“ verlieren: „Sag was, damit es weitergeht!“, „Ich bin ratlos“, „An dieser Sache bin ich gescheitert“.

Doch am Ende ist es ein Fundstück am Strand von Fukushima, eine auf einer Schutthalde liegende Tee-Tasse, die als geisterhaftes Sinnbild des ausgelöschten Lebens in den Vordergrund rückt. Oder ist es doch nur ein banaler Glühwein-Becher vom Nürnberger Christkindlesmarkt? Die Wahrheit ist fragil!

Regisseur Gockel hat zusammen mit Julia Kurzweg (Bühne und Kostüme) die schräge Stockmannsche Zettelwirtschaft geradezu poetisch in Szene gesetzt. Mit einer verstörenden Dialektik aus schwülstigem Barock-Dekor und moderner Video-Technik wird die Doppeldeutigkeit des Stückes unterstrichen. Auf der großen Leinwand sieht man die Video-Passagen aus Fukushima, auf der Bühne tanzen die Akteure mit fluoreszierenden Umhängen im Schwarzlicht. Zahnräder aus den Anfängen der Industriellen Revolution befördern ein Stockmann-Alter-Ego mit einem Wolken-Ballon wie Deus ex machina aus dem Schnürboden, putzige Tsunami-Wellen schieben sich als Laubsäge-Arbeiten über die Bühne, dazu mutiert als Soundkulisse der Song „La mer“ zu einem pumpenden Techno-Beat.

Warum in Deutschland am 30. Juni 2011 der Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen wurde, warum in Frankreich - und auch in Japan! - unverbrüchlich an der Atomenergie festgehalten wird, das kann und will uns dieses Theaterstück, das sich ganz demütig „Projekt“ nennt, nicht erklären. Wie wir aber mit der Realität von (unsichtbaren) Katastrophen umgehen können, ohne in eine resignative Paranoia zu verfallen, das haben Stockmann und Gockel kongenial ausgebrütet.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/der-unsichtbare-reaktor-ua/31-05-2022/1930


Schtonk!   ****

nach dem Film von Helmut Dietl und Ulrich Limmer / Bühnenbearbeitung: Marcus Grube

Regie: Christian Brey

Staatstheater Nürnberg (Schauspiel)

Premiere am 7.5.2022

 

Er ist wieder da! Der Skandal um die gefälschten Hitler-Tagebücher, der 1983 die Glaubwürdigkeit der Wochenzeitung „Stern“ erschütterte, ereignete sich zu einer Zeit als der Begriff Fake News gänzlich unbekannt war, als gelbe Telefonzellen zur Kommunikation genutzt wurden und als der SPIEGEL-Journalist Claas Relotius noch in den Kindergarten ging. Für alle, die zur U-50-Generation gehören und das skurrile Geschehen nicht live mitverfolgt haben, hier die Fakten: der Reporter Gerd Heidemann vermittelte die von Konrad Kujau gefälschten Hitler-Tagebücher an die Illustrierte „Stern“, die dafür knapp 10 Millionen D-Mark springen ließ und den Fund als Weltsensation feierte, nach der „weite Teile der deutschen Geschichte … neu geschrieben werden“ müssen.

1992 machte Helmut Dietl, der weiß, dass die Medien-Realität oft die beste Satire ist, aus diesem Armutszeugnis der Sensationspresse einen viel beachteten Film mit Starbesetzung (Götz George, Uwe Ochsenknecht, Christiane Hörbiger, Harald Juhnke, Veronica Ferres u. v. a.); 2018 schrieb Marcus Grube für die Landesbühne Esslingen eine Theaterfassung, nun folgte auch das Staatstheater Nürnberg dem Textangebot.

Regisseur Christian Brey, in Nürnberg bereits erprobter Fachmann für leichtere Stoffe, musste allerdings eine Probenphase mit Pleiten, Pech und Pannen durchleben. Zuerst torpedierten zahlreiche Corona-Fälle im Ensemble die Zeitplanung und zwangen schließlich zu einer Verschiebung der Premiere um zwei Wochen. Gleichzeitig waren auch noch Personalrochaden notwendig, weil Maximilian Pulst (vorgesehen für die Hauptrolle des Hermann Willié) ans Wiener Burgtheater wechselt und weil Pauline Kästner (vorgesehen für die Rolle der Martha) sich nach Düsseldorf verabschiedete. So kam Justus Pfannkuch relativ spontan in den Genuss der Hauptrolle, die Rolle der Martha wurde kurzerhand ganz gestrichen.

Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Doch - oh Wunder - trotz all dieser Malaisen entstand ein bezaubernder Theaterabend, eine satirisch zugespitzte Komödie über Sensations-Journalismus und Nazi-Nostalgie, garniert mit punktgenauer Slapstick-Choreografie und stimmigem musikalischen Background. Anette Hachmann sorgt rund um die gut geschmierte Drehbühne für eine bewegliche Szenerie mit vier Handlungsorten: der Göring-Yacht „Carin II“, der chaotischen Fälscherwerkstatt von Fritz Knobel (Amadeus Köhli), einer mit bis zu vier Personen füllbaren Telefonzelle und dem Besprechungs-Büro der Zeitung. Deren Polstermöbeln ging zwar vernehmlich die Luft aus, was aber für die Inszenierung ganz und gar nicht zutraf. Christian Brey hält die 80er-Jahre-Show permanent am Laufen und schafft spannende Kontraste zwischen Jacketts mit Schulterpolstern und folkloristischen Trachtenjankern, zwischen Hitlers Blähungen und dem kommerzgesteuerten Opportunismus der Journalisten.

Justus Pfannkuch gibt dem Hermann Willié (nur echt mit einem Akzent auf dem letzten e!) die nötige Macho-Öligkeit und prinzipienlose Geldgierigkeit. Mit protziger Brusthaarperücke wirft er sich in Görings Oligarchen-Bademantel und becirct die adelige Nichte Freya von Hepp (Ulrike Arnold), die statt Reitpeitsche ein bisschen rhythmische Bandgymnastik demonstriert. Sehr schön auch Michael Hochstrasser (in seiner letzten Rolle vor der Rente!) als eitler Kunstprofessor Strasser (!), der jederzeit zu Gefälligkeits-Gutachten bereit ist. Genauso stilecht Thomas Nunner als Nazi-Devotionalien-Sammler Karl Lentz, an seiner Seite der krasse WK-2-Invalide, Obergruppenführer von Klantz (Thomas Esser). Gegen die späteren NSU-Terroristen wirken diese Retro-Chargen geradezu rührend. Artistisch beeindruckend der Stern-Verlagsleiter Dr. Wieland von Yascha Finn Nolting: immer bereit zu einer Rolle rückwärts in die Vergangenheit! Mit vielen kleinen Auftritten ein Meister der multipersonalen Rollenvielfalt und der Sprach-Variationen: Sascha Tuxhorn.

Thomas Esser produzierte zu dem bunten Treiben einen schmissigen Soundtrack, bei dem Freddy Quinns „Seemann, lass das Träumen“ zu einem Ballermann-Party-Hit mutiert.

Die Inszenierung beginnt mit dramatischen Feuer-Bildern vom Mai 1945 in Berlin, einer Audio-Sequenz aus Charlie Chaplins Film „Der große Diktator“ und der Verbrennung des Leichnams von Adolf Hitler, sie endet mit wahnhaften Phantasien des Star-Reporters, der - wie Kate Winslet auf der Titanic - vom Bug der „Carin II“ in den Untergang blickt. Darf man nun über Hitler und seine nostalgischen Nachlass-Verwalter lachen? An diesem Abend muss man!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/schtonk/13-05-2022/1930


Mein ziemlich seltsamer Freund Walter ****

von Sybille Berg

Regie: Marco Steeger

Stadttheater Fürth

Premiere am 24.4.2022 (Kulturforum Schlachthof)

 

Lisa ist ein junges Mädchen - im Originaltext knapp neun Jahre alt -, das sich am liebsten im kleinen Kinderzimmer aufhält, wo sie ein großes Kuschelkissen, einen selbstgebauten Computer und ein leistungsfähiges Teleskop um sich hat. Die Welt draußen, ihr „hundekackfarbiger“ Wohnblock ist dagegen eine ständige Bedrohung, weil die Eltern - alkoholisiert und arbeitslos - sich um nichts kümmern, weil auf dem Spielplatz nur prollige Jung-Rapper darauf warten, ihr ein „Opfer“-Plakat auf den Buckel zu kleben und weil sie in der Schule zur gemobbten Einzelgängerin und zum Feindbild ihrer Lehrerin geworden ist.

Lisa wirkt also ziemlich realistisch, ist zunächst aber die Hauptperson in einem Theaterstück für Kinder und Jugendliche, das Sibylle Berg 2014 im Auftrag der Kulturstiftung NRW geschrieben hat und im Consol-Theater Gelsenkirchen uraufgeführt wurde. „Mein ziemlich seltsamer Freund Walter“ gibt es nun auch in einer bemerkenswerten Produktion des Stadttheaters Fürth, ausgelagert in das Kulturforum Schlachthof.

Marco Steeger - fast zwanzig Jahre lang Ensemblemitglied des Staatstheaters Nürnberg und schon immer ein Freund des jungen und jung gebliebenen Theaters - hat die Inszenierung übernommen und eine dynamische, moderne, effektvolle, gleichzeitig aber stets nachdenkliche Bühnenfassung in 80 pausenlosen Minuten gezaubert.

Auf rohen Paletten stehen drei originell illuminierte Glaskäfige (Ausstattung: Linda Hofmann) als Symbole für Lisas Horror-Orte: das Schlafzimmer der Eltern („Wir waren mal eine glückliche Familie“), der Spielplatz („es gibt was auf die Fresse“) und das Schulzimmer („einfach nur langweilig“). Dieses Stationen-Drama durchläuft Lisa jeden Tag, vormittags hin, nachmittags zurück. Doch plötzlich wird ihr Traum Wahrheit: nicht ein deus ex machina bricht in die Szenerie, sondern ein UFO mit exterrestrischen Touristen! Den meisten ist es auf der Welt jedoch zu kalt und zu fremdenfeindlich, nur der 345 Jahre alte Klakalnamanazdt bleibt als sympathischer E.T. zurück.

Lisa nennt ihn zur Vereinfachung Walter, und er startet mit ihr ein Überlebenstraining: sie lernt, wie man sich mit Kung Fu wehrt, wie man die kapitalistische Ökonomie hinterfragt und wie man Lebensqualität definiert. Am Ende steht eine für die Autorin Sibylle Berg fast überraschend positive Mutmach-Botschaft: Aufstehen! Wieder Gehen lernen! Du schaffst es jetzt auch alleine da unten!

Mit Spielfreude und Präzision hält das vierköpfige Ensemble die Geschichte am Laufen. Hannah Candolini ist eine zunehmend selbstbewusste Lisa, Sunna Hettinger und Frederick Redavid switchen temporeich zwischen der Erzählerrolle und der Darstellung von Eltern, Jung-Gangstern und Lehrerin. Mark Harvey Mühlemann stolpert mit einem Hut aus Gummihandschuhen und farbigem Eingeborenen-Kostüm als externer Evaluator durch den grauen Erd-Alltag. Poetry-Slam-Passagen, packende Video-Sequenzen und eine stimmige Hintergrundmusik runden die Fürther Berg-Expedition ab. Langer Beifall beim Premierenpublikum aus allen Altersgruppen.

 

https://www.stadttheater.de/stf/home.nsf/contentview/CBFD32D93729A471C125875E0028E8F0?Open&showId=7399&


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Amphitryon ***

Lustspiel von Heinrich von Kleist

Regie: Anne Lenk

Staatstheater Nürnberg (Schauspiel)

Premiere am 26.3.2022

 

Ach, Alkmene, was hast du dir nur dabei gedacht, als du - unwissend und hinterlistig getäuscht - mit dem Präsidenten des thebanischen Fußballverbands ins Bett gestiegen bist, während dein Mann, der berühmte Mittelstürmer Amphitryon, beim alles entscheidenden Endspiel der Weltmeisterschaft in Pharissa weilte, wo er mit drei Toren zum glänzenden Sieg beitrug? Hast du oberflächliche Spielerfrau nicht bemerkt, dass dir mit dem wertvollen Siegerpokal (im Original war es mal ein goldenes Diadem) ein X für ein U - oder besser: ein A für ein J - vorgemacht wurde?

Für die „Amphitryon“-Inszenierung im Nürnberger Staatstheater hat sich Anne Lenk, die 2020 und 2021 mit zwei Produktionen des Deutschen Theaters Berlin zum Berliner Theatertreffen geladen war, die Welt des Profi-Fußballs als (gewagte) Metapher einfallen lassen. Nun gut, auch da gibt es Fußball-Götter, die Dialektik von Schein und Sein spielt eine wesentliche Rolle und protziges Macho-Gehabe gehört zum Rollenmuster. Und wie sagte schon der legendäre schottische Fußballspieler Bill Shankly: „Einige Leute halten Fußball für eine Sache von Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es viel ernster ist!"

Wenn es jedoch um die tragischen Aspekte dieses Lustspiels von Heinrich von Kleist geht, dann entspricht die Fallhöhe der weiblichen Hauptperson gerade mal den zehn Zentimetern ihrer goldenen Plateauschuhe. Denn diese Alkmene (Anna Klimovitskaya) erscheint im Dallas-Look der 1980er Jahre mit Blondie-Perücke, erst im altrosafarbenen Chiffon-Mini, dann im langen Kleid mit Push-Up-BH (Kostüme: Sibylle Wallum), sie vermittelt etwas Objekthaftes und ist den Übergriffen des Jupiters schutzlos ausgeliefert. Erst als sie ahnt, dass mit ihr ein perfides Doppelspiel getrieben wird, als die Ungewissheiten der Wahrnehmung und auch bezüglich der eigenen Identität einsetzen, gewinnt sie an Profil und an weiblichem Me-Too-Selbstbewusstsein.

Ihr gegenüber stehen zwei Männer - ebenfalls mit blonder Perücke: der Ehemann Amphitryon (Sascha Tuxhorn) und der Göttervater Jupiter (Tjark Bernau), der auch als entrückter Olympier geliebt werden und als aus den Sternen herniedersteigender Liebhaber seine Lust-Befriedigung haben will. Es macht ihm offensichtlich eine teuflische Freude, die Irdischen in völlige Verzweiflung über sich selbst und über ihre Beziehungen untereinander zu versetzen. Beiden Herren mangelt es ziemlich an Attraktivität in ihren graukarierten Sporthemden mit der Rückennummer 10, den kurzen Feinripp-Unterhosen und den weißen Sportsocken, aber wer mit Bällen spielen kann, hat bei Frauen offensichtlich die besten Chancen. Für den echten Amphitryon entwickelt sich schnell eine bei Fußballern eher selten anzutreffende Identitätskrise, frei nach dem Buchtitel von Richard David Precht „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ Ähnliches gilt für den Öffentlichkeits-Referenten Sosias (Janning Kahnert), der aber in utilitaristischer Diener-Mentalität gerne seinen Namen an den Gott Merkur (Yascha Finn Nolting) abgibt. Das kann auch die Beziehung zur handfesten Charis (Lea Sophie Salfeld) nicht dauerhaft beschädigen.

Die Produktion war in Nürnberg schon seit zwei Jahren in Arbeit, nun hat man mit großen Pandemie-Pausen den Weg zur Premiere gefunden. Die Bühne von Judith Oswald mit vielfältig beweglichen Kassettenwänden, die sich auch trefflich als Video-Projektionsflächen eignen, erzeugt manchmal unruhigen Drehschwindel, wohl passend zu der Fake-Strategie der Götter. Das Dramaturgie-Konzept, an dem neben der Regisseurin auch Gastdramaturgin Andrea Vilter mitgestrickt hat, macht teilweise Spaß, doch es knirscht auch ein bisschen, wenn sich Blankverse mit Doppelpass und Viererkette vermischen sollen. Rhetorik-Professor Walter Jens, der für sich zu Lebzeiten die Gleichzeitigkeit von Hochkultur und Fußball-Leidenschaft eingeräumt hat, hätte an dem verwirrenden Treiben womöglich seine Freude gehabt. Endstand: ein leistungsgerechtes Unentschieden für Anne Lenk und ihr spielfreudiges Ensemble. Freundlicher Beifall des Publikums auf den Sitzplätzen, die Ultras von den Stehrängen waren noch nicht zugelassen.

Für Alkmene, der am Ende - ganz streng in Schwarz gekleidet - das berühmte Schlusswort („Ach!“) übrigbleibt, ist die Rolle als Leihmutter ein fragwürdiger Trost. Immerhin darf sich die thebanische Nationalmannschaft in ca. 18 Jahren auf einen neuen galaktischen Superstar namens Herkules freuen.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/amphitryon/01-04-2022/1930


Foto: Stefan Nimmesgern
Foto: Stefan Nimmesgern

Erich Kästner: Ein Mann im Schnee   ****

Regie: Martin Mühleis

mit: Walter Sittler

Stadttheater Fürth (28.1.2022)

 

Eigentlich sind es vier Männer, die für die Bühnen-Produktion „Ein Mann im Schnee“ verantwortlich zeichnen. Zuerst natürlich Erich Kästner (1899 - 1974) selbst, dessen Texte zum Thema Weihnachten und Winter die Basis für eine Mischung aus Schauspiel, Lesung und Musik bilden. Dann der Autor Martin Mühleis, der nun schon zum dritten Mal als Text-Koordinator und Regisseur einen Erich-Kästner-Abend gestaltet hat. Sympathischer Frontmann auf der Bühne ist der bekannte Schauspieler Walter Sittler als freier Sprecher und lesender Rezitator am Holztisch. Den stimmigen musikalischen Hintergrund besorgt Komponist Libor Ŝima, der für die sechsköpfige Band „Die Sextanten“ (mit Bandleader Uwe Zaiser am Saxophon und Lisa Barry - als einziger Frau - an der Violine!) weihnachtliche Melodien in ein leicht swing-jazziges Arrangement verpackt hat.

 

Schon vor einem Jahr hätte dieses mal heitere, mal nachdenkliche Schnee-Treiben mit Video-Background (Illustrationen: Mario Lars) im Fürther Stadttheater gastieren sollen, nun hat es bei immerhin 50-prozentiger Auslastung der Zuschauerplätze im grauen Omikron-Januar 2022 geklappt.

 

Im ersten Teil steht TV-Serien-Star Walter Sittler als Kästner mit Knickerbocker und Karostrümpfen auf der Bühne und erzählt von den turbulenten 1920er Jahren, wo es sich die Familie Thaler wegen der Arbeitslosigkeit des Vaters nicht leisten kann, ihrem Sohn Martin die Bahnkarte für die Heimfahrt aus dem Internat an Weihnachten zu bezahlen (aus: „Das fliegende Klassenzimmer“). Im kalten Berliner Dezember 1928 singt die Arbeiterklasse unterm Weihnachtsbaum: „Morgen, Kinder, wird’s nichts geben! / Nur wer hat, kriegt noch geschenkt. / Mutter schenkte euch das Leben. / Das genügt, wenn man’s bedenkt.“ Andererseits beleuchtet er satirisch das mondäne Treiben in Wintersportorten, wo sich Besserverdiener - wie auch der Autor Kästner! - mit der Drahtseilbahn auf sonnenbeschienene Gipfel trans­portieren lassen und bei Skilehrer Toni Privatkurse nehmen (aus: „Drei Männer im Schnee“).

 

Der zweite Teil versammelt Kästner-Texte über den Nachkriegs-Winter 1945, wo nun der 46jährige (lebenslang unverheiratete und damals auch noch kinderlose) Erich nicht zu seiner geliebten Mutter nach Dresden fahren kann und sich stattdessen an die Reichskristallnacht im November 1938 erinnert, die bei ihm mahnende Worte über die Umwertung aller Werte, über den Triumph des Inhumanen in der Zeit des Nationalsozialismus auslösen. Der eilige Nikolaus und der Hausierer in der Vorweihnachtszeit sind leider Trickbetrüger, und in der Silvesternacht blickt Sittler-Kästner bei 12 Grad unter Null vom Balkon auf die Ruinen von München und skandiert: „Lasst das programmen! / Und bessert euch drauflos!“.

 

Man wünschte heutigen Debatten manchmal etwas mehr vom Mut und von der Klugheit eines Erich Kästner, sein bekanntes Gedicht, das den Abend beschließt, sollte auf Neujahrs-Grußkarten gedruckt werden: „Wird's besser? Wird's schlimmer? / fragt man alljährlich. / Aber seien wir ehrlich, / Leben ist immer / lebensgefährlich.“ Lang anhaltender Beifall für Sittler & die Sextanten.

 

https://www.sagas.de/ensemble/walter-sittler-die-sextanten-in-ein-mann-im-schnee-weihnachten-mit-erich-kaestner


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Was ihr wollt    ***

von William Shakespeare

Regie: Rafael Sanchez

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 21. Januar 2022

 

Ach, Illyrien, du fernes Fantasialand für Gestrandete, für Liebessucher und Selbstdarsteller - wo bist du nur zu finden? Nach der „Was ihr wollt“-Inszenierung von Rafael Sanchez im Nürnberger Staatstheater kommt die geografische Frage einer Lösung etwas näher: die Insel muss irgendwo zwischen Ballermann, Ibiza und Tauris liegen. Dort treffen Paare und Passanten mit offenen Zweier-Beziehungen und offenen Rechnungen aufeinander, man feiert am Strand zügellose Partys, geht seinen diversen erotischen Neigungen nach und lebt nach der Methode „Alles ist verkleidet, nichts ist, wie es scheint“.

 

Die Bühne - konstruiert von Eva-Maria Bauer - zeigt sich in einer Raunacht im nasskalten deutschen Januar als wärmende Sandstrand-Idylle mit Fernweh-Garantie; Liegestühle, Sonnenschirme, Wasserbälle, Schwimmreifen und eine Kiste Corona-Dosenbier liegen bereit. Der Hintergrund ist eine große Videowand, die abwechselnd mit Meereswellen, quietschbunten Kreisen oder einem Aquariums-Bildschirmschoner mit Seepferdchen bespielt wird. Drohend formt sich in der Mitte ein schwarzes Loch, durch das am Anfang die schiffbrüchigen Zwillinge Viola (Süheyla Ünlü) und Sebastian (Justus Pfannkuch) an Land gespült werden.

 

Mit ihrer Männer-Verkleidung und einem hautfarbenen Brusthaar-T-Shirt bringt Viola ein Karussell der Irrungen und Wirrungen in Bewegung, in das die ganze Insel-Gesellschaft involviert ist. Als vermeintlicher Knabe Cesario erledigt sie Botengänge für den unglücklich liebenden Herzog Orsino zu dessen Angebeteter Gräfin Olivia, wird aber bald selbst zum Objekt der Begierde für die Gräfin. Und erst die Ankunft ihres verschollen geglaubten Zwillingsbruders Sebastian löst die Verwicklungen.

 

Man fühlt sich an einen Film von Paolo Sorrentino aus dem Jahre 2011 erinnert („La Grande Bellezza“), eine melancholisch-träumerische, hypnotisch-verführerische Kino-Geschichte über Exzess, Dekadenz und eitles Geschwätz, in der die italienische Promi-Gesellschaft von Silvio Berlusconi bis Flavio Briatore demaskiert wird. Beim Nürnberger Shakespeare gehören Hawaiihemden, Bermudahosen und Goldkettchen zum unverzichtbaren Inventar, man tanzt wie im Club Méditerranée den Bonga Cha-Cha-Cha als trunkene Polonaise oder singt mit dem Schmelz von Rolando Villazon „Unbreak My Heart“ oder „O Sole Mio“.

 

Gräfin Olivia (Stephanie Leue) torkelt als schrille „Lady In Black“ zwischen den blauweißen Polstern, Sir Toby (Felix Mühlen) und Sir Andrew (Pius Maria Cüppers) geben sich als dümmliche Malle-Proleten die Kante, und Dienstmädchen Maria (Pauline Kästner) schwelgt in sadistischen Phantasien: „Dreams Are My Reality“. Die Närrin (Adeline Schebesch) sondert weise Sprüche ab, die keiner hören will, und verkleidet sich gerne auch mal in einen scheinheiligen Geistlichen. Den skurrilen Kostüm-Höhepunkt (Ursula Leuenberger) bietet der gehörnte Hausmeister Malvolio (Nicolas Frederic Djuren), der sich im schwarzen Borat-Tanga (natürlich auch mit gelben Kniestrümpfen) der Gräfin nähert, dann aber - dank Videoprojektion - in Dunkelhaft versetzt wird. Von der beflissenen bayerischen (!) Polizei wird er mit Elektro-Schockern getriezt und angekettet dem Grafen Orsino (Amadeus Köhli) vorgeführt.

 

Man sieht also, dass Regisseur Raphael Sanchez der eigentlich unkaputtbaren Shakespeare-Komödie, die sich aus Verwechslungen und falschen Brief-Botschaften speist, ordentlich Zucker in den Hintern geblasen hat, dabei aber manchmal übers Ziel hinausgeschossen ist. Schrille Dialoge, hektische Musikeinspielungen, laute Revolverschüsse, nonverbaler Catch as catch can, ein bisschen Überdosis an Faschingstreiben - da macht sich im Corona-bedingt nur zu 25 Prozent besetzten Zuschauerraum manchmal ein lähmendes Gefühl breit: ist das nicht viel Lärm um nichts?

 

Die Inszenierung findet zum Glück aber noch einen höchst originellen und versöhnlichen Abschluss: fernab vom Originaltext startet Olivia einen grandiosen Monolog, in dem sie das ganze Bühnen-Personal sprachmächtig abkanzelt und damit in einer theatralischen Meta-Ebene die tragischen Abgründe aller Personen herausarbeitet. Danach flimmert an der Videowand noch ein selbstgemachtes Live-Musik-Video, in dem das ganze Ensemble in der Proben-Werkstatt beob­achtet wird. So kann ein Happy End für den aufgeklärten Theaterbesucher auch aussehen.

 

PS: Ob Shakespeares berühmte Amüsier-Droge auch Nebenwirkungen hat, erklärt „Thomas Gottschalk“ in einem genderpolitisch korrekten Video-Statement!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/


Foto: Stadttheater Fürth
Foto: Stadttheater Fürth

Mein Kampf   ****

von George Tabori

Regie: Ute Weiherer

Fürther Bagaasch-Ensemblebühne

Premiere im Kulturforum Schlachthof Fürth am 10.12.2021

 

Darf man über Hitler Witze machen? Charlie Chaplin (Regisseur und Hauptdarsteller des Films „Der große Diktator“), Edgar Hilsenrath und Timur Vernes (Verfasser der Romane „Der Nazi & der Friseur“ und „Er ist wieder da“) würden diese Frage eindeutig mit „Ja“ beantworten. Der ansonsten unbekannte Filmstudent Florian Wittmann hat mit seiner Neusynchronisation einer Hitler-Rede durch den Sketch „Leasing-Vertrag“ von Gerhard Polt einen veritablen YouTube-Hit gelandet. Und auch George Tabori hat 1986 entschieden, dass für die Auseinandersetzung mit der Unperson des 20. Jahrhunderts eher eine Farce geeignet ist. So entstand „Mein Kampf“ und erlebte 1987 die Uraufführung unter der Regie von Tabori am Wiener Burgtheater.

Beeinträchtigt von denkbar ungünstigen Rahmenbedingungen hat nun die Fürther Bagaasch-Ensemblebühne ihre Version dieses Stückes verwirklicht. Eigentlich sollte die Premiere schon vor ziemlich genau einem Jahr stattgefunden haben; die Pandemie hat dies verhindert. Dann starb Regisseurin Ute Weiherer am 1. Mai dieses Jahres, so wurde der neuerliche Premierentermin im Kulturforum Schlachthof zu einem posthumen Vermächtnis, belastet durch schmerzliche Corona-Auflagen. Umso mehr muss man der ambitionierten Produktion Beifall zollen und ihr mehr Zuschauer für die folgenden Aufführungen wünschen.

Taboris Stück ist ein hintersinniger, dialektisch angehauchter und teilweise provokanter arisch-jüdischer Dialog zwischen dem jungen Kunststudenten in spe, Adolf Hitler, und dem verarmten jüdischen Antiquar Shlomo Herzl, die beide um 1910 in einem Wiener Männer-Obdachlosenheim Aufnahme gefunden haben.

Karsten Kunde spielt den Hitler als grelle Karikatur mit blau-weißem Ringel-T-Shirt, Lederkniehose und Nazi-Undercut. Er leidet nicht nur unter geistigen Blähungen, liebt es, die Schlachthof-Säulen zu umarmen, träumt mit beleuchtetem Globus von Weltherrschaft und von Untertanen, die auf Gummibärchen-Niveau geschrumpft sind. Schon bei Brechts „Arturo Ui“ ahnte man: er ist ein mieser Schauspieler, er sollte in die Politik gehen!

Mit ihm zusammenwohnen muss Shlomo Herzl, den Uwe Weiherer als eine Mischung aus weisem Nathan und Woody Allen, aus analytischem Sigmund Freud und traurigem Clown verkörpert. Ganz utilitaristisch denkt er, man solle seine Feinde lieben wie sich selbst und fürs Geschäft auch mal eine Ausgabe des Neuen Testaments verkaufen. Bei seinem eigenen Roman, der den Arbeitstitel „Mein Kampf“ trägt, ist er über den Schlusssatz noch nicht hinausgekommen.

Zwei weitere aus der deutschsprachigen Literaturgeschichte wohlbekannte Figuren verkörpert Rike Frohberger (die Tochter von Ute und Uwe Weiherer). Einmal ist sie Gretchen, hier in der nympho-germanischen Lolita-Version, die nach einem Quickie mit Hitler bekennt: „Mir graut vor dir!“ Zum anderen ist sie der schwarz gekleidete Tod, der in Hitler einen begabten Würgeengel und Meister aus Deutschland erkennt.

Frank Strobelt vervollständigt das präzise Ensemble-Quartett als besserwisserischer Koch Lobkowitz und als blutrünstiger Heinrich Himmlisch, der mit dem Hackebeil ein Huhn schlachtet und auf dem Gas-Grill (?) zubereitet. Merke: Wer Vögel verbrennt, wird auch Menschen verbrennen!

Die Premierenbesucher haben natürlich nicht lauthals gelacht, beklatschten aber ein facettenreiches Täter-Opfer-Spiel, untermalt von Wiener-Walzer-Träumereien, drei abgenutzten Nachtlagern und nachdenklichen Monologen.

 

https://www.stadttheater.de/stf/home.nsf/contentview/77DAE085C479C25DC125875E0028E8E3?Open&showId=7287&

https://www.fuerther-bagaasch.de/


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Anfang und Ende des Anthropozäns (UA)  ****

von Philipp Löhle

Regie: Jens-Daniel Herzog

Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)

Premiere am 19.11.2021

 

Das Anthropozän ist ein Zeitalter, in dem der Mensch das Schicksal des Planeten Erde maßgeblich bestimmt. Der Auftakt dieser Epoche wird von Wissenschaftlern unterschiedlich definiert: ist es der Beginn des 17. Jahrhunderts mit der systematischen Kolonisierung Amerikas, ist es der Beginn des 19. Jahrhunderts mit der industriellen Revolution oder ist es die Mitte des 20. Jahrhunderts mit der militärischen Nutzung der Atomkraft? Gleichzeitig wird in Zeiten des vom Menschen verursachten Klimawandels auch schon über das Ende dieser Epoche spekuliert.

Philipp Löhle ist kein Experte für Geochronologie, aber ein aufmerksamer Beobachter aktueller Diskussionen und gleichzeitig einer der originellsten deutschsprachigen Stückeschreiber; jemand, der es schafft, aus einem Stück verpacktem Tofu ein leckeres Dreigang-Gourmet-Menü zu zaubern, jemand, der es kann, eine zunächst sehr theoretisch erscheinende Thematik in eine lebendige Theater-Erzählung umzusetzen.

Als Hausautor des Staatstheaters Nürnberg (seit 2018) hat er dieses Stück verfasst, das nun in der Regie von Intendant Jens-Daniel Herzog seine deutsche Uraufführung erfährt. Im Widerspruch zum Titel hat der Text eigentlich keinen richtigen Anfang und kein richtiges Ende, sondern wirkt wie eine russische Matrjoschka-Puppe, die man dreimal aufdecken kann, um dann wieder am Ausgangspunkt anzukommen. Drei Erzählebenen und drei Zeitebenen können geöffnet werden, und alle haben eine innere Verknüpfung und ein gemeinsames Leitthema: es geht jeweils um eine kleine Gruppe von Menschen, die nach einem privaten oder gesellschaftlichen Ausweg suchen.

In der vollautomatisierten Zukunftsebene, die an Motive der Dystopien „1984“ oder „Fahrenheit 451“ erinnert, werden ein Mann und eine Frau - sie heißen Nummer 27 und Nummer 42 - in einer Art Zeugungslabor interniert, damit sie im Rahmen des World Stupidity Programs („Wir werden immer dümmer“) intelligenten Nachwuchs produzieren sollen. 27 und 42 zeichnen sich nämlich durch Lesekompetenz (von Kochbüchern!) und halbwegs intelligente Denkfähigkeit aus.

Auf der Flucht aus dieser Zeugungs-Diktatur erinnert sich Nummer 42 an ihren US-amerikanischen Onkel John, der nach einigen Schicksalsschlägen das kulturell abgeschlossene Urvolk der Sentinelesen aufsuchen wollte, weil er dort vielleicht ohne falsche Sprache und ohne falsche Begriffe weiterleben könnte. Die „Kannibalen“ halten aber nichts von Fremden, schießen Pfeile auf ihn ab und stecken ihn einen heißen Kochtopf, der auf der Bühne allerdings mehr wie ein Whirlpool in einem Wellness-Hotel ausschaut.

Auf der dritten Ebene erleben wir Svantje Plunder und ihren Freund Taivo Tamm, die Johns Sohn überfahren und Fahrerflucht begangen haben. Im Auftrag der UN („World Safety Program“) konzipieren sie eine Methode, um den Atommüll im Weltall zu entsorgen und damit die Welt wenigstens von einem Risiko zu befreien. Die clevere Idee endet jedoch in einer Katastrophe: es regnet Farbe und der weltweite GAU wirkt wie ein apokalyptisches Kunstwerk. Die Menschheit lebt trotzdem irgendwie weiter, nur Mastermind Taivo wird später von einem Windrad-Rotor erschlagen und Svantje trauert um ihn an der Unfallstelle.

Löhles Schlau-Stück erfordert viel assoziatives Mitdenken, entschädigt aber durch punktgenaue satirische Dialoge und grelle Situationskomik. Die Nürnberger Premiere war wirklich ein Freitagabend for future, eine unterhaltsame Denkwerkstatt, ein subtiler Druck auf den Alarmknopf und eine satte Portion zupackendes Gegenwartstheater mit vielen Fragezeichen.

Mitschuld an diesem Erfolg ist das sechsköpfige Ensemble in 17 Rollen, allen voran die zierlich-hysterische Pauline Kästner und der tapsig-grobschlächtige Felix Mühlen. Intendant Jens-Daniel Herzog beweist in seiner ersten Regiearbeit für das Sprechtheater einen guten Blick für richtiges Timing, für funktionale Bühnenkonstruktion (Mathis Neidhart) und eindrucksvolle Videosequenzen (Karolin Killing). Die Befürchtung, dass der Mensch - im Gegensatz zu den Tieren - dumm ist und immer dümmer wird, trifft zumindest auf diese Produktion nicht zu.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/anfang-und-ende-des-anthropozaens-ua/23-11-2021/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Wolken.Heim. / Rechnitz (Der Würgeengel) /

Das schweigende Mädchen    ****

von Elfriede Jelinek

Regie: Jan Philipp Gloger

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 22.10.2021

 

Das ist das Haus Deutschland mit Blick auf die letzten 200 Jahre: im Keller lagern trotz sauberer Verputzarbeiten ein paar streng riechende Leichen, im Erdgeschoß befindet sich viel problematischer Restmüll und im Dach huldigen ein paar Dichter und Denker wolkigen deutschnationalen Idealen. Das ist auch die gleichzeitig geniale und diskussionswürdige Inszenierungs-Konzeption, mit der Jan Philipp Gloger drei Theatertexte von Elfriede Jelinek zusammenspannt und einen sehenswerten Beitrag zum bundesweiten Theaterprojekt „Kein! Schlussstrich“ abliefert.

„Wolken.Heim.“, eine Zitatencollage aus idealistischer Philosophie (Fichte bis Heidegger) und deutschsprachiger Dichtung (Hölderlin bis Kleist), entstand schon 1988 und bildet den kurzweiligen Prolog des Theaterabends. Das achtköpfige Ensemble entert in Alltagskleidung, mit Germanen-Rüstung, Loreley-Perücke und Heidegger-Tracht die Bühne und sucht sich Sprechplätze auf der schiefen Ebene des Daches. Die ideologiekritische Botschaft lautet: Wer von „Heimat“ und „Wir“-Gefühl fabuliert, decouvriert - wie in Max Frischs „Andorra“ - immer das Andere und bereitet den Boden für nationalistische und rassistische Identitätspolitik.

„Rechnitz (Der Würgeengel)“, mit dem die Nobelpreisträgerin schon 2009 den Mühlheimer Dramatikerpreis gewann, ist ein Boten- oder Kellnerbericht über ein Massaker an etwa 180 jüdischen Zwangsarbeitern, das Ende März 1945 in dem kleinen burgenländischen Ort Rechnitz anlässlich einer Feier im Schloss der Gräfin von Batthyany stattfand. Vor der Bühnen-Feuerschutzwand herrscht ein reges Treiben der Kellnerschar, die aber über das Geschehen eher schweigen als reden - ganz wie die Dorfbewohner nach 1945. Die Gräfin konnte unbehelligt in die Schweiz ausreisen, wo sie sich - blendend weiß gewaschen - in eine Art Wellness-Oase mit der Aufschrift „RUHE“ zurückzieht. Wer der Wut über solche Vorgänge nachspüren will, sollte einmal zum Vergleich Miroslav Krlezas Roman „Ohne mich“ (1938) nachlesen.

Der dritte Teil - uraufgeführt 2014 an den Kammerspielen München - springt in die unmittelbare Gegenwart des NSU-Terrors, wo 2013 die prozessuale Aufarbeitung der zehn Morde begann, wo die noch lebende Angeklagte Beate Zschäpe als „schweigendes Mädchen“ agierte und 2018 die Urteile gefällt wurde. Vor den verbrannten Resten der konspirativen Wohnung in Zwickau wagt die Inszenierung einen Drahtseilakt zwischen schrägem Klamauk und kritischer Betroffenheit. Ob die Transformation des Münchner Oberlandesgerichts in ein schrulliges Königlich Bayerisches Amtsgericht (mit dem Richter Amadeus Köhli) dem Thema dient, muss jeder für sich entscheiden. Die Gespräche der Tatort-Reiniger und der skurrile Dialog der beiden Katzen von Frau Zschäpe darf als Belebung von Jelineks ansonsten sehr voluminösen Textflächen vermerkt werden. Viel überzeugender ist da die TV-Show mit Moderatorin Lisa Mies, in der die die Fehleinschätzungen von Strafverfolgungsbehörden und seriöser (!) Presse verdeutlicht werden. Am Schluss schwebt die grandiose Annette Büschelberger als schwarzer Rachengel Elfriede über dem vervollständigten Haus und gibt die Parole aus „Wir müssen reden!“ - und nicht schweigen oder einen Schlussstrich ziehen!

Langanhaltender berechtigter Beifall für die spielfreudigen Schauspieler, für ein überzeugendes Bühnenbild (Marie Roth), für die große dramaturgische Leistung von Brigitte Ostermann und Regisseur Jan Philipp Gloger sowie für die Video-Recherchen von Martin Fürbringer

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/wolken-heim-rechnitz-der-wuergeengel-das-schweigende-maedchen/06-11-2021/1830


Foto: Kponrad Fersterer
Foto: Kponrad Fersterer

Spiel der Illusionen (L’illusion comique)    ***

von Pierre Corneille

Regie: Andreas Kriegenburg

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 1.10.2021

 

Neue Spielzeit - neues Glück? Mit viel Optimismus geht Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger in die Saison 2021/22 und hat für den Anfang etwas spielerisch Leichtes ausgesucht, ein Plädoyer für die sinnliche Kraft des Theaters. Das Schauspielhaus ist wieder voll mit erwartungsfrohen MaskenträgerInnen, auf der Bühne entfaltet sich ein Kessel buntes Drehen und Treiben, ein gereimtes (nicht immer gut verständliches) Sprachfeuerwerk im Rahmen einer fast 400 Jahre alten Spielvorlage, die viel Platz lässt für exaltiertes Agieren und für magische Momente. Pierre Corneilles gehobene Komödie ist phantasievolles Theater im Theater, allerdings nicht so zupackend wie die Komödien von Shakespeare und schon gar nicht so analytisch wie Goethes Wilhelm Meister und dessen theatralische Sendung.

Man kann sich wohl darauf einigen, dass der Inhalt in all seinen Facetten und in seiner Gratwanderung zwischen Realität und theatralischer Illusion gar nicht so wichtig ist, dass stattdessen die SchauspielerInnen und einige Aspekte der Inszenierung in Erinnerung bleiben werden. Das Ensemble setzt sich mit Verve in Szene, verdeutlich aber gleichzeitig einen Generationenwechsel am Nürnberger Theater. Während die Kammerschauspieler Hochstrasser, Nunner und Cüppers eher beobachtende Randfiguren mit netten kleinen Standbildern sind, rocken die „Jungen“ den Abend. Allen voran Llewellyn Reichmann, die als Dienerin Lyse für rhythmische Sprach- und Sportgymnastik und für querflötende Einlagen Szenenbeifall einsammelt. Ebenso spielfreudig Yascha Finn Nolting als prahlerischer Tölpel Matamore, Justus Pfannkuch als eiskalt-charmanter Liebhaber Clindor und Felix Mühlen mit einem extravaganten Rollen-Triell. Bei der Isabella von Pauline Kästner scheint wieder ein bisschen Tragödie in das rot ausgeschlagene Zirkuszelt - Nora und Antigone lassen grüßen!

Regisseur und Bühnenbildner Andreas Kriegenburg weiß mit seiner Erfahrung, wie man szenische Akzente setzt und wie man eine Bühne am Rotieren hält, hat mit den Kostümen von Andrea Schraad einen weiteren Hingucker, hätte aber bei der Textfassung ruhig noch ein paar Striche anbringen können. Am Schluss sind sich Publikum und Akteure einig: das Theater ist wieder da, live und mittendrin, vielleicht auch bald wieder als Ort der entspannten Pausen-Plauderei und des Hinterher-Schoppens.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/spiel-der-illusionen/09-10-2021/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Saal 600: Spurensuche (UA)   ****

von dura & kroesinger

Regie: Hans-Werner Kroesinger, Regine Dura

Staatstheater Nürnberg (Justizpalast Nürnberg, Saal 600)

Premiere am  25.09.2021

 

Zwei Schauplätze sind es, die den historisch interessierten Touristen in Nürnberg zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit einladen: zum einen das Reichsparteitagsgelände, auf dem auch 1935 die Rassengesetze verkündet wurden, zum anderen der Justizpalast in der Fürther Straße, in dem vor über 70 Jahren (genau: am 20.11.1945) der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof eröffnet wurde. Beide Erinnerungsorte beherbergen jeweils ein sehenswertes Museum: das Dokumentationszentrum und das Memorium Nürnberger Prozesse. Und mittlerweile kann auch das Staatstheater Nürnberg behaupten, mit je einer szenischen Arbeit diese externen Denkmäler bespielt zu haben. War es 2009 Peter Weiss‘ „Die Ermittlung“ (Inszenierung: Kathrin Mädler) als beeindruckender Gang durch die rohen Backsteingewölbe der Kongresshalle, so ist es nun ein weitgehend stimmiges Doku-Projekt von Regina Dura und Hans-Werner Kroesinger im Saal 600, in dem zwischen 1960 und 2020 ganz alltägliche Gerichtsverhandlungen stattgefunden haben, der aber jetzt in das Memorium-Konzept eingebunden wurde.

Die theatralische „Spurensuche“ mit fünf Anfängen muss mit einigen konzeptionellen Fragen umgehen. Wie lässt sich das unüberschaubare historische Quellenmaterial auf eine vorgegebene Spielzeit von etwa 90 Minuten eindampfen? dura & kroesinger (so der Markenname) entscheiden sich im Wesentlichen für eine exemplarische Perspektive, die aus den Aussagen dreier Prozessbeteiligter entsteht: Hermann Görings Vernehmung am 18.3.1946, bei der er sehr erhellend die Reichskristallnacht als Versicherungsproblem thematisiert, der bewegende Bericht der französischen Auschwitz-Insassin Marie-Claude Vaillant-Couturier und die nüchterne Bilanz des SS-Einsatzgruppenleiters Otto Ohlendorf über die Massenerschießungen an der Ostfront. Danach braucht man „keine weiteren Fragen“. Damit ist aber auch angedeutet, dass bei dieser nachdenklichen Aufführung die juristische Problematik der Nürnberger Prozesse nicht verhandelt werden kann.

Die zweite Frage zielt darauf, wie stark man an einem solch ernsthaften Ort theatralische Elemente einbinden darf/soll. Die Inszenierung schafft einen nicht scharf abgegrenzten Bühnenraum im historischen Raum (gestaltet von Rob Moonen). Vor einer funktionalen Videowand werden zwanzig helle Sperrholzwürfel unterschiedlich als Deko-Element, Sitzgelegenheit oder Redepulte arrangiert, viele weiße Papierstapel werden im Saal verteilt, aufgetürmt, zum Einsturz gebracht oder in die Luft geworfen. Das fünfköpfige Ensemble (Anna Klimovitskaya, Stephanie Leue, Adeline Schebesch, Nicolas Frederic Djuren, Janning Kahnert) bewegt sich trotz deklamatorischer Hauptarbeit in spätsommerlicher Alltagskleidung, legt Trinkpausen ein und verdeutlicht die mehrsprachige Atmosphäre des historischen Prozesses.

Das, was Theatermacher gerne ihrem Publikum wünschen (einen „spannenden“ Abend), wird im letzten Drittel eingelöst. Dann schlüpfen die Akteure aus ihren Sprechrollen und artikulieren eigene private Erinnerungsfetzen an die NS-Zeit. Dann befasst sich die Inszenierung kritisch mit den Misserfolgen der weiteren Entnazifizierung nach 1949 und illustriert in bestem Brechtschen Sinne („Der Schoß ist fruchtbar noch …“) durch einen langen Lauftext an der Videowand die ungebrochene rechtsradikale Tradition in Deutschland.

Bei den Nürnberger Prozessen hat man 1945 in dem erstaunlicherweise fast unzerstörten Justizpalast Platz für knapp 400 Pressevertreter und sonstige Besucher geschaffen, bei der „Spurensuche“ 2021 erlaubt die implantierte Stahlrohrtribüne leider nur Sitzplätze für 50 Personen. Dafür wird die sehenswerte Produktion in mehreren Blöcken über die gesamte Spielzeit gezeigt. Sie ist garantiert mehr als nur ein touristischer Tipp, sie ist ein historischer Moment.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-21-22/saal-600-spurensuche-ua/27-09-2021/1700


Was ihr wollt   ***

von William Shakespeare

Regie: Markus Nondorf

Theater im Kulturkammergut Fürth

Premiere am 29.7.2021

 

Rechtzeitig zu Beginn der bayerischen Sommerferien hat das Zwillings-Geschwisterpaar Viola und Sebastian (Anna Botzenhardt und Alec Wagner) Abiturzeugnis und Schnelltest eingepackt und eine Kreuzfahrt in den sonnigen Süden gestartet. Weil aber der Vergnügungsdampfer in Seenot gerät, müssen sie sich als Schiffbrüchige an die Küste des Fantasialandes Illyrien (liegt irgendwo zwischen Mallorca und Tauris?) retten und verlieren sich dabei aus den Augen. Auf dem Überraschungs-Eiland regiert der liebestolle Herzog Orsino (Michael Nowak), dessen Avancen von der coolen Gräfin Orsina (Varvara Imas) nur mit lasziven Hüftschwüngen und einem Trauerschleier kommentiert werden. Viola schlüpft auf Arbeitssuche in dreiviertellange Lederhosen, setzt sich eine Schieber-Kappe auf und mutiert zum Transgender-Cesario. Damit eröffnet er/sie ein unübersichtliches Bermuda-Dreieck der Irrungen und Wirrungen, der Eifersucht und der Verwechslungen.

So ungefähr hat William Shakespeare 1602 seine bis heute unkaputtbare Komödie „Was ihr wollt“ angelegt, die nun das Theater aus dem KulturKammerGut in der Freilichtbühne im Fürther Stadtpark an neun Abenden präsentiert. Regisseur Markus Nondorf ließ das Stahlrohrbühnengerüst mit schwarzen, roten und goldenen Tüchern verhüllen und verordnete den schwarz-weiß gekleideten Akteuren ein bisschen Charleston-Atmosphäre aus dem Berlin der goldenen Zwanziger. Die fünfköpfige Bühnenband - angeführt vom Posaunisten Heinrich Filsner - intoniert zeitgerecht „Yes sir, that’s my baby“ oder „O mein Papa war eine wunderbare Clown“ und unterstützt das Ensemble bei den wüsten Gesängen von „Halt‘s Maul, du Arsch“ bis „Love is a losing game“.

Die wirkliche Party geht aber bei den Rüpel-Szenen der Nebenfiguren ab: Sir Toby Rülp (Frank Strobelt) lässt keine Sektflasche ungeöffnet im Kübel und macht seinem Nachnamen alle Ehre. Sir Andrew Bleichenwang (Ralf Ahlborn) ist bei allen Intrigen mannhaft dabei, verliert aber beim geforderten Duell mit zwei grünen Regenschirmen etwas die Courage. Haushofmeister Malvolio (Oliver Reissig) wird zum Opfer eines Fake-Liebesbriefes von der Gräfin, er macht sich mit gelben Strümpfen und kreuzförmigen Strumpfbändern zum Affen und damit zur einzigen halbwegs tragischen Figur des Abends. Die Lieder des Narren Feste, der hier als weiblicher Clown auftreten darf (Andrea Gerhard), umrahmen einen schwungvollen Theaterabend im stimmungsvollen Ambiente trotz harter Sitzbänke, Abstands-Gebot und Stechmücken-Alarm.

Zum Schluss singen alle „Der Regen regnet jeden Tag“, was man der Produktion, die bis zum 6. August jeden Tag stattfinden soll, nicht wünscht. Langer Beifall des Publikums, unter das sich auch Textbearbeiter Oliver Karbus gemischt hatte.

 

http://tkkg-buehne-fuerth.de/


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Stolz und Vorurteil* (*oder so) ****

von Isobel McArthur nach dem Roman von Jane Austen

Regie: Christian Brey

Staatstheater Nürnberg (Sommerbühne)

Premiere am 23.06.2021

 

Das ist aber jetzt echt mal ein Fall für den Gleichstellungsbeauftragten des Staatstheaters Nürnberg: bei den beiden ersten Schauspiel-Live-Premieren im Jahre 2021 („Kluge Gefühle“ in den Kammerspielen und „Stolz und Vorurteil“ auf der Sommerbühne) agierten im Scheinwerferlicht acht Schauspielerinnen (ohne Binnen-I!), die zusammen insgesamt 24 Rollen (davon fünf männliche) verkörperten. Für die Herren des Ensembles blieb nur noch die Aufgabe eines Regisseurs (Christian Brey), eines dezenten Gitarren-Musikers (Thomas Esser) und eines hocherfreuten Ansagers (Jan Philipp Gloger) übrig.

Da wir aber wissen, dass Iro nie gut ankommt, zurück zu den Fakten des zweiten Premierenabends. Vor dem Schauspielhaus wurde auf der kahlen Pflaster-Wüste eine wuchtige Bühne mit perfekter Licht- und Ton-Ausstattung gebaut, davor finden sich locker gestellte Zweier-Stuhlgruppen mit Beistelltischchen für etwa 120 Zuschauer, die in der frischen Luft sogar die Masken während der Vorführung abnehmen dürfen. Der emsige Gastro-Service liefert in der Pause vorbestellte Getränke und Imbisse an den Platz. Wenn dann noch das Wetter mitspielt (am Eröffnungstermin regnete es nur 25 Tropfen in fünf Minuten), ist ein entspannter Abend garantiert.

Dazu wählte die Direktion als Mittel gegen die allgemeine Corona-Depression ein sehr leichtgewichtiges und unterhaltsames Stück aus. Es stammt von der schottischen Autorin Isobel Mc Arthur und ist eine absolut schräge Dramatisierung des Roman-Klassikers „Stolz und Vorurteil“ von Jane Austen. „Pride And Prejudice“, die Geschichte der Familie Bennet mit ihren fünf unverheirateten Töchtern Elizabeth, Jane, Lydia, Mary und Kitty, gehört zum Kanon der anglo-amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts, ein Gesellschaftsroman, der gehobene Unterhaltung mit bürgerlicher Adelskritik und moralischer Erbauung verbindet und dank seiner geschliffenen Dialoge leicht für die Bühne eingerichtet werden kann. Isobel McArthur ging ohne Respekt an dieses Werk und machte 2019 einen zündenden Theaterjux daraus.

Die Nürnberger Inszenierung lebt von geballter komödiantische Frauenpower, allen voran die herrlich verpeilte Annette Büschelberger und die schrille Julia Bartolome, von einem temporeichen Umkleide-Karussell, von netten, kleinen Regier-Einfällen und von erfrischend unperfekt vorgetragenen Pop-Songs wie „I Got You Babe“, „You’re So Vain“ oder „Lady In Red“. Farbenprächtige Blumen-Rankbögen schmücken die Bühne (Anette Hachmann), am Ende bekommen die Besucher sogar einen Blumengruß als Dank für die Treue zum Staatstheater: ein bisschen Hippie-Flower-Power und „Love Is In The Air“ schwebt über dem urbanen Asphalt. Ansonsten sagt der letzte Song alles zum Thema: „Da da da, ich lieb' dich nicht, du liebst mich nicht!“

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/stolz-und-vorurteil-oder-so/25-06-2021/1900


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Kluge Gefühle      ***

von Maryam Zaree

Regie: Mirjam Loibl

Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)

Premiere am 22.6.2021

 

Wenn erwachsene Kinder ihre Eltern zu deren Vergangenheit ausfragen, stoßen sie oft auf eine Mauer des Schweigens. Das ging der Generation so, die nach 1945 in der Bundesrepublik geboren wurde, das erlebte die Nachwendegeneration in der ehemaligen DDR. David Grossman machte aus diesem Motiv einen bewegenden Roman („Was Nina wusste“), in dem die Bewältigung der Vergangenheit im Tito-Jugoslawien zu einem harten Mutter-Tochter-Konflikt führt. Maryam Zaree - vielen eher als Schauspielerin bekannt - hat die Umstände ihrer Geburt 1983 in Teheran erst etwa dreißig Jahre später erfahren und aus diesem dramatischen Geschehen ein multimediales Projekt gestaltet: 2017 stellte sie ihren stark autobiografisch eingefärbten Theatertext „Kluge Gefühle“ auf dem Heidelberger Stückemarkt vor und gewann den Autorenpreis, ein Jahr später kam es zur Uraufführung in Heidelberg und zu einer Folgeproduktion in Berlin (Hebbel am Ufer). 2019 führte sie Regie in dem Dokumentarfilm „Born in Evin“, der die Zustände in dem Teheraner Gefängnis nach der islamistischen Revolution unter Chomeini aufarbeitet. „Kluge Gefühle“ ist nun die erste - thematisch völlig coronafreie - Live-Premiere 2021 im Nürnberger Schauspiel.

Tara, die junge Rechtsanwältin mit dem Spezialgebiet Asylrecht (Süheyla Ünlü) lebt als Single in Deutschland, fürsorglich belagert von ihrer Mutter Shahla (Stephanie Leue). Selbst bei ihrer Psychoanalytikerin (Pauline Kästner) öffnet sie sich nur mit angezogener Handbremse. Was ist der Grund für ihre Verunsicherungen? Ist sie zu klug, um Gefühle zu zeigen? Durch Zufall erfährt sie von dem Iran-Tribunal 2012 in Den Haag, wo ihre Mutter als Zeugin ausgesagt hatte: sie war als Oppositionelle eingesperrt und misshandelt worden und hat im Gefängnis „mit verbundenen Augen“ die Tochter zur Welt gebracht. Doch sie wollte das Kind im neuen Land schützen, ihr eine Zukunft frei von dem Grauen des Vergangenen ermöglichen.

Diese Spannung versucht Maryam Zaree immer wieder durch Anflüge von Ironie aufzulockern, manchmal erscheint Tara wie ein weiblicher Woody Allen, wie ein Musterbeispiel für misslingende Kommunikation in den Zeiten der Verdrängung und des Jargons der Eigentlichkeit. Der Schwebezustand zwischen flapsiger Partner-Suche, bockigem Frage-Antwort-Spiel auf der Psycho-Couch und der dramatischen Wiedererkennung der mütterlichen Tragödie kann nicht durchgehend überzeugen, da auch die Inszenierung von Mirjam Loibl sehr zurückhaltend und minimalistisch vorgeht. Die karge Bühne mit einer verschiebbaren Projektionswand (Thilo Ullrich) bietet wenig originellen Spielraum, Licht und Musik setzen kaum Akzente. Die drei Schauspielerinnen verlassen sich eher auf das gesprochene Wort als auf deutliche und deutende Körpersprache. Das Ergebnis ist ein nachdenklich stimmendes Kammerspiel, dem aber der große Zugriff auf das Thema nicht recht gelingen will.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/kluge-gefuehle/25-06-2021/1930


Foto: Sebastian Worch
Foto: Sebastian Worch

Der Schimmelreiter    ***

von Theodor Storm

für die Bühne eingerichtet von Christian Schidlowsky

Regie: Christian Schidlowsky

Gastspiel des Theaters Schloss Maßbach im Stadttheater Fürth (17.6.2021)

 

„Treffen sich sechs Nordfriesen in einer Bar …“. So könnte ein lauer Witz beginnen - oder die theatralische Umsetzung der bekannten Novelle „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm. Christian Schidlowsky, in der Region als Gründer des Theaters Pfütze bekannt, hat den 1888 erschienenen Prosatext für die Bühne eingerichtet und vor einem Jahr mit dem Ensemble des unterfränkischen Theaters Schloss Maßbach zur Aufführung gebracht. Jedoch nur für kurze Zeit, denn bald nach der Premiere regierte der kulturelle Lockdown und erst die frühsommerlichen Inzi­denzwerte 2021 erlauben eine Wiederaufnahme, die nun auch zweimal im Stadttheater Fürth gezeigt wurde.

Storms dramatisches Schauermärchen erzählt die Geschichte des jungen Hauke Haien, der an der Nordseeküste des 18. Jahrhunderts eine Karriere vom Kleinknecht zum Deichgrafen durchläuft, mit seinen ambitionierten und aufgeklärten Deichbauprojekten aber immer wieder auf Widerstand bei den Alteingesessenen stößt. Anders als der gealterte Faust, der am Ende seines Lebens als Landgewinner auf ein „paradiesisch Land“ und eine „kühn-emsige Völkerschaft“ schauen kann, der die Flut draußen keine Angst mehr macht, erlebt Hauke bei einer Sturmflut die Unberechenbarkeit der Natur und eine private Katastrophe. Seitdem geistert er als apokalyptischer Schimmelreiter durch die norddeutsche Volkssage.

Man könnte diesem Stoff eine Menge Aktualität abgewinnen: mit dem Klimawandel steigen die Meerespegel, Plastik-Kontinente schwimmen im Ozean und in vielen Bürgerbegehren werden ehrgeizige Großprojekte abgelehnt. Christian Schidlowsky verkneift sich aber diese Modernismen, er verlässt sich auf den thematischen Kern der Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft, Humanität und Aberglaube und lässt seine Schauspieler in Dialog und Erzähler-Chor das Geschehen trans­portieren. Das funktionelle Container-Bühnenbild von Peter Picciani mutiert von der Bar zum flachen Deich, und im Hintergrund rauscht in wechselnder Lautstärke die Nord/Mordsee. Mit einer abwechslungsreichen Sprech-Choreografie und vereinzelten Gesangseinsätzen spielen sich die Schauspieler Wollmützen, Sandsäcke und Angora-Felle zu. Benjamin Jorns gibt der Hauptperson jugendliche Dynamik, aber auch punktuelle Selbstzweifel, Anna Schindlbeck ist die standhafte Ehefrau Elke, die das Glück der kleinen Familie verteidigen will. Georg Schmiechen kann als hinterlistiger Gegenspieler Ole Peters Züge des aktuellen Populismus verkörpern.

So entwickelt die realistische Storm-Warnung trotz vereinzelter Durchhänger einen gewissen Sog - fast wie der gefährliche Priel, der am Ende den Deich unterhöhlt hat. Schade nur, dass angesichts der Ü-30-Temperaturen das lange vermisste Live-Erlebnis im Theater nur von einer sehr überschaubaren Besucherschar wahrgenommen wurde: Biergarten statt Deich-Bar!

 

https://www.theater-massbach.de/


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Phädra   ****

von Jean Racine

Regie: Anne Lenk

mit Ulrike Arnold, Maximilian Pulst u. v. a.

Staatstheater Nürnberg (Schauspiel)

Online-Premiere (auf YouTube) am 23.4.2021

 

Die große deutsche Rollladen-Firma „Roma“ wirbt in ihren Fernseh-Spots mit dem Slogan „Wenn sie mal für sich sein wollen“. Diese Assoziation drängt sich auf, wenn man das Bühnenbild von Judith Oswald als bestimmende Größe des Theaterabends erkennt. Denn sie hat für die Tragödie von Phädra und Hippolyt, einen rechteckigen Guckkasten gebaut, der überall von modernen Lamellen-Jalousien beschattet ist. Und so sind die Akteure wirklich für sich, wenn sie ihre Dilemmata dialogisch austragen. Sie haben natürlich auch keine Live-Zuschauer, sondern nur distanzierte Beobachter am Laptop, die diese eindrucksvolle Online-Verfilmung - die aber ohne nervige filmische Mittel auskommt und sehr oft dokumentarisch die Bühnen-Totale anbietet - verfolgen. Das karge Mobiliar hat Office-Charakter mit Edelstahl und Leder: ein Schreibtisch (mit Tasten-Telefon!), eine therapeutische (?) Liege und für alle Trauer-Fälle einen Kosmetiktuch-Spender.

Der mythische Stoff des Euripides, den Racine 1677 in die französische Klassik transportiert hat, ist im Grunde eine Variation des Ödipus-Motivs. Phädra, die zweite Gemahlin des Theseus, entdeckt ihre verbotene Liebe zu dem Stiefsohn Hippolyt und wagt es, als eine fälschliche Todesmeldung ihres Mannes eintrifft, sich vor dem jungen Mann zu outen. Dieser aber liebt vermutlich die am Hof festgehaltene athenische Prinzessin Aricia. Als Theseus doch lebend nach Hause kommt („mein Empfang ist Entsetzen“), entwirft die intrigante Amme Oenone für Phädra eine Ausrede: der Stiefsohn sei die Triebkraft dieser Annäherung gewesen. Damit nimmt die tragische Talfahrt ihren Lauf: Hippolyt wird vom Gott Poseidon in den Tod gerissen, die Amme stürzt sich schuldbewusst aus dem Fenster und Phädra greift zum Gift: „Der Tod / raubt meinem Aug das Licht und gibt dem Tag, / den ich befleckte, seinen Glanz zurück“.

Hausregisseurin Anne Lenk, die schon zweimal mit ihren Arbeiten zum Berliner Theatertreffen eingeladen war (leider noch nie mit einer Nürnberger Produktion), gibt dem Stück eine bemerkenswerte Spannung zwischen Moderne und Tradition. Einerseits wählt sie die klassische Schiller-Übersetzung, andererseits versetzt sie die Rollen ins Jetzt und lässt sie wie Personen aus dem heutigen Politikbetrieb erscheinen. Die Phädra der wunderbaren Ulrike Arnold ist ein bisschen eine Mischung aus Hannelore Kohl und Brigitte Macron, ein Charakter zwischen Licht und Schatten, zwischen Empathie und Staatsräson, zwischen weiblicher Emotion und hündischer Geste. Ihr elfenbeinfarbenes Lederkostüm (gefertigt von Sibylle Wallum) und die blonde Sturm-Perücke wirken wie ein corona-typisches Distanz-Signal, wie ein Panzer, hinter dem sich der wahre Mensch versteckt. Sie ist - wie es schon Racine deutete - eine tragische Person „weder völlig schuldig noch gänzlich frei von Schuld“.

Ähnlich der Hippolyt von Maximilian Pulst: mit gymnastischen Bewegungen und mit der Glätte eines Lederanzug-Yuppies kaschiert er seine Unsicherheit zwischen den beiden Frauen. Die selbst auf dem Computerbildschirm erkennbare Ensembleleistung wird abgerundet durch den schnauzbärtigen Theseus von Michael Hochstrasser, die Oenone von Julia Bartolome, die Aricia von Llewelyn Reichman und den aalglatten Erzieher Theramen von Nicolas Frederick Djuren.

Wir können uns im anschließenden Online-Chat auf das Fazit einigen „schwache Menschen sind wir alle“, schalten den PC ab und ziehen kontaktdurstig die Jalousien wieder hoch! Große Empfehlung für einen Besuch der Live-Aufführung - wann auch immer!

 

https://staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/phaedra/23-04-2021/1930


Macbeth **

von William Shakespeare

Kurznachrichtentheater

Regie: Jan Philipp Gloger

Staatstheater Nürnberg

Online auf Telegram am 12.3.2021

 

What’s up, Macbeth? Wie geht’s dir machtgeilem Autokraten? Die twittergerechte Antwort in sechs Wörtern lautet „Für Macht geh ich über Leichen!“ oder etwas später „An mir geh ich bald zugrunde!“

Not macht erfinderisch, und so hat ein Team um den Nürnberger Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger die Königstragödie aus dem frühen 17. Jahrhundert in ein Kurznachrichtentheater auf dem Messengerdienst Telegram verwandelt. Etwa 600 Chat-Mitglieder sitzen also am Freitagabend zu Hause vor dem MacBook Air oder anderen mobilen Endgeräten und beobachten passiv (!), was auf dem Account von MacBeth (dahinter verbirgt sich der Schauspieler Justus Pfankuch) so alles gepostet wird. In gut 100 Minuten ploppen dann zahllose Textnachrichten, animierte Emojis, 32 Bilder, 28 Audio-Sprachnachrichten, acht Videos und mehrere Links zu YouTube-Videos auf, die Macbeths Weg vom loyalen Feldherrn zum Königsmörder, zum Serienverbrecher und schließlich zum im Wahn Gerichteten nacherzählen. Das ist zwar technisch auf der Höhe der Zeit, jedoch rezeptiv eher anstrengend und emotional eine blanke Distanz-Katastrophe. Wer die Macbeth-Geschichte nicht vorher im Schauspielführer gelesen (oder natürlich online gegoogelt) hat, versteht nur noch Bahnhof oder - wie man heute wohl sagt - Datenserver.

Der Zuschauer ist ausgiebig beschäftigt, Hintergrundmusik (von Vera Mohrs) downzuloaden, Sprachnachrichten abzuhören und YouTube-Links rechtzeitig zu starten. Letztere und ein paar vorproduzierte Videos sind es dann, die für ein paar Momente entspanntes Zuschauen ermöglichen: zum Beispiel Maximilian Pulsts sächsisch-kabarettistische Version der Pförtnerszene, Macbeths Ausraster bei einem Festbankett, an dem auch der Schauspieldirektor teilnimmt, Lady Macbeth (Lisa Mies), die sich in einem blütenweißen Damenklo auskotzt, und eingestreute Pressekonferenz mit der Moderatorin Adeline Schebesch.

Irgendwann kommt aber der Moment, wo man mit Macbeth aufschreit „Ich will nichts weiter sehn und hören“ und sich nur noch auf das finale Fazit freut: „Das Leben ist ein schneller Schatten, ein Märchen von einem Depp erzählt, voll Lärm und Tollwut!“

Bezeichnenderweise empfehlen die Veranstalter, nach dem Abend die Telegram-App wieder zu löschen, denn sie wissen um die Fragwürdigkeit dieses asozialen Mediums („Die Wahrheit lügt!“), in dem sich vorwiegend anonyme Gewaltphantasten, Verschwörungstheoretiker und Antidemokraten tummeln. Diese Klientel ist immerhin ein passendes Umfeld für die Macbeth-Geschichte, hatte aber wohl zu diesem Zeitpunkt nicht den Macbeth-Account angeklickt.

Wenn dieser Abend wenigstens irgendetwas ausgelöst hat, dann den dringenden Wunsch, dass bald wieder richtiges Theater auf einer richtigen Bühne zu sehen ist.

 

https://staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/macbeth-ein-kurznachrichtentheater/12-03-2021/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Isola    ****

von Philipp Löhle

Theaterfilm von Sami Bill nach der Inszenierung von Jan Philipp Gloger

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

YouTube-Premiere am 26.2.2021

 

Die Ursache für die Weltwirtschaftskrise 1929 war eine Überproduktionskrise. Etwas anders verhält es sich heute: die Corona-Pandemie bringt als Folge eine Überproduktionskrise mit sich. Brauereien müssen ihr Bier wegschütten, Wintermode modert an den Kleiderbügeln der Damen- und Herren-Konfektionshäuser und die Theater beklagen einen Premierenstau. Auch das Schauspielensemble des Staatstheaters Nürnberg war während der Lockdown-Phasen nicht untätig und sucht nun nach Wegen, fertige Produktionen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Im Dezember sollte „Isola“, geschrieben von dem Hausautor Philipp Löhle, als Uraufführung im Schauspielhaus starten, nun hat Sami Bill, der in Jan Philipp Glogers Inszenierung für die Video-Installationen verantwortlich ist, einen Theaterfilm gedreht, der - umsonst und zu Hause - seine YouTube-Premiere feierte.

Löhles Stück, das seit April 2020 als Auftragsarbeit des Staatstheaters Nürnberg an der aktuellen Nachrichtenlage gewachsen ist, setzt auf den Verfremdungs-Effekt (allerdings ohne die brechtsche Lehrhaftigkeit) und führt den Zuschauer mit einer Pandemie-Parabel zurück in das Jahr 1838, in das Land der Burgen, der Schlösser und der Kleinstaaterei. Eine skurrile Biedermeier-Festgesellschaft trifft sich in den Räumen des jungen Grafen Wilhelm Friedrich von Munk (Tjark Bernau); doch bald ist von einem (mehreren?) Toten die Rede und von einem Killer (Brandstifter?), der irgendwo draußen vor den Türen sein Unwesen treibt. Man erzählt sich nun aber nicht - wie in Boccaccios „Decamerone“ - gegenseitig Novellen, sondern spricht von etwas Fremdem, auf das man schon lange gewartet habe. Der Totengräber (Raphael Rubino) bringt den ersten Sarg herein und preist seinen beruflichen Erfolg: „Übersterblichkeit, das ist mein Geschäft“. Die Akteure werden zur geschlossenen Gesellschaft, die sich innerhalb der 14 raumhohen Kassettenwand-Türen (Bühner: Franziska Bornkamm) verschanzen und dennoch ein Wechselbad von Sicherheit und Bedrohung erleben. Abstruse Wendungen und Verschwörungstheorien markieren den dynamischen Zickzack-Kurs der Handlung: Hat der Gastgeber alles nur erfunden, um seine Gäste einsperren zu können? Leben wir einen Traum oder träumen wir unser Leben? Dazu kommt noch der Naturforscher Professor Ambrosius Freudenbach (Maximilian Pulst), der Jugendfreund des Grafen, wieder in die Nähe des Schlosses; auf dem Weg dorthin berichtet er von seinen Schmetterlings-Forschungen, von Unterwasser-Entpuppung und dem Streben nach Licht und Luft. Als er Einlass begehrt, wird er als der mordende Fremde gesehen und mit einem Schürhaken durchbohrt.

Löhle hat also tief in dem Fundus der Schauer-Romantik und der Ikonografie der Zombie- und Horror-Splatter-Filme gewildert, die Figuren wirken, als wären sie einer Novelle von Ludwig Tieck entsprungen, die Handlung erinnert irgendwie an eine Detektiv-Story mit Hercules Poirot (Mord im Schloss?) in der Filmregie von Luis Bunuel oder an einen neuen Edgar-Wallace-Streifen. Letzteres ist aber unzutreffend, weil die Blicke nach außen keinen Londoner Nebel zeigen, dafür die Nürnberger U-Bahn-Station Opernhaus (umbenannt in „Isola“) und einen Elefanten, der nicht das sprichwörtliche Porzellan zertrampelt, sondern die Bestuhlung des Nürnberger Schauspielhauses!

In drei Drehtagen wurde aus der premierenfesten Bühneninszenierung von Jan Philipp Gloger ein schön schauriger Film, der deutlich mehr vermittelt als nur die brave Abfilmung des Bühnengeschehens. Anteil an dieser intensiven Psycho-Massage hat auch die grelle Hintergrundmusik von Kostja Rapoport und die spektakuläre Rollen-Interpretation der jungen Flora durch Annette Büschelberger.

Philipp Löhles brillanter Mix aus Assoziationen, Ahnungen und Anmerkungen zur leidigen C-Frage dauert 100 Minuten, erlaubt den Einsatz der Pausentaste und den Getränke-Nachschub aus dem Home-Cooling. Dennoch darf man sich über Jan Philipp Glogers Ankündigung freuen: „Wir werden / müssen das als Bühnen-Uraufführung zur Premiere im Schauspielhaus bringen!“ Denn wie sagt doch der Graf von Munk am Ende so treffend: „Es ist noch nicht vorüber!“

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/isola-ua/20-03-2021/1930


Corpus Delicti     ****

von Juli Zeh

Regie: Janning Kahnert

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Live-Stream-Premiere (Online) am 12.2.2021

 

Bei George Orwells „1984“ ist die Sache eigentlich klar: der Roman ist eine Warnung vor den Machterhaltungs-Strategien oligarchisch strukturierter Diktaturen, vor Überwachung und Manipulation der Bevölkerung. Etwas schwieriger liest sich Juli Zehs Dystopie einer Gesundheits-Diktatur aus dem Jahr 2050. Im Kern ist es ein unterhaltsamer Debattenbeitrag zu einer verfassungsrechtlichen Abwägungsfrage: was ist wichtiger - Gesundheit oder Freiheit? Der Roman war ursprünglich als Theaterstück konzipiert, das 2007 uraufgeführt wurde und nun, in den Zeiten der Corona-Pandemie, neue Aktualität gewonnen hat.

Janning Kahnert aus dem Ensemble des Nürnberger Staatstheaters hat die verordnete Passivität im Bühnen-Lockdown genutzt und hat als Regisseur das Projekt einer filmischen Umsetzung mit sieben befreundeten SchauspielerInnen aus Nürnberg, Hamburg, Hannover und Düsseldorf gestartet. Herausgekommen ist eine knappe Stunde YouTube-Video mit dem dezenten Charme einer Zoom-Video-Konferenz. Die Akteure sitzen distanziert im Home-Office vor ihrer Webcam und werden entweder alleine oder in Gruppen auf dem Bildschirm präsentiert. Das passt, weil das Stück Elemente einer Gerichtsverhandlung und zahlreiche inhaltliche Diskurs-Dialoge enthält. Zwei alternative Sequenzen sind mehrfach in den Ablauf eingeschnitten: die Bewegungen von Moritz Holl (Maximilian Pulst) in der freien(!) Natur und die willfährigen Talk-Bemühungen des Moderators Würmer (Nicolas Frederik Djuren) bei seiner TV-Sendung „Was alle denken“.

Die hauptsächlichen Gegenspieler sind die Biologin Mia Holl (Llewellyn Reichman) und Heinrich Kramer, der Vordenker der METHODE (André Kaczmarczyk). Kramer vertritt die These, dass die Erhaltung der Gesundheit der Bürger die zentrale Legitimation staatlicher Gewalt im 21. Jahrhundert sei. Dafür müssen auch drastische Einschnitte bei den aus dem 20. Jahrhundert gewohnten persönlichen Freiheiten hingenommen werden: es gibt z. B. implantierte Überwachungs-Chips, Fitness-Zwang, Rauch- und Alkohol-Verbot. Das müsse doch der „gesunde“, aufgeklärte Menschenverstand akzeptieren! Dagegen ist Mia Holl von ihrem Bruder Moritz beeinflusst, der für Freiheit und Natur kämpft und erklärt, das Leben sei ein Angebot, „das man auch ablehnen kann“. Moritz wird verhaftet und nach einem Justizirrtum verurteilt, in der Zelle begeht er Selbstmord. Dies treibt Mia in die radikale Opposition, in die Nähe einer terroristischen Vereinigung mit dem schönen Kürzel R.A.K. (Recht auf Krankheit). Dann wird auch sie verhaftet und das Urteil in erster Instanz ist eine besondere Form des Kaltstellens (Einfrieren auf unbestimmte Zeit). Doch weil der clevere METHODE-Staat keine Märtyrer produzieren will, wird noch eine Begnadigung ausgesprochen - dies jedoch mit systemkonformen Auflagen!

Normalerweise würde man hinterher bei einer Premierenfeier angeregte Diskussionen mit anderen Theaterbesuchern und einem Glas Wein führen, doch die Pandemie zwingt zu einer personell eingegrenzten Live-Diskussion auf der Bühne der Nürnberger Kammerspiele (moderiert von Dramaturg Fabian Schmidtlein), an der sich neben zwei Experten und dem Regisseur auch die ca. 600 Besucher aus dem Netz (das wäre immerhin ein volles Schauspielhaus gewesen!) chatmäßig beteiligen können. Ob Mia und Moritz Holl heute Querdenker wären, bzw. ob Heinrich Kramer heute im Beratergremium von Angela Merkel sitzen würde, darf gerne kontrovers weitergedacht werden. Schade nur, dass nach dieser anregenden Premiere noch keine Planungen für weitere Aufführungen von „Corpus Delicti“ - sei es auf YouTube oder irgendwann auf der Bühne - erkennbar sind.

 

https://staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/corpus-delicti/12-02-2021/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Take The Villa And Run   ****

von René Pollesch

Regie: René Pollesch

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 30.10.2020

 

Drei Tage vor dem kulturellen November-Lockdown präsentiert das Staatstheater Nürnberg noch eine spektakuläre Schauspiel-Premiere. René Pollesch, der designierte Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ist - angelockt von Direktor Jan Phillip Gloger - nach Franken gekommen, um mit vier SchauspielerInnen (Julia Bartolome, Süheyla Ünlü, Yascha Finn Nolting sowie Franz Beil, der Gast aus Berlin) und der örtlichen Dramaturgie eine neues Bühnen-Projekt zu gestalten. „Take The Villa And Run“ heißt der - wie meist enigmatische - Titel für diesen ziemlich ergebnisoffenen Arbeitsprozess; Assoziationen zu dem Woody-Allen-Film „Take The Money And Run“ (1969, dt. „Woody, der Unglücksrabe“) oder zu dem gleichnamigen Song der Steve Miller Band aus dem Jahr 1976 mögen erlaubt sein. Eigentlich aber bezieht sich Pollesch auf eine Ikone der Modelleisenbahn-Zeit, auf den Faller-Bausatz „Villa im Tessin“, den es ab 1961 mit 106 Einzelteilen und einer Bauanleitung zu kaufen gab. Denn dieses Symbol des Besitzbürgertums in der späten Wirtschaftswunderzeit ist Vorbild für das Bühnenbild, mit dem Nina von Mechow den Rahmen für ein kunterbuntes Geschehen schafft.

Zunächst ist aber, als Süheyla Ünlü im wehenden Satin-Morgenmantel die Bühne betritt, diese groß und leer und die titelgebende Villa bis auf den Grundriss verschwunden. Hat etwa jemand, der einbrechen wollte, in Brechtscher Dialektik gleich die ganze Villa geklaut? Ist dieser Jemand vielleicht der 14köpfige Jungmädchen-Chor, der bald den Raum bevölkert und gestylt wie New-Mexiko-Cowgirls aus einem Italo-Western in die Debatte eingreift. Die Chor-Truppe - darunter auch das heuer leider arbeitslose Nürnberger Christkind Benigna Munsi - versteht sich allerdings nicht als Kommentator in der antiken Tradition sondern als vielköpfiger Einzel-Akteur, der das dramaturgische Ideal der Rollendistanzierung und Rollendifferenzierung vorführt. Er kann gleichzeitig stehen und liegen, er kann nach rechts vorne und nach links hinten gehen, er kann in die Figur eines Museumsführers oder eines enttäuschten Liebhabers schlüpfen, er kann die ästhetischen Rituale des Mannschaftssports vorführen oder auch mal ganz banal eine Karaoke-Version von dem Rolling-Stones-Hit „As Tears Go By“ vorsingen („It is the evening of the day / I sit and watch the children play“). Vor allem aber kann der Chor aus den bereitstehenden Einzelteilen die Villa wieder aufbauen und mit dieser Heimwerker-Montage die Arbeitsweise des Dramatikers und Regisseurs Pollesch verdeutlichen.

Dieser füttert sein Ensemble in der Probenzeit mit vielfältigen Textbausteinen, die dann - wenn denn alles funktioniert - am Ende ein irgendwie anregendes und möglicherweise stimmiges Gesamtbild ergeben. Der auch in der Aufführung gesprochene Leitsatz lautet „eben ging mir gerade was durch den Kopf“, erinnernd an die Kleistsche Maxime von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden. Und im Kopf des René Pollesch lauern viele originelle Gedanken und Lesefrüchte. Das mögen Insider-Gags aus der Schauspiel-Szene sein, das dürfen gerne auch Theorien von Brecht und Foucault oder Ergebnisse der Quantenmechanik sein, nicht zu vergessen die reichen Bestände des modernen Wortmülls, der in allen Medien zur Bedienung freigegeben wird. Daraus wird dann postdramatisches Assoziations- oder Diskurs-Theater, kreatives Gedanken-Spiel ganz in der Tradition der bekannten Sprach-Wirrologen Jelinek, Handke oder Marthaler.

Einmal sagt ein Schauspieler vom Balkon der Villa herab; es sei wichtig, dass ein Endprodukt wertvoller sein müsse als sein dafür verbrauchter Rohstoff. Dies ist bei der Nürnberger Inszenierung vortrefflich gelungen, denn die sehr diversen Textstränge fügen sich zu einem fast poetischen Ganzen, das zwar keine Antworten gibt, aber ganz viele originelle Fragen stellt. Selbst wenn man bei manchen verrätselten Passagen nur begrenzt folgen kann, bleibt ein berührender Eindruck von dem, was Theater alles noch kann.

Am Ende wird die Villa leider wieder abgebaut, werden die Einzelteile im hinteren Bühnenraum vom Chor sorgfältig abgestellt, dann senkt sich ein Vorhang. Demonstrativer Beifall der 50 zugelassenen Besucher. Hoffentlich können die Bauteile ab dem Dezember wieder ausgepackt werden! Fight The Virus And Run!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/take-the-villa-and-run-ua/31-10-2020/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Antigone      ***

von Sophokles

Regie: Andreas Kriegenburg

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 10.10.2020

 

Es ist was faul im Stadtstaat Theben: König Ödipus hat seinen Vater ermordet und mit seiner Mutter vier Kinder gezeugt. Zur Strafe schicken die Götter eine Seuche, Ödipus blendet sich selber und verlässt die Stadt. Seine beiden Söhne Eteokles und Polyneikes sollen als Doppelspitze mit Rotationsprinzip die Stadt regieren, was grundsätzlich schief geht und mit einem Krieg um die Stadt endet, bei dem beide getötet werden. Also muss der Onkel Kreon als Autokrat her, um wieder Ordnung nach Theben zu bringen. Eine seiner ersten Maßnahmen ist ein Bestattungsverbot für den Angreifer Polyneikes.

So flapsig kann man die Vorgeschichte zur Tragödie „Antigone“ formulieren, doch das ist nicht der Stil von Regisseur (und Bühnenbildner) Andreas Kriegenburg. Er lässt zunächst einen achtköpfigen Chor in einer Art Gebetskreis mit Mundschutz und grober Khaki-Leinenkluft auf die verschattete Bühne treten, der, eingerahmt von den den Substantiven „Stille“ und „Schrei“, einen Prolog in gebundener Sprache vorträgt. Dazu rieselt beständig von oben Sand auf die Akteure; später wird dieser von Antigone als Grabbedeckung für ihren Bruder genutzt.

Danach die eigentliche Tragödie, jene dialogische Auseinandersetzung mit der Hybris eines Herrschers und dem Recht auf Widerstand. Die Szenerie bleibt gleich, die Seiten- und Hinterwände bestehen aus instabilen Sperrholz-Flächen, aus dem geheimnisvoll choreografierten Zombie-Chor lösen sich Einzelpersonen. Die berühmte Auseinandersetzung zwischen Kreon („Mich wird im Leben nie ein Weib regieren“) und Antigone („Mitlieben, nicht mithassen ist mein Teil“) wird gleich zweimal wiederholt - mit drei verschiedenen Kreons (Michael Hochstrasser, Adeline Schebesch, Amadeus Köhli): Erkenntnisgewinn gering!

Im Mittelpunkt der Inszenierung steht die Antigone von Pauline Kästner, doch im Gegensatz zu ihrer spektakulären Nora in der vergangenen Spielzeit, vermag sie dieser Figur außer verhärmtem Leid, physischer Erschöpfung und inflationärer Emotion wenig mitzugeben. Viel präsenter wirkt da die konsensorientierte Ismene (Anna Klimovitskaya) - möglicherweise die neue Leitfigur bei einer Krisenbewältigung. Die politische Dimension des Stückes gerade in der Gegenwart schimmert nur an wenigen Stellen durch, eher entsteht der gleichförmige Eindruck eines Sandkastenspiels mit Totentanz, erinnernd an manche Regiearbeiten von Ulrich Rasche (freilich ohne dessen gigantomanische Mechanik). Die pointierte Übersetzung des Textes durch Oliver Karbus, der vor langer Zeit in Nürnberg als Schauspieler und Regisseur reüssierte, fokussiert sich vor allem auf das aufklärerische Prinzip der Vernunft und auf eine Polemik gegen den Männlichkeitswahn. Das - zumindest - kann man in den Zeiten von Fake News und Trump gerne unterschreiben.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/antigone/16-10-2020/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder     ****

von Boris Nikitin

Regie: Boris Nikitin

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 19.9.2020

 

Zur Jahreswende 1999/2000 befürchteten viele den Weltuntergang durch den Zusammenbruch aller computer-basierten Systeme (Y2K) mit Folgen wie Börsencrash oder Crash der Infrastrukturen. Es kam nicht so schlimm: stattdessen wurde Angela Merkel Vorsitzende der CDU, Wladimir Putin russischer Staatspräsident und George Bush jr. US-Präsident. Und die westeuropäische Medienwelt erlebte mit der Reality-Show „Big Brother“ den Beginn eines neuen Formats, der in Deutschland ab Februar 2000 auf dem Privatsender RTL II ausgestrahlt wurde. Menschen gingen freiwillig (?) für 100 Tage in den Studio-Container und ließen sich in ihrem 24stündigen Alltag filmen: ein unverzeihlicher Tabubruch oder eine neue Form der Selbstverwirklichung?

Boris Nikitin hat schon seit dem März-Lockdown den Rückblick auf diese „Erste Staffel“ als Recherche-Projekt gestartet, nun stellt er ziemlich originalgetreu den Big-Brother-Container samt Video-Regieplatz auf die Bühne des Schauspielhauses.

Durch die ersten 70 Minuten vor der Pause muss man durch, denn hier hat die Inszenierung nur Abbild-Charakter und präsentiert mit sechs Schauspielern (Julia Bartolome, Süheyla Ünlü, Tjark Bernau, Yascha Finn Nolting, Maximilian Pulst, Cem Lukas Yeginer) ausgewählte Beispiel jener Papperlapapp-Kultur, erfunden von zynischen Programmdirektoren, die an das abgrundtief Dumme des Menschen glauben. Das meiste spielt sich innen ab und wird durch Kameras auf eine große Leinwand übertragen, nur manchmal treten die Bewohner ins Freie, auf die Liegestühle, an den Grill, an die Fitnessgeräte oder zum Hühnerstall. Besinnlich wird es, wenn Tjark Bernau sich in der Nacht aufs Klo zurückzieht und vielleicht über die Frage nach der Problematik des gelingenden Dialogs im modernen Drama bei heruntergelassener Unterhose nachdenkt. Beim bildungsbürgerlich-medienkritisch orientierten Zuschauer schleicht sich zunehmend ein Gedanke ein: „Ich habe mir den Quatsch nie angeschaut, warum muss ich das nun im Theater tun?“

Doch gemach; nach dem unverzichtbaren Informations-Input folgt im zweiten Teil ein virtuoses Spiel mit Parallelebenen, Verzerrungen und Irritationen. Süheyla Ünlü zitiert Passagen aus George Orwells Dystopie „1984“, Julia Bartolome verwandelt sich kurzzeitig in eine amerikanische Werbe-Tussi, die euphorisch die Einrichtungsgegenstände präsentiert, Tjark Bernau schlüpft in die Rolle eines Medienkritikers und Yascha Finn Nolting setzt zu einem furiosen Monolog über die Arbeitsplatz-Probleme in den Neuen Bundesländern an.

Diese erfrischenden Verfremdungen laden zur Selbstbefragung ein: Ist die ganze Welt mit YouTube, Instagram und Video-Überwachung schon zum Container geworden?

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/erste-staffel-20-jahre-grosser-bruder-ua/25-09-2020/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Das Erdbeben in Chili    ***

von Heinrich von Kleist

Regie: Jan Philipp Gloger

Staatstheater Nürnberg (Kammerspiele)

Premiere am 18.9.2020

 

Mit Sicherheitsgurt und angezogener Handbremse startet das Nürnberger Schauspiel in die Corona-Saison 2020/21: kleine Produktion, k(l)eine Bühne, kleines Publikum - zu dem aber immerhin der bayerische Kulturminister Sibler, der OB König und die Bürgermeisterin Julia Lehner gehörte.

Schauspieldirektor Gloger hatte für den Auftakt Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“ ausgesucht und als rudimentär szenisches Lesedrama für drei Schauspieler einstudiert. Bei Kleists 19 Reclam-Seiten (veröffentlicht 1806) geht es um die emotionale Achterbahn-Fahrt des Paares Jeronimo und Josephe samt ihrem unehelichen Kind Philipp. Wegen sittenwidrigem Verhalten soll sie mit Enthauptung bestraft werden, er plant im Gefängnis seinen Selbstmord. Doch ein verheerendes Ereignis, das Erdbeben, das 1647 in St. Jago (= Santiago de Chile) stattfindet, bedeutet für die beiden die überraschende Rettung und das erfreute Wiederfinden: „Wie viel Elend über die Welt kommen musste, damit sie glücklich würden“. Aber die Idylle und der Glaube, dass der menschliche Geist gerade angesichts einer Naturkatastrophe „wie eine schöne Blume“ aufgehe, währen nur kurz. Beim Dankgottesdienst (wofür?) in der Kirche kommt es zu einer Hasspredigt des Geistlichen gegen die Sittenverderbnis der Stadt, der aufgehetzte Mob verfällt sofort wieder in alte aggressive Verhaltensmuster und ermordet das sündige Paar mit Keulenhieben. Nur der kleine Philipp überlebt, er wird von Don Fernando als Pflegesohn angenommen - vielleicht ein Ausblick auf eine bessere Zukunft der Menschheit?

Bezüge zur gegenwärtigen Pandemie lassen sich da zweifellos finden, Kleist sprachlich fesselnde und ergebnisoffene Grübelei über Theodizee und die Dialektik der Weltgeschichte angesichts der Abläufe der Französischen Revolution lädt zur vertiefenden Nachbesprechung ein - was leider (noch) nicht in den Räumlichkeiten des Staatstheaters möglich ist!

Drei Ensemble-Mitglieder in leicht historisierender Schwarz-Weiß-Kleidung sprechen die Novelle ohne jede Kürzung vor einer schmucklosen silbergrauen Bretterwand (Bühne und Kostüme: Tanja Berndt), die kurz mit Morgenröte, häufiger mit Tageslicht oder Nachtdunkel angestrahlt wird: Pauline Kästner bewegt sich meist in der „Rolle“ der Josephe, Amadeus Köhli meist in der „Rolle“ des Jeronimo, Sascha Tuxhorn erledigt mit partieller Verstörung die erzählerischen Abschnitte und das heldenhafte Auftreten des Don Fernando. So entsteht der diskrete Charme eines Hörbuchs mit Bildschirmschoner und netter Hintergrundmusik - nach 55 Minuten ist alles vorbei.

Wer Lust zu einer vergleichenden Theaterfahrt hat, kann nach München reisen, wo das Residenztheater mit dem gleichen Text die Saison am 25. September eröffnen wird. Die Regie von Ulrich Rasche verspricht immerhin mehr Bühnenspektakel, mehr chorische Intensität und mehr musikalisches Drama.

Nürnberg spielt eben in dieser Saison zunächst mal in der 2. Liga!?

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/das-erdbeben-in-chili/19-09-2020/1700

 

https://www.residenztheater.de/stuecke/detail/das-erdbeben-in-chili


Zdenek Adamec (UA)      **

von Peter Handke

Regie: Friederike Heller

Salzburger Festspiele (Landestheater Salzburg)

Premiere am 2.8.2020

besuchte Vorstellung: 16.8.2020

 

Am 6. März 2003 hat sich der junge Tscheche Zdenek Adamec (18) auf dem Prager Wenzelsplatz öffentlich verbrannt und damit eine Serie von öffentlichen Selbsttötungen fortgesetzt, die 1969 der Student Jan Palach aus Protest gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes begonnen hatte. Adamec tat seine Motive in einer Internet-Botschaft kund, in der er die ganze Welt als "vom Geld dominiert und verdorben" bezeichnet, in der er das Fernsehen als "satanische Erfindung" tituliert, mit der Kinder zu blutrünstigen Monstern erzogen werden, und in der er von einer "echten Herrschaft des Volkes" träumt. Er beendet seinen Abschiedsbrief mit den Worten "Macht keinen Irren aus mir!"

Schon in seinem 2017 veröffentlichten Roman "Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere" ist Peter Handke auf diesen Fall gestoßen und lässt den jungen Mann Valter über Zdeneks Motive reflektieren: sein "Sterben war gemeint als Protest", er "hat sich aus der Welt katapultiert, um zu protestieren gegen die Welt". Nun entstand daraus ein Theatertext, der bei Suhrkamp veröffentlicht wurde und wenig später bei den verkürzten Salzburger Jubiläums-Festspielen seine Uraufführung fand. Der umstrittene Nobelpreisträger bemüht sich aber kaum um dokumentarische Recherche oder um dramatische Zuspitzung (wie das etwa Frank Wedekind beim Schülerselbstmord des Moritz Stiefel in "Frühlings Erwachen" getan hat), vielmehr mangelt er das Thema durch seine sehr beliebig wirkende Assoziations-Maschinerie, einer Mischung aus bildungsbürgerlichem name dropping und popkultureller Rückerinnerung. So entsteht ein lauwarmer, rätselhafter und leicht vergesslicher Theaterabend, in dem sieben rollenlose Schauspieler Handkes Textflächen aufsagen und drei Musiker banale und bedeutungsschwere Hintergrundmusik produzieren. Selbst das engagierte Programmheft der Dramaturgin Andrea Vilter kann mit einem mehrseitigen Glossar nicht erklären, warum plötzlich auf der Bühne Oldies wie "Black Is Black", "Summer Wine" oder "Memphis Tennessee" gesungen werden. Offensichtlich desorientiert steuert Regisseurin Friederike Heller die Akteure durch dieses sogenannte "Festspiel", das in einem quasi-sakralen Ambiente mit drehbarer gotischer Kreuzgang-Architektur stattfindet (Bühne: Sabine Kohlstedt). Sagen wir es direkt: Peter Handke ist ein belesener, aber weltfremder Scharlatan mit der Neigung zu punktueller Provokation, der eigentlich nichts mehr zu sagen hat, das aber mit sprachlicher Brillanz und Virtuosität trotzdem tut. Sein letztes sehens- und lesenswertes Produkt war "Immer noch Sturm" (2010).

 

https://www.suhrkamp.de/buecher/zden_k_adamec-peter_handke_42920.html


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Kaspar       *****

von Peter Handke

Regie: Jan Philipp Gloger

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 30. 11. 2019

 

Wer zufällig am Nachmittag im Stadion des 1. FCN eine desolate Mannschafts-Aufstellung erlebt hatte, würde gerne den Satz sprechen, den am Abend im Schauspielhaus der Findling Kaspar Hauser anfangs intoniert: „Ich möchte ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist“. Und der andere wäre dann der historische Stadionbesucher aus dem Jahre 1968 gewesen, der eine Meister-Elf erleben durfte, der der damalige Vollzeit-Provokateur Peter Handke ein „Gedicht“ gewidmet hatte. Die wenig poetischen Verszeilen schmücken auch kurzzeitig die Feuerschutzwand der Schauspielhaus-Bühne, vor der Kaspar (Felix Mühlen mit gefährlicher Fallsucht) und seine beiden Einsager (Maximilian Pulst mit intelligenten pantomimischen Ideen und Janning Kahnert mit präziser Diktion) zum ersten Mal sehr wörtlich aufeinandertreffen.

Ab diesem Moment wird mit großem Sprachwitz und Bewegungstalent die Geschichte „Des Widerspenstigen Zähmung durch Sprache“ gespielt, das Regisseur Jan Philipp Gloger zusammen mit den Dramaturgie-Zuarbeitern Katharina Gerschler und Sascha Kölzow aus dem 1968er-Sprechstück von Handke herausdestilliert haben. Die Regieanweisungen des Autors wurden radikal und konsequent ignoriert (auch die eigentlich vorgeschriebene Pause mit akustischer Sprachfolter für die Zuschauer!), die Sprechtexte zu etwa zwei Drittel gestrichen - und die Copyright-Ergänzung „von Peter Handke“ müsste nun eigentlich „von und nach und mit und über Peter Handke“ heißen. Denn eine heutige Inszenierung kann eigentlich die aktuelle Diskussion über den Nobelpreisträger nicht ausblenden. So entwarf das Regie-Team eine höchst amüsante Zwischen-Passage, in der die verquast-esoterische Sprache und die dubiosen politischen Einlassungen des Herrn Handke (mit gleich dreifacher Präsenz auf der Bühne!) ironisch zerlegt werden - oder mit Boethius: „Wenn du geschwiegen hättest …“. Ansonsten montiert Gloger die schier endlosen Textbausteine aus Spracherwerb, Sprach-Ritualen und manipulativer Sprache in ein unterhaltsames szenisches Konzept, das Stationen der deutschen Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zitiert (Bühne: Judith Oswald). Der derangierte Kaspar durchläuft ein gut bürgerliches Biedermeier-Ensemble und ein strenges Schulzimmer mit hölzerner Zweierbank und Lehrerpult, bis er und seine Kollegen schließlich in der verspiegelten Samstagabend-Disco beweisen, dass man Handkes redundante Ich-Sätze auch als geschniegelten Popsong vortragen kann (Musik: Kostja Rapaport). So vergehen die pausenlosen 90 Minuten - im Gegensatz zu der anfangs erwähnten Fußball-Ödnis - wie im Fluge; der Abend wird zur lustvollen Sprecherziehung mit der Chance für Selbstreflexion samt aktuellem Debatten-Beiwerk ohne besserwisserischen Zeigefinger. Kaspars resignatives Fazit „Schon mit meinem ersten Satz bin ich in die Falle gegangen“ darf bei der angeregten Nachbesprechung gerne vergessen werden. Zu Beginn der letzten Spielzeit hat Jan Philipp Gloger mit dem Ionesco-Abend „Ein Stein fing Feuer“ ein Ausrufezeichen des gar nicht so absurden Theaters gesetzt, das ist ihm nun mit „Kaspar“ in ähnlicher Weise wieder gelungen.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-19-20/kaspar/03-12-2019/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Nora     *****

von Henrik Ibsen

Regie: Andreas Kriegenburg

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

Premiere am 2.11.2019

 

Den Selbstzweifeln des Regisseurs Andreas Kriegenburg, ob man denn einer heutigen Schauspielerin noch die männlichen Unterdrückungsmechanismen des 19. Jahrhunderts zumuten könne, und ob es stimmig sei, den ersten weiblichen Emanzipationsversuch der Moderne (von der UNESCO als Weltdokumentenerbe gewürdigt) wiederum aus männlicher Perspektive zu inszenieren, ist es zu verdanken, dass das Publikum im Nürnberger Schauspielhaus eine furiose und zugleich nachdenkliche wie emotionale Version von Ibsens „Nora“ geboten bekam. Da mag auch ein bisschen Koketterie des erfahrenen Inszenierungs-Profis dabei sein, das Ergebnis des gut dreistündigen Theaterabends lässt es zu, alle Wenns und Abers beiseite zu wischen. Der Kniff, mit dem Kriegenburg schließlich seine Nürnberger „Nora“ legitimiert und zum Erfolg führt, ist ein doppelter: zum einen bedient er sich bei Bertolt Brecht, dem Theorievater des epischen Theaters, der schon vor etwa 80 Jahren forderte, dass der Schauspieler seine Figur lediglich zu zeigen habe, dass seine eigenen Gefühle nicht grundsätzlich die seiner Figur sein sollten. So entsteht über weite Strecken des Stückes ein anregender (neu geschriebener) Dialog zwischen der grandiosen Schauspielerin Pauline Kästner und ihrer Theaterfigur Nora Helmer. Dabei wandelt sich Pauline/Nora von der kapriziösen Lady in red zur rot geschminkten drama queen und schließlich zum Maskenball-Charlie-Chaplin, der angesichts des Ausbleibens einer wunderbaren Rettung nur noch den traurigen Abgang vollziehen will, der die Selbsterziehung nur in der Freiheit von Mann und Kindern verwirklicht sieht.

Die andere Aktualisierung besteht darin, dass sich Nora und Ehemann Torvald (Maximilian Pulst), der von ihr auch mal „mein kleiner Tori“ tituliert wird, über weite Strecken auf Augenhöhe begegnen. Der aalglatte Banker im Business-Anzug mutiert am Schluss zu einer derangierten Marilyn-Monroe-Puppe, er erkennt langsam, dass seine materielle Freiheit mit einem Rundlauf im Hamsterrad der Karriere erkauft ist.

Kriegenburg hat als gleichzeitiger Bühnenbildner einen funktionalen weißen, in der Größe veränderbaren Bühnenkasten (kein Puppenheim!) geschaffen, der als zentrales Bildsymbol auf der Rückwand eine überdimensionale Nora/Pauline-Aktfotografie zeigt: eine ganz und gar nicht pornografische Hügellandschaft, die Nora am liebsten mit sterbenden Föhren übermalen würde. Mit Plastik-Weihnachtsbaum, mobilem Kleiderschrank, E-Piano und Smartphone-Soundbox werden nur wenige Accessoires zugelassen. Dieses höchst reduzierte Mobiliar richtet den Blick auf das ebenfalls geschrumpfte Personal der Aufführung: Neben Nora und Torvald erlebt man in adäquater darstellerischer Qualität eine leicht verhuschte Kristine Linde mit Second-Hand-Klamotten (Julia Bartolome), einen um die Existenz kämpfenden Rechtsanwalt Krogstadt (Tjark Bernau) und einen den Tod ins Auge schauenden Pausen-Clown Dr. Rank (Raphael Rubino).

Langanhaltender Beifall und berechtigte Bravo-Rufe für Regie und Hauptdarstellerin. Unbedingt sehenswert!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-19-20/nora/03-11-2019/1900


Der Verschwender ***

von Ferdinand Raimund

Inszenierung: Georg Schmiedleitner

Landestheater Linz (Schauspielhaus)

Premiere am 12.10.2019

besuchte Vorstellung: 23.10.2019

 

Als Hugo von Hofmannsthal die Uraufführung seines Stückes "Jedermann" 1911 in Berlin unter der Regie von Max Reinhardt erlebte, konnte er noch nicht ahnen, dass er damit einen modernen Klassiker der pädagogischen Besserungsliteratur geschrieben hat. Erst die Entscheidung, diese szenische Umsetzung des Bibelspruches "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“ zum touristischen Dauerbrenner der Salzburger Festspiele (seit 1920) zu machen, führte zur Kanonisierung des Mysterienspiels, das mittlerweile mehr vom Salzach-Ambiente denn vom Inhalt lebt. Dabei hatte der Österreicher Ferdinand Raimund schon 1834 ein Original-Zaubermärchen vom Sterben des reichen Mannes in Wien präsentiert: "Der Verschwender". Es handelt vom aufhaltsamen Abstieg des Julius von Flottwell, der sich trotz der Warnungen guter Geister dem Glanz des Mammons unterwirft und dann gut zwanzig Jahre später angesichts der Ruine seiner Existenz zu der Erkenntnis kommt: "Ich habe mich versündigt an der Macht des Geldes".

Regisseur Georg Schmiedleitner kehrt mit diesem Musterexemplar des Wiener Volkstheaters an die Anfänge seiner Karriere, nach Linz zurück. In einer bildstarken und musikalisch radikal modernisierten Fassung balanciert er dieses Stück zwischen bürgerlichem Tugendideal des 19. Jahrhunderts und aktueller Kapitalismuskritik. Die ziemlich vordergründige Gleichheits-Ideologie des Hobelliedes wird als Elektro-Pop-Hymne nur zitiert (Musik: Joachim Werner live am Klavier und an sonstigen Klangerzeugern), das wenig differenzierte Ideal der braven Handwerker-Familie wird durch Schminke und den Realismus der Rosa (Anna Rieser) kräftig konterkariert. Im Mittelpunkt der drehfreudigen Inszenierung steht Julius von Flottwell (Christian Higer), der zunächst im glänzenden Pyjama-Höschen mit protziger Goldkette durch das Publikum auf die Bühne klettert und dort einer feierfreudigen Party-Gesellschaft Kokain und Geldscheine zuwirft. Sein "Schloss" ist eine zweistöckige Wohnlandschaft, die oben als gläsernes Luxus-Penthouse und unten als Dienstboten-Areal mit Garage und enger Biedermeier-Kammer konstruiert wurde (Bühne: Florian Parbs). Am Ende sitzt Flottwell im abgewetzten Mantel wie Beckmann draußen vor der Tür seiner abgewrackten Residenz und lässt sich vom Tischler Valentin (Julian Sigl) erklären: "Da ist der allerärmste Mann dem anderen viel zu reich. Das Schicksal setzt den Hobel an und hobelt's beide gleich".

Leider kann die ambitionierte Bühnenfassung nicht auf ein gleichmäßig besetztes Ensemble zurückgreifen, sodass die Kontrastfiguren zum Verschwender (besonders der intrigante Kammerdiener Wolf) recht klischeehaft und oberflächlich ausfallen und selbst dem Protagonisten am Ende etwas die Luft ausgeht. Dennoch ein sehenswertes modernes Märchen, das im Gegensatz zum "Jedermann" mit surrealen Zwischentönen Nachdenklichkeit erzeugt.

 

https://www.landestheater-linz.at/schauspielhaus/stuecke/detail?EventSetID=3104&ref=3104155191241


Foto: Ruth Walz
Foto: Ruth Walz

Die Empörten    **

von Theresia Walser

Inszenierung: Burkhard C. Kominski

Landestheater Salzburg (Salzburger Festspiele)

mit: Caroline Peters, Silke Bodenbender, Andre Jung

Premiere am 18.8.2019

besuchte Vorstellung: 29.8.2019

 

Das ist die Crux von Auftragsarbeiten: man kauft die Katze im Sack, hofft auf Qualität der Namen und auf eine stimmige Vorbereitung. Im vorliegenden Fall sollte Theresia Walser ein Stück für die Salzburger Festspiele schreiben, das danach (= ab Januar 2020) noch am Schauspiel Stuttgart weiterverwertet werden kann. Das Ergebnis ist ein reichlich zähes Kammerspiel, das zwar gängige Problemfelder der Gegenwart anspricht, jedoch nie zu einem wirklich bedenkenswerten Theaterabend wird.

Die Autorin Walser liefert im Wesentlichen feuilletonistische Textflächen ab, die mal gebremst provokativ, dann wieder stilistisch bemüht in eine groteske Handlung gepresst wurden. Natürlich wissen wir, dass bei tragischen Unfällen (hier rauschte ein Pizza-Bote mit Lieferwagen in die Fußgängerzone) ein Terror-Verdacht in kleinen Städtchen zur Hysterie führen kann, dass Kommunalpolitiker manchmal Kot oder Dreck oder totes Getier im Briefkasten vorfinden, das man über Kreuze in Amtszimmern streiten kann und dass aus einstmals links sozialisierten Kindern auch rechtspopulistische Schreihälsinnen werden können. Doch was hier in knapp zwei Stunden die Bürgermeisterin (Caroline Peters), ihr Bruder, ihr Redenschreiber (Andre Jung) und ihre AfD(?)-Gegenkandidatin (Silke Bodenbender) im Vorfeld der geplanten Trauerfeier miteinander verhandeln, dreht sich mit gestelzten Monologen und banalen Dialogen virtuos im Kreis. Wenn dann Frau Achmedi (Anke Schubert), die Frau des Opfers, die Bühne betritt, wird es kurzzeitig besinnlich, doch auch ihre Logik und ihre Aussagen bleiben vage und ambivalent. Ach ja, wahrscheinlich ist eben die Welt so!

Die im Titel angekündigten "Empörten", also doch wohl die heute so bekannten Wutbürger sind auf der Bühne weder zu sehen noch zu hören. Und der literaturhistorische Verweis auf den Kreon-Stoff führt gänzlich in die Irre, denn es war ja Antigone die für ihren Bruder das Recht zur Bestattung einforderte. Hier aber will die Bürgermeisterin ihren toten Bruder in einer Holzkiste verstecken - also sozusagen die Leiche im Keller zwischenlagern - um bei der bevorstehenden Wahl bessere Chancen auf das Amt zu haben. Regisseur Kominski verlässt sich angesichts dieser Textschwäche ganz auf die Sprechmacht der Hauptdarsteller, wobei ihm aber Silke Bodenbender wegen offensichtlicher Profillosigkeit ausfällt. Auch die Bühne (Florian Etti und Sebastian Pircher) mit ihrer wenig schlüssigen Landschafts-Video-Projektion im Hintergrund bringt keine Spannung ins Geschehen. Zurück zum Anfang: Qualität der Namen ist eben noch keine Garantie für die Qualität eines Theaterabends!

 

https://www.schauspiel-stuttgart.de/spielplan/premieren/die-empoerten/

https://www.salzburgerfestspiele.at/p/die-empoerten


Die besondere Art des Aneinander-Vorbei-Redens

 

Georg Schmiedleitner über seine Regie- und Leseerfahrungen

mit dem Autor Ödön von Horváth

 

Welche Stationen der Begegnung / Auseinandersetzung mit Ödön von Horváth (als Leser, als Besucher von Theateraufführungen, als verantwortlicher Regisseur) fallen Ihnen ein?

Meine erste Begegnung als junger Regisseur fand am Anfang der 1990er Jahre in Linz statt. Damals arbeiteten wir an Horváths Frühwerk „Mord in der Mohrengasse“ und brachten eine sehr experimentelle Inszenierung auf die Bühne. Seitdem habe ich bei Horváths bekannten Volksstücken etwa neunmal Regie geführt, z. B. bei den Salzburger Festspielen, im Wiener Volkstheater oder im Nürnberger Staatstheater. Als Zuschauer war ich besonders beeindruckt von Christoph Marthalers Produktion „Kasimir und Karoline“ 1997 in Hamburg und von Martins Kuŝejs Interpretation der „Geschichten aus dem Wiener Wald“ 1998 ebenfalls in Hamburg.

 

Was reizt Sie als Regisseur an seinen Volksstücken?

In erster Linie die äußerst präzisen und hintersinnigen Dialoge. Auch die Schauspieler merken schon bei den ersten Proben, dass hier eine ganz besondere Art des Miteinander- und des Anein­ander­vorbeiredens stattfindet. Wenn ich die Sätze von Horváth höre wie etwa den von Oskar zu Marianne („Jetzt möcht ich in deinen Kopf hineinsehen können, ich möcht dir mal die Hirnschale herunter und nachkontrollieren, was du da drinnen denkst“), muss ich sagen, dass er ganz nahe bei Georg Büchner, bei Thomas Bernhard, ja sogar bei Samuel Beckett ist.

 

Wie aktuell ist für Sie das Stück „Geschichten aus dem Wiener Wald“?

Ich halte die „Geschichten aus dem Wiener Wald“ für ein zeitloses Werk, das allerdings auch ohne erkennbaren Zeitbezug aufgeführt werden sollte. Man sieht Menschen, die vom Leben überfordert sind, die mit dem Tempo der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung nicht mehr mithalten können. Sie versuchen diesen Konflikt irgendwie zu überspielen und ihr Scheitern durch vordergründiges Sprechen zu übertünchen.

 

Wie gehen Sie als Regisseur mit Horváths Aussage in seiner „Gebrauchsanweisung“ um, in der es heißt, es dürfe kein Wort Dialekt gesprochen werden.

Ich halte Horváths Gebrauchsanweisungen insgesamt für sehr hilfreich und teile die Meinung, dass man die Sprache der Akteure von deutlicher Dialektfärbung freihalten sollte. Gerade bei österreichischen Schauspielern ist es aber sehr schwierig, dies verständlich zu machen, da sie glauben in den berühmten Wiener Schmäh verfallen zu müssen.

 

Wie sehr fühlen Sie sich dem musikalischen Hintergrund des Stücks verpflichtet?

Ich habe bei allen meinen Inszenierungen die musikalischen Vorgaben zum Teil berücksichtigt, habe aber auch durch bewusste Überzeichnung der Lieder, die etwa beim Heurigen gesungen werden, für eine Verfremdung der Wiener Walzerseligkeit gesorgt.

 

Wie viel Tragödie würden Sie bei dem Stück zulassen?

Es gibt unzweifelhaft ausgesprochen tragische Momente: etwa dann, wenn der Zauberkönig nach Mariannes Auftritt in der Bar Maxim erklärt „ich bin in einer Untergangsstimmung“ um dann fortzufahren „jetzt möchte ich Ansichtskarten schreiben, damit die Leut vor Neid zerplatzen, wenn sie durch mich selbst erfahren, wie gut dass es mir geht“. Marianne kommt dann mit ihm ins Gespräch und erklärt, dass ihr Sohn seinen Namen Leopold trägt.

 

Wie erklären Sie Horváths Leitmotiv von der menschlichen Dummheit („nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit“)?

Es handelt sich nicht um das, was man herkömmlich als Dummheit bezeichnet, es ist vielmehr die angelernte Sprache, jene Kalendersprüche, mit denen die Menschen kommunizieren. Ich sehe da Parallelen zu der heutigen virtuellen Realität, wo die Leute via Twitter, Facebook und Instagram in einer drastisch verkürzten und damit auch deutlich weniger reflektierenden Sprache unterwegs sind.

 

Wie erklären Sie die Horváth-Renaissance einerseits und die Brecht-Flaute andererseits auf den deutschsprachigen Bühnen nach 1965?

Als Regisseur muss ich einfach feststellen, dass einem Horváth viel mehr Freiheiten lässt, dass der Raum für Interpretationen und Variationen viel größer ist. Wenn man Brecht inszeniert, ist man sehr stark von dem ideologischen Hintergrund und von dessen Dramenkonzeption gebunden. Das geht wahrscheinlich außer mir auch anderen Theaterschaffenden so.

 

Wie gehen Sie mit einer Theaterkritik um, die beispielweise schreibt: Es „fehlt Schmiedleitner ein entscheidender Zugriff auf das Stück. Drei Stunden lang wird nicht deutlich, was ihn an Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ eigentlich interessiert“ (Wien 2008)?

Das hat mich schon getroffen, ich habe es nicht mit Freude gelesen. Allerdings wurde ein paar Wochen später die Aufführung als „Kult“ tituliert. So unterschieden sich die Ansichten.

 

Das Stück „Geschichten aus dem Wiener Wald“ ist in einigen Bundesländern verpflichtende Lektüre für das Abitur. Sollte man ein solches Theaterstück im Unterricht nur lesen, ohne je eine Inszenierung gesehen zu haben? Ist Horváths Volksstück auch für eine Schülerbühne geeignet?

Grundsätzlich finde ich es gut, dass in der Schule Theaterstücke von Horváth gelesen werden. Man sollte im Unterricht allerdings unbedingt auch Raum lassen für Versuche einer szenischen Lesung, um den Schülern ein Gefühl für die Tiefe der Horváthschen Dialoge zu geben. Noch besser ist natürlich - wenn möglich - der Besuch einer Aufführung, die Anlass zu Diskussion gibt. Ob die „Geschichten aus dem Wiener Wald“ für eine Schülerbühne geeignet sind, wage ich zu bezweifeln. Denn es scheint mir für Amateure schwierig, die Abgründigkeit einiger Charaktere adäquat umzusetzen.

 

Das Gespräch wurde am 23.5.2019 in Nürnberg geführt


Der erste Mensch     ****

von Albert Camus

Inszenierung: Michael Mühleis (ensemble.sagas)

mit Joachim Król

Stadttheater Fürth (20.1.2019)

 

Vom Tellerwäscher zum Millionär? Keineswegs: vom bildungsfernen Kind im Armenviertel von Algier zum Literaturnobelpreisträger; das ist die unglaubliche (?) Geschichte von Albert Camus. Joachim Król präsentierte diese Erfolgsstory als musikalisch unterlegte Bühnen-Lesung im voll besetzten Fürther Stadttheater.

Als der Wagen des Verlegers Michel Gallimard am 4. Januar 1960 auf der Strecke von Paris in die Provence auf einen Alleebaum prallte, bedeutete dies auch das Ende des Beifahrers: des Schriftstellers und Philosophen Albert Camus. Auf dem Rücksitz überlebte aber ein 144seitiges Manuskript in einem Lederkoffer, das erst 34 Jahre später unter den Titel „Der erste Mensch“ erschienen ist. Mit diesem Roman wollte der Literatur-Nobelpreisträger Camus (geboren 1913) eine Suche nach seinen familiären Wurzeln und nach seinem Aufwachsen in der französischen Kolonie Algerien unternehmen. Er erfand dazu die Kunstfigur Jacques Cormery, das alter Ego des Verfassers, der sich als 40jähriger am Soldatengrab seines Vaters in die Vergangenheit zurückversetzt.

Martin Mühleis vom ensemble.sagas interpretiert diesen Text als exemplarischen Bildungs­roman, er konzentriert sich auf Passagen, die zeigen, wie es der kleine Jacques/Albert schafft, die bildungsferne Welt der Mutter (als Analphabetin) und der Großmutter (als gestrenges Familienoberhaupt) durch den Übertritt an ein Gymnasium in Algier zu verlassen und seine Lust auf Lernen, Lesen und Erkenntnis zu stillen. Schlüsselfigur (und Ersatz-Vater) ist dabei der Volksschullehrer Germain, der die Talente des Zehnjährigen erkennt, ihm ein Stipendium verschafft und damit die Bedenken der Großmutter zerstreut.

Im Mittelpunkt der literarischen Bühnenproduktion steht der vor allem als Frankfurter Tatort-Kommissar bekannte Schauspieler Joachim Król. Er sitzt hinter einem Lesepult auf einem hohen Barhocker und trägt mit großem stimmlichem und körperlichem Einsatz die Geschichte des kleinen Jacques vor. Mit Händen und Füßen verdeutlicht er die einzelnen Szenen: den Jagdausflug mit Onkel Etienne, die ritualisierte Kommunion, die Aufnahmeprüfung für das Lyzeum, die Preisverleihung an den herausragenden Schüler und die wenig erfreuliche, aber finanziell notwendige Ferienarbeit. Umrahmt wird Król von dem fünfköpfigen „Orchestre du Soleil“, das mit Akkordeon, Oud, Klarinette, Bass und Perkussion einen maghrebinischen Klangteppich als Hintergrund bereitstellt.

Der Theaterabend, den auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt, verbreitet eine positive Grundstimmung, eine Hoffnung auf Bildungs-Chancen­gerechtigkeit jenseits aller sozialen Unterschiede und entgegen allen zweifelnden OECD-Gutachten. Getrübt wird diese Atmosphäre nur durch die nervige dreimalige Warteschleife hinterher: an der Garderobe, am Kassenautomaten und an der Ausfahrt der Tiefgarage!

 

https://www.sagas.de/kuenstler/joachim-krol

 

Zum Nachlesen: Albert Camus: Der erste Mensch. Rowohlt Taschenbuch Verlag (Reinbek 1997), 288 Seiten, 10,00 €


Ein Volksfeind    ****

von Henrik Ibsen (deutsche Neufassung von Frank-Patrick Steckel)

Inszenierung: Jette Steckel

mit: Joachim Meyerhoff, Mirco Kreibich u.v.a.

Premiere am 18.11.2017 (Burgtheater Wien)

besuchte Aufführung am 24.10.2018

 

Als Henrik Ibsen seinen "Volkfeind" 1882 zur Uraufführung brachte, wusste er noch nichts vom Unkrautvernichter Glyphosat, von der Nitrat-Belastung des Grundwassers, vom Feinstaub und vom Ruß, den Diesel-Motoren ausstoßen, von Kohlekraftwerken, die unsere Klimaschutz-Ziele torpedieren. Wahrscheinlich war auch das verunreinigte Wasser in einem norwegischen Kurbad nur der Aufhänger, um etwas ganz anderes zu zeigen: eine kritische Betrachtung der bürgerlichen Gesellschaft und der Presse im Konflikt zwischen Interessen und Wahrheit. Nachdem nun heute sowohl die Umweltbelastung als auch die Suche der Öffentlichkeit nach belastbaren Fakten im Zentrum der politischen Agenda stehen, spricht vieles dafür, das Stück in einer aktualisierten Version auf die Bühne zu bringen.

Im Wiener Burgtheater tun dies Vater Frank-Patrick Steckel, der mit seiner deutschen Neufassung unsere vielgerühmte "Zivilisation" untersuchen will, und Tochter Jette Steckel, die den Text einfallsreich szenisch bebildert. Im Mittelpunkt stehen die beiden Antagonisten: der Badearzt Tomas Stockmann (Joachim Meyerhoff), der den Weg vom kritischen Reformer zum rebellischen Außenseiter glaubhaft verkörpert. Am Anfang genießt er noch die reinigende Kraft des Wassers, bald aber intoniert er am Esstisch mit seiner Familie den Michael-Jackson-Song "Man In The Mirror" mit den Zeilen "If you want to make the world a better place / Take a look at yourself, and then make a change". Nach der Pause springt er sogar aus seiner Rolle und fordert das be- und eventuell auch erleuchtete Publikum auf, eine veränderte Sehweise praktisch zu erproben. Auf der Bühne wird das tumbe Volk von einer bedrohlich wirkenden Schar von Riesenzwergen repräsentiert, die auf die leidenschaftliche (aber auch ambivalente) Rede des Arztes mit Schweigen und dem Druck der Masse reagieren.

Ganz anders die Überzeugungskraft des aalglatten Bürgermeisters Peter Stockmann (Mirco Kreibich), der seine rhetorisch gefeilten Argumente mit einer Eiskunstlauf-Kür unterlegt und für einen Doppelaxel Szenenapplaus bekommt. Merke aber: wir bewegen uns auf dünnem Eis, das auch noch unwiderruflich zu schmelzen droht!

In einem teils ironischen, teils Mut machenden Happy End wird schließlich das Rettende erwähnt: der das Badewasser verschmutzende Ledergerber Morten Kiil (Martin Schwab) erkennt plötzlich in seinen Enkeln seine Verpflichtung für die Zukunft und Nachhaltigkeit und legt ein halbwegs glaubhaftes Konzept für die Sanierung seiner Chemie-Pfütze vor, nicht ohne allerdings stolz vom finanziellen Erfolg seiner Aktienspekulationen mit dem Kurbad zu berichten. Und so erhält das Prinzip Hoffnung und der Optimismus (wie übrigens auch in der Originalfassung) noch einmal eine Chance.

 

https://www.burgtheater.at/de/spielplan/produktionen/ein-volksfeind/termine/2018-10-31/982032419/


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Die Möwe     ****

von Anton Tschechow

Inszenierung: Anne Lenk

Premiere am 29.9.2018 (Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus)

 

Ach ja, die Künstler! Sie verbringen die Sommerferien in noblen Landgütern und haben dabei nichts Besseres zu tun, als sich gegenseitig zu nerven, theoretische Kunst-Konflikte auszutragen, Beziehungsprobleme auszuwälzen, sich dabei vom sonstigen Personal (Gutsverwalter, Arzt, Lehrer) bildungsbürgerlich anhimmeln zu lassen und dieses gelangweilt zu ertragen. Zwei Schauspielerinnen und zwei Schriftsteller stehen im Zentrum von Tschechows Komödie, die nach der Pleite bei der Uraufführung 1896 mittlerweile zum Standardrepertoire deutschsprachiger Bühnen gehört.

In Nürnberg nahm Anne Lenk, die hier den Status als „Hausregisseurin“ zugesprochen bekam, den Gattungsbegriff ziemlich wörtlich und konstruierte aus dem melancholischen Stimmungsdrama ein teilweise fast schon grelles Figuren-Tableau, bei dem aber glücklicherweise keine Person zur Karikatur geschrumpft wurde. In dem sehr sparsam gehaltenen Bühnenkasten aus hellgrauen Platten (Judith Oswald) werden die zehn Akteure wie Schachfiguren platziert, die erstarrt auf ihre Einsätze warten. So lenkt fast nichts von der deutlichen (jedoch nicht immer klar verständlichen) Sprache (in der Übersetzung von Thomas Brasch) und von den konkurrierenden Emotionen ab.

Da ist der Mutter-Sohn-Konflikt zwischen der arrivierten Schauspielerin Arkadina (Ulrike Arnold mit divenhafter Attitüde) und dem Sturm-und-Drang-bewegten Jung-Autor Kostja (Cem Lukas Yeginer als Typ, den man eher bei einem Poetry Slam oder an der McDonalds-Theke verorten würde). Da ist des Weiteren die Dreiecksgeschichte zwischen der ambitionierten Jung-Schauspielerin Nina (Pauline Kästner), Kostja und dem Schriftsteller Trigorin (Amadeus Köhli als sanfter Liedermacher mit Hannes-Wader-Repertoire). Mascha, die Tochter des Gutsverwalters (Anna Klimovitskaya) betäubt ihren Liebeskummer mit einer großen Wodkaflasche und muss sich am Ende mit dem von der Sonne verbrannten, aber inhaltlich blassen Lehrer (Tjark Bernau) begnügen. Mit schräger Maske setzen die Kammerschauspieler-Restbestände der Kusenberg-Ära (Michael Hochstrasser, Thomas Nummer) kauzige Akzente. Auch die vom Himmel fallende tote Möwe und der finale Suizid-Schuss von Kostja - „nur ein Zwischenfall“ - können der nonchalanten Alltags-Atmosphäre nicht anhaben: das Bingo-Spiel geht weiter.

Regie und Dramaturgie haben das Stück unter Vernachlässigung der originalen Chronologie auf dichte zwei Stunden gekürzt, die in der Variation von laut und leise, von Monotonie und Ekstase zunehmend fesseln. Ein weiterer Baustein eines vielversprechenden Auftakts der Amtszeit Gloger!

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/die-moewe/11.10.2018/1930


Foto: Konrad Fersterer
Foto: Konrad Fersterer

Ein Stein fing Feuer       ****

„Die kahle Sängerin“, „Die Unterrichtsstunde“ und andere Texte von Eugène Ionesco

Inszenierung: Jan Philip Gloger

Premiere am 27.9.2018 (Staatstheater Nürnberg, Schauspielhaus)

 

Eine erwartungsvolle, gespannte Gruppe von Besuchern versammelte sich zur ersten Premiere im Schauspielhaus. Neuer Direktor, neues Ensemble, neues Design, neue Zielsetzungen („kreative Unruhe“, „überregionale Aufmerksamkeit“) - was könnte das bedeuten?

Vor 18 Jahren hatte Klaus Kusenberg seinen Freund Georg Schmidleitner als Regisseur ins Schaufenster gestellt und mit einer denkwürdigen „Margaretha di Napoli“ Akzente gesetzt. Diesmal inszenierte Direktor Jan Philip Gloger selber und entschied sich für ein Ionesco-Projekt als künstlerische Visitenkarte. Aus zwei Einaktern („Die kahle Sängerin“ und „Die Unterrichtsstunde“) sowie Prosatexten von Ionesco bastelte Gloger einen dreiteiligen (aber pausenlosen) Abend, der die Botschaften des absurden Theaters aus den frühen 50er Jahren mit der oft recht absurden Realität des 21. Jahrhunderts (Fake News, MeToo-Debatte etc.) konfrontierte.

Ionescos Stücke sind eine radikale Absage an die klassische Dramaturgie mit dem Dialog als Triebfeder, sie eignen sich als Musterbeispiele für ein Proseminar „Zum Scheitern der menschlichen Kommunikation“. Tragische Momente erwachsen aus der gnadenlosen Übertreibung der Groteske. Das erste Stück, „Die kahle Sängerin“ könnte eine Vorübung zu „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ oder zu „Gott des Gemetzels“ sein: die Ehepaare Schmidt (Julia Bartholome und Sascha Tuxhorn) und Martin (Lisa Mies und Maximilian Pulst) reden zielsicher aneinander vorbei, haben bemerkenswert abgedrehte Solo-Auftritte und werden in ihrem Nicht-Gespräch letztlich von der Haushaltshilfe (Annette Büschelberger) und vom mehrfachen Klingeln eines Feuerwehrmanns (Frank Damerius) unterbrochen.

Die Szene morpht sodann höchst originell in das nächste Stück („Die Unterrichtsstunde“), bei dem nun das gesamte Wohnzimmer-Interieur an einer senkrechten Wand fixiert ist (Bühne: Marie Roth). Dies lädt den Professor (wieder höchst präsent und sprech-mächtig: Sascha Tuxhorn) und die wissbegierige Schülerin (Süheyla Ünlü) zu wagemutigen Kletterpartien ein, während gleichzeitig ein absurder Nachhilfekurs in Arithmetik und Philologie stattfindet - die Schülerszene in Faust I lässt grüßen! So weit, so originell.

Dann aber hat sich Gloger für einen dritten Teil entschieden, in dem auf der fast leeren Bühne - nur zwei Zelte und ein Lagerfeuer sind zu sehen - Tagebucheintragungen und theoretische Texte von Ionesco szenisch verhandelt werden. Hier geht es ein bisschen erratisch-philosophisch um Gott und die Welt, um Krieg und Frieden, um Lüge und Wahrheit. Ein Neandertaler spielt mit Keule und Tablet, Alexander von Humboldt äußert Zeitkritisches: anything goes oder Die große Unübersichtlichkeit? Zum Schluss wird das Publikum auf die Bühne eingeladen, um mit einem Glas Sekt in der Hand die Erleuchtung zu entdecken. Aus dem Schnürboden senkt sich quasi als Deus ex machina eine kahle Sängerin im roten Abendkleid (Frank Damerius), die ein poppiges Nonsens-Lied trällert. Und als alle schon zum Schlussbeifall ansetzen wollen, beginnen plötzlich vier Nashörner in der 20. Reihe ein wirres finales Gespräch.

Intensiver Schlussbeifall für ein mutiges Bühnen-Unternehmen, dem am Ende etwas die Linie fehlt, das aber Spaß auf mehr macht.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-18-19/ein-stein-fing-feuer/14.10.2018/1700


Die Perser    ***

von Aischylos (wiedergegeben von Durs Grünbein)

Inszenierung: Ulrich Rasche

mit: Katja Bürkle, Valery Tscheplanowa, Patrycia Ziolkowska u.v.a.

Premiere am 18.8.2018 (Landestheater Salzburg / Salzburger Festspiele)

besuchte Aufführung am 26.8.2018

 

Xerxes hat Mist gebaut! Von persischem Boden darf nie mehr ein verlorener Krieg ausgehen! So zynisch-zeitgeistig könnte man die zentrale Botschaft von Aischylos' früher Tragödie aus dem Jahre 470 v.Chr. zusammenfassen. Aber natürlich geht es um mehr in diesem Stück, das als Warnung des (athenischen) Siegers, aber aus der Perspektive der (persischen) Verlierer geschrieben ist: es geht um die Hybris und um die Verblendung des persischen Jung-Königs Xerxes, der in seiner Eroberungswut grenzen- und gottlos wird und sich schließlich bei Salamis 480 v. Chr. von den listigen Athenern unter Themistokles in einer Seeschlacht trotz quantitativer Überlegenheit abkochen lässt.

Dass die Kraft des Theater aus dem Dialog kommt, ist hier nicht zu erkennen, denn Aischylos geht es vor allem um Klage, Klage, Klage. Durch längliche Botenberichte erfährt man vom Schlachtenunglück, der Chor des persischen Ältestenrates und die Königsmutter Atossa artikulieren böse Ahnungen, der heimgekehrte Xerxes monologisiert über sein tragisches Schicksal, der tote Vater Darius sendet aus dem Grab Warnungen.

Was also aus solchen eher gleichförmigen Textflächen machen? Regisseur Ulrich Rasche mutiert wieder zum Maschinenbauingenieur, Chorleiter und Sprachentschleuniger. Auf die eher kleine Bühne des Salzburger Landestheater hat er (wie alte Langspielplatten!) zwei große Drehscheiben montiert, eine davon mit massiver Hydraulik um bedrohliche Schräglagen zu erzeugen. Dem gleichmäßigen Drehtempo entspricht auch das Schreit- und Sprachtempo der Akteure, die trotz Bewegung eher Stillstand signalisieren. Auf der vorderen Scheibe agiert das Damentrio Katja Bürkle, Valery Tscheplanowa und Patrycia Ziolkowska: sie veranstalten eine bewegte Rezitation in Zeitlupe, die dem Text oft nicht vorhandene Tiefe einhauchen soll. Auf der hinteren Scheibe sind die lädierten Krieger festgezurrt, die eine Art Rückmarsch nach Susa verbildlichen. Unterlegt wird die zähe Deklamation durch Live-Musik eines fünfköpfigen Ensembles (Bratsche, Pauke, Bass, Marimba und Elektronik), das manchmal durch anschwellenden Lärmpegel Akzente setzt. Die teilweise ermüdenden vier Stunden bieten also außergewöhnliche Optik, Sprachballett mit Musik, ein bisschen Geschichtsunterricht und antike Tragödien-Ethik - oder um es zeitgeistig und zynisch (s.o.) zu sagen: viel Lärm um wenig Inhalt!

 

https://www.salzburgerfestspiele.at/schauspiel/perser-2018


Hunger ****

nach Knut Hamsuns Romanen "Hunger" und "Mysterien" in einer Fassung von Frank Castorf

Inszenierung Frank Castorf

mit: Sophie Rois, Kathrin Angerer, Marc Hosemann, Lars Rudolph u.a.

Premiere am 4.8.2018 (Perner-Insel, Hallein / Salzburger Festspiele)

besuchte Aufführung: am 10.8.2018

 

Frank Castorf, der nach dem Ende seiner Intendanz an der Freien Volksbühne Berlin über mehr Zeit verfügt, hat (wohl zusammen mit seinem Dramaturgen Carl Hegemann) ein Leseprojekt gestartet. Man studierte die beiden ersten Romane des norwegischen Autors Knut Hamsun ("Hunger" von 1890 und Mysterien" von 1892), analysierte die gefährliche Nähe, die Hamsun zum deutschen Nationalsozialismus und zu Adolf Hitler entwickelte und machte daraus einen sechsstündigen (!) Theaterabend, bei dem man freilich manchmal glaubt in einem Arthaus-Kino gelandet zu sein. Denn auf der markanten Drehbühne von Aleksandar Denic, die die vier Seiten eines rustikalen Holzhauses mit einer Art Reetdach und einer überraschenden McDonalds-Front vorzeigt, torkelt fast ständig ein dreiköpfiges Video-Team mit Kamera, Mikrofongalgen und Ausleuchtung, das das Geschehen im Inneren filmt und auf zwei große LED-Wände überträgt.

Die beiden Romane sind über weite Strecken innere Monologe einer Hauptperson - natürlich mit unübersehbarem autobiografischem Charakter - die sich als Außenseiter in einer norwegischen Großstadt bewegt. Bei "Hunger" ist es ein namenloser Fremder, der sein Geld als Schriftsteller verdienen will, jedoch keinen Verleger findet und immer mehr in eine wahnhafte Hunger-Askese abrutscht. Bei "Mysterien" ist es ein gelb gekleideter Künstler, der sich mit einem vom Stadt-Bürgertum gehänselten Menschen anfreundet und ihn von sich abhängig macht. Wie man solche Textwüsten spielbar macht, ist die große Kunst von Castorf und seinem ihm treu ergebenen Ensemble. Der Regisseur und der Bühnenbildner spielen mit wilden Assoziationen (NS-Symbolik!), die Schauspieler überzeugen mit vollem stimmlichen und körperlichen Einsatz, der manchmal in die expressionistische Klage von Edvard Munchs "Schrei" mündet, aber auch zeitweise in akustischen Terror und nervige Trash-Optik abdriftet. Dem Publikum bleibt die Wahl: entweder man lässt sich in diesen fast nicht endenden Bühnensog hineinziehen oder man verlässt spätestens nach der Pause die Spielstätte - was ungefähr ein Drittel tat! Die verbleibenden Aussitzer waren allerdings (zurecht) begeistert und feierten das achtköpfige Ensemble mit stehenden Ovationen. Ob man allerdings an diesem Abend mehr über Knut Hamsun - oder über sich und die Welt - gelernt hat als bei einem Volkshochschulkurs mit Leseproben und Autoren-Infos sei dahingestellt.

 

https://www.salzburgerfestspiele.at/schauspiel/hunger-2018


Philipp Lahm        ****

Von Michel Decar

Inszenierung: Robert Gerloff

Mit: Gunther Eckes

Premiere am 16.12.2017 (Residenztheater München, Marstall)

Besuchte Aufführung: am 10.6.2018 im Fürther Stadttheater (im Rahmen der Bayerischen Theatertage)

 

Fast jeder kennt Philipp Lahm als herausragenden Fußballer, als erfolgreichen FC-Bayern-München-Profi und als Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, die 2014 Weltmeister wurde. Der aufstrebende Theaterautor Michel Decar interessiert sich aber für Philipp Lahm als Symbol einer generationentypischen Lebenshaltung, als Verkörperung des Zeitgeistes der Nuller- und Zehner-Jahre des 21. Jahrhunderts.

So entstand das Monodrama „Philipp Lahm“, das Mitte Dezember am Münchner Residenztheater (Marstall) Uraufführung hatte (Regie: Robert Gerloff) und nun im Rahmen der Bayerischen Theatertage in Fürth vorgestellt wurde. In 72 Mikro-Szenen, die zusammen etwa die Länge eines Fußballspiels ausmachen, zeigt Schauspieler Gunther Eckes einen Menschen, dessen Alltag von Durchschnittlichkeit, Unanstößigkeit, Nettig­keit und permanenter Zufriedenheit geprägt ist. Da gibt es folglich gar nichts, was das traditionelle Drama ausmacht: keine Fallhöhe, keine Konflikte, keine Sehnsucht nach dem Dunklen, dem Abgründigen, keine Tragödien, keine reinigenden Katastrophen - oder mit dem ironischen Ton des Verfassers gesprochen: „Philipp Lahm hat den komplet­ten Shakespeare entwertet wie einen Einzelfahrausweis“.

Wir erleben also auf der dreiteiligen Bühne (Maximilian Lindner) die Banalität des Alltags im Hause Lahm: mit Fingernägel­schneiden, mit Tagesschau-Gucken und mit der Bestellung eines Liefer-Menüs. Dazwischen sondert Eckes/Lahm Merksätze fürs postmoderne Poesiealbum ab wie „Ich denke, die BRD ist als Staat ganz okay“ oder „Ich versuch positiv zu bleiben und das Beste aus meinem Leben zu machen“. Zwischen­durch knabbert der Protagonist ein bisschen an der Nussschokolade und trällert zur Melodie des Beatles-Klassikers „With A Little Help From My Friend“ Erbauliches zum Sinn der EU. Natürlich merkt jeder, dass dieser positive Gleichmut eines deutschen Lieblings-Schwiegersohns (wahrscheinlich Platz 2 hinter Günther Jauch?) ständig hintergründig gebrochen wird und letzten Endes beim Zuschauer die interaktive Frage ankommt: „Sind wir nicht alle ein bisschen Philipp Lahm?“

Eines ist auf jeden Fall sicher: der echte Philipp Lahm würde dieses Stück nicht schon nach zwanzig Minuten verlassen wie etwa zwanzig Fürther Theater-Besucher, die wohl eher eine Sportler-Jubel-Präsentation erwartet hatten. Und der echte Philipp Lahm würde hinterher auf die Frage des Theaterkritikers nach seinem Urteil antworten: „Alles okidoki!“

 

https://www.residenztheater.de/inszenierung/philipp-lahm


Raumstation Sehnsucht

Songs Of Love And Change ****

Von Bettina Ostermeier und Friederike Engel

Inszenierung: Patricia Benecke

Premiere am 2.6.2018

Staatstheater Nürnberg (Schauspielhaus)

 

Im Schauspiel des Staatstheaters Nürnberg ist derzeit viel time to say goodbye. Zum einen verlässt Direktor Klaus Kusenberg nach 18jähriger Dienstzeit die gewohnte Umgebung und setzt damit einen gewaltigen Maßstab für die Halbwertszeit von künstlerischen Leitern an deutschen Theatern, die anderswo immer mehr auf das Maß von Profi-Fußballtrainern herabsinkt. Zum anderen müssen sich auch ca. 75 Prozent des künstlerischen Personals verabschieden, weil Jan Philipp Gloger die Idee vom Neuanfang und von der kreativen Unruhe sehr wörtlich nimmt.

Während Kusenberg Ende Juli mit zwei (vermutlich wehmütigen) Abenden verabschiedet wird, sagt das Ensemble bei der letzten Premiere im großen Haus gar nicht leise „Servus“. Bettina Ostermeier (Musik) und Friederike Engel (Story) haben sich dazu einen poppigen Liederabend in der Tradition von Franz Wittenbrink („Sekretärinnen“) ausgedacht, der vor allem eines soll: Spaß machen. Die selbstverständlich fast sinnfreie Geschichte erzählt von einer Startrampe am Albrecht-Dürer-Airport (mit Duty Free Shop und Cocktailbar), an der eine Reihe von Akteuren auf den Abschuss ins Weltall warten. Daraus entwickeln sich einige zwischenmenschliche Dramen, aber vor allem 23 Songs aus der Musikgeschichte der letzten 50 Jahre.

Elke Wollmann kommt als Bio-Bienenretterin und versucht sich an Michael Jacksons „Earth Song“, Bettina Langehein stöckelt als französisches It-Girl durch die Szene und freut sich auf „Voyage, Voyage“, Lilly Gropper präsentiert sich als junge Madonna und als „Digital Girl“, mit Tablet und Kopfhörern bewaffnet. Frederik Bott enthüllt bislang unbekannte gesangliche Qualitäten als missverstandener Sohn, der rotzfrech Lenny Kravitz‘ „Fly Away“ schmettert, Marco Steger sucht nach seiner Weltraum-Prinzessin und läutet stimmstark den „Final Countdown“ ein. Die große Show liefert schließlich Josephine Köhler ab, die sich variantenreich „Somewhere Over The Rainbow“ wegträumt. Als verstörter Problem-Hase stolpert schließlich noch Stefan Willi Wang über die Bühne und singt fast autobiografisch in dem Radiohead-Titel „Creep“: „I’m a weirdo / What the hell am I doing here? / I don’t belong here“.

Zu Haus bleiben müssen (?) der Reiseleiter Frank Damerius, der am Ende mit Joni Mitchells „Both Sides Now“ ganz melancholisch wird, und der notorische blinde Passagier Michael Hochstrasser, der eine täuschend echte Leonard-Cohen-Kopie („Traveling light“) abliefert.

Auf einem hinteren Bühnenpodium agiert die sehr gut eingespielte achtköpfige Band um Bettina Ostermeier, hellwach - ganz entgegen ihrer Schlafanzug-Kostümierung. Sie lassen sich auch nicht vom intensiven Auf und Nieder der Bühnen-Mechanik, die hier noch einmal radikal ausgeschöpft wird, irritieren.

Der kurzweilige Abend bringt launige Assoziationen zum Thema Raumfahrt mit E.T.-Telefonat, Star-Wars-Floskeln, Star-Trek-Monturen und mit einer Schweine-im-Weltall-Tanzformation. Direkt vor dem Publikum ist die Ikea-Kinderparadies-Zone mit einem Pool aus blauen Kunststoff-Bällen, in dem immer wieder einzelne (und mehrere) Personen baden gehen (Bühne: Franziska Isensee). Am Ende hebt die Rakete nach Nirgendwo ab und entpuppt sich als lokales Design-Objekt: es sind jetzt mindestens sieben arme Würstchen in einem Weggla! Da fehlt nur noch der klassische Hesse-Sinnspruch, dass jedem Abschied ein neuer Anfang innewohne.

Das Publikum ist am ausverkauften Premieren-Abend sichtlich froh, einmal nichts interpretieren und keine gedanklichen Tiefbohrungen anstellen zu müssen; das furiose Ensemble wird mit stehenden Ovationen verabschiedet.

 

https://www.staatstheater-nuernberg.de/index.php?page=schauspiel,veranstaltung,raumstation_sehnsucht_ua_,109723


Tiefer Schweb    ****

Von Christoph Marthaler

Inszenierung: Christoph Marthaler

Premiere am 24.6.2017

Besuchte Aufführung: 12.11.2017

Kammerspiele München

 

Nachdem Christoph Marthaler die Freie Volksbühne im Zorn verlassen hat, präsentiert er sein neues Theaterprojekt an den Kammerspielen München. Bei der letzten Berliner Produktion „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ war ein zunächst leerer Raum des Naturkundemuseums Basel die Spielfläche, nun entsendet er acht Darsteller in die Tiefen des Bodensees, genauer in die „geheime Klausurdruckkammer 55b“, wo sie im Auftrag der Verwaltungsbehörde einen Krisen-Ausschuss bilden sollen. An der Oberfläche des Dreiländersees haben sich nämlich auf mehreren Fahrgastschiffen aufgrund menschlicher Mobilität „Temporärheimaten“ gebildet - der aktuellen politischen Problematik (Flüchtlingskrise) will und kann also auch Marthaler nicht ausweichen.

Doch trotz energischer Ansagen des Ausschussvorsitzenden zerbröselt die Arbeit des Ausschusses nach kurzer Zeit in ein absurdes Theater, voll von schrägen Texten, merkwürdigem Singsang und repetitiven Bewegungsabläufen. Es wird der Name des Bodensees in alle Weltsprachen übersetzt, es werden die Inhaltsstoffe von Weißwürsten rezitiert, die Tugenden eines Ausschusses von A bis Z herausgebrüllt und Urinale über den Kopf gestülpt; das Marthalersche Dada-Kabarett feiert also fröhliche Urstände. Dabei sind die pausenlosen zwei Stunden in jedem Fall unterhaltsam, da jeder Zuschauer sich seine eigenen Assoziationen durch den Kopf gehen lassen und sich an Kafka-Aphorismen (Ungeduld und Lässigkeit) sowie an Heidegger-Phrasen (über das Nicht-Wollen), die beim Steh-Pinkeln ausgetauscht werden, erfreuen kann. Der Höhepunkt kommt, wenn drei Hammond-Heimorgeln hereingeschoben werden und Ueli Jäggi das Stück „A Whiter Shade Of Pale“ von Procol Harum anstimmt - übrigens ein Song mit drogen-affinem Text-Material! Dann folgt noch eine Personen-Polonaise durch den Kaminofen (Bühne: Duri Bischoff), schon stehen alle in putzigen Trachten auf der Eiche-Rustikal-Bühne und die fabelhafte Annette Paulmann schmettert das Lied von der „Fischerin vom Bodensee“, zu dem Hassan Akkouch einen schmissigen Breakdance-Schuhplattler aufs Parkett legt. Am Ende entblättert sich der ganze Ausschuss bis auf die Unterwäsche und einer beginnt wie wild die Druckkammer mit Dachlatten und Stacheldraht zu verbarrikadieren - ein bildlicher Verweis auf die Festung Europa, die dem Untergang geweiht ist?

Wer sich also an der Form des Liederabends (im Sinne von Franz Wittenbrink), aufgepeppt mit poetisch-surrealen Textbausteinen und durchzogen von politisch-philosophischen Denkanstößen, erfreuen kann, ist mit Marthalers Münchner Inszenierung bestens bedient.

 

https://www.muenchner-kammerspiele.de/inszenierung/tiefer-schweb


Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter      ****

von Christoph Marthaler, Anne Viebrock & Ensemble

Inszenierung: Christoph Marthaler

Premiere am 21.9.2016

Besuchte Aufführung: 19.5.2017

Mit Sophie Rois, Irm Hermann u.v.a.

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin

 

Es ist ein kurzer Theater-Brief zum langen Abschied von der Berliner Volksbühne, den Christoph Marthaler samt Ensemble verfasst hat. Denn auch er wird (wie manche anderen stilbildenden Regisseure) nach dem Ende der Castorf-Ära unter dem neuen Intendanten („Kurator“) Chris Dercon nicht mehr am Rosa-Luxemburg-Platz arbeiten wollen. Somit dürfte dann am 18. Juni 2017 die letzte Chance sein, diese eigenwillige Produktion, eine Mischung aus absurdem Theater, Bewegungs-Theater und meditativem Singspiel vor Ort anzuschauen. Wer sich allerdings von dem gut zweistündigen (pausenlosen) Theaterabend eine dramatische Handlung, pointierte Dialoge oder gar psychologische Entwicklungen einzelner Personen erwartet, wird enttäuscht sein. Marthaler stellt dagegen - wie der an Botho Strauß erinnernde Titel verspricht - Gesichter und Gefühle aus, präsentiert sein Ensemble als Bilder einer Ausstellung, die von einem Hausmeister (Marc Bodnar) herein- und herausgeschoben werden. Dazu passt auch der hohe Raum von Anna Viebrock, der dem Vorbild des derzeit leer stehenden Naturkundemuseums in Basel nachempfunden wurde. Im Hintergrund sorgt der Bühnenaufzug für Bewegung. Die menschlichen Exponate treten dann in eine fragile Beziehung zueinander, vermischen sich, lösen sich auf und singen andächtige Lieder von „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ bis zu Gustav Mahlers „Ich bin aus tiefem Traum erwacht“. Zur Begleitung stehen am Bühnenrand vier alte Heimorgeln, die von Bendix Dethleffsen und Jürg Kienberger bedient werden. Die Start-Auftritte und die Bewegungen der Personen im Raum haben teilweise artistische (Olivia Grigoli), teilweise clowneske Züge (Magne Havard Brekke). Recht selten fallen auch Sätze: Irm Hermann zum Beispiel beschwert sich gleich am Anfang: „Ich hasse diese Wanderausstellungen“. Später öffnet sie umständlich Glückskekse und verliest die aufmunternden Botschaften: „Du sollst dich im Zweifel für das Richtige entscheiden!“ Ansonsten werden einfach mal absurde Wortfetzen wie Teebeutel eingeworfen. Diese Kollektiv- und Musik-Performance entfaltet zunehmend einen Sog, dem sich der Zuschauer nur schwer entziehen kann, auch wenn sich das Geschehen einer aufgeklärten Analyse weitgehend entzieht. Der Kritiker der „Berliner Zeitung“ verfiel wohl gar in einen traumhaften Schlaf und vermeldete an Ende: „Nicht wecken, bitte“. Bei der Laudatio für Christoph Marthaler, der für diese Produktion im Mai 2017 den Friedrich-Luft-Preis der Berliner Morgenpost erhielt, wünschte sich Kultursenator Klaus Lederer noch viele Chancen, den Theater-Utopisten in Berlin zu sehen - fragt sich nur, eventuell wo!

 

http://www.volksbuehne-berlin.de/praxis/bekannte_gefuehle_gemischte_gesichter/


Abendmahl im Auerhaus: Frieder (Christoph Franken) bricht das Brot
Abendmahl im Auerhaus: Frieder (Christoph Franken) bricht das Brot

Auerhaus ***

Nach dem Roman von Bov Bjerg

in einer Fassung von Nora Schlocker und Birgit Lengers

Inszenierung: Nora Schlocker

Premiere am 21.5.2017

Deutsches Theater Berlin (Kammerspiele)

 

Nachdem „Auerhaus“, der kleine, aber feine Roman von Bov Bjerg, am Ende des Jahres 2015 mit frenetischen Rezensionen überschüttet wurde, kletterte er rasch in die Bestsellerliste und erlebt nun (wie bei Wolfgang Herrnsdorfs „Tschick“) den Prozess der multimedialen Weiterverwertung. Das Radio Berlin-Brandenburg produzierte ein Hörspiel, die Constantin arbeitet derzeit an einer Verfilmung (Produzent: Oliver Berben) und im Deutschen Theater Berlin sollte schon im Oktober 2016 eine Theaterfassung uraufgeführt werden. Wegen Erkrankung konnte man diesen Termin nicht halten, deshalb kam das Schauspiel Düsseldorf in den Genuss der deutschen Erstaufführung, die Berliner Version erlebte erst jetzt ihre Premiere.

Die dialoglastige Geschichte erzählt von sechs jungen Erwachsenen (vier davon stehen kurz vor dem Abitur), die sich zu einer „therapeutischen“ WG im Auerhaus (benannt nach dem häufig auf dem Kassettenrecorder laufenden Song „Our House“ von Madness) zusammenschließen und in dieser Idylle der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für eine gewisse Zeit Abstand zu ihren mehr oder weniger schlimmen Alltagsproblemen finden.

Nora Schlocker hat sich in ihrer Inszenierung für die Kammerspiele des Deutschen Theaters Berlin mit großer Energie auf die symbolgeladene Bildsprache des Romans gestürzt: der suizidgefährdete Frieder (Christoph Franken) bahnt sich mit einer Axt den Weg auf die Bühne (Jessica Rockstroh), dieselbe Axt verwendet er auch um den örtlichen Weihnachtsbaum provokativ umzuhauen (der Stumpf steht dann als kleine Installation während der Pause im Foyer!). Am Anfang schleppt sich Frieder weißgekalkt mit Unterhose und Hunde-Beißmanschette ins Rampenlicht, um dann von seinen WG-Genossen reingewaschen zu werden. Das Auerhaus symbolisiert ein selbstzementiertes Rechteck auf der schwarzen Bühne, das von den Bewohnern grundsätzlich nur barfuß betreten wird. Die sechs jungendlichen Akteure spielen neben den Auerhaus-Insassen auch einige Erwachsenen-Rollen als klischeehafte Charakter-Masken. Nach der Pause dürfen die Zuschauer sogar im Sinne eines Perspektivenwechsels Teilnehmer der rauschenden Silvester-Feier auf der Bühne werden. Leider bleiben die anderen Rollen, vor allem der Erzähler Höppner (Marcel Kohler) etwas blass und die musikalische Grundierung des Romans ist wenig präsent. Somit erinnert die verspätete Berliner Produktion an ambitioniertes Jugendtheater, das dem Zuschauer nie ganz vermitteln kann, weshalb er nach der Lektüre des Romans auch noch ins Theater gehen soll.

 

https://www.deutschestheater.de/programm/spielplan/auerhaus/1903/


Foto: Werner
Foto: Werner

Pension Schöller ***

von Carl Laufs und Wilhelm Jacoby

Inszenierung: Andreas Kriegenburg

Premiere: 22.10.2016 / besuchte Aufführung: 30. 10. 2016

Burgtheater Wien

 

Die Grenzen zwischen Normalität und Abweichung beschäftigen die menschliche Gesellschaft seit einigen Jahrhunderten; in Dürrenmatts Schauspiel "Die Physiker" stellte sich heraus, dass das Irrenhaus der einzige Platz ist, wo ein normaler Mensch in Ruhe leben kann. Wie man mit diesem Thema die bürgerliche Gesellschaft der wilhelminischen Zeit verstören oder zum Lachen bringen kann, erprobten Carl Laufs und Wilhelm Jacoby in ihrem Schwank "Pension Schöller", der 1890 in Berlin uraufgeführt wurde. Dem wohlsituierten Herrn Klapproth werden im vermeintlichen Irrenhaus "gestörte" Typen vorgeführt, in Wahrheit handelt es sich nur um skurrile und liebenswerte Bewohner einer Frühstückspension. Als da sind der spontane Weltreisende Bernhardy im Tropenanzug (Michael Masula), die leidenschaftlich nach Groschenroman-Stories suchende Schriftstellerin Krüger (Christiane von Poelnitz), der knorrige Major Gröber (Dietmar König) und der Hobby-Schauspieler mit Sprachfehler, Eugen Rümpel (Max Simonischek). Sie alle sorgen für die schwanktypischen Irrungen und Wirrungen, besonders als sie im letzten Akt in die private Welt Klapproths einbrechen. Doch ebenso genretypisch löst sich am Ende alles in Wohlgefallen und innige Paarungen auf. Regisseur Andreas Kriegenburg versucht nun in den ehrwürdigen Mauern des Wiener Burgtheaters die vormoderne Posse in ein postmodernes Comedy-Stück zu verwandeln und in jedem Moment ist die panische Angst zu verspüren, diesen Klamauk auf dem Niveau eines Millowitsch-Theaters zu verhandeln. Es wird also viel Symbolisches und Meta-Ebenenhaftes aufgepfropft: gleich am Anfang platziert der Zahlkellner systematisch eine Bananenschale, Holzlatten werden slapstickhaft geschwungen, Cafe-Tischplatten werden umständlich gehalten und Stühle dienen vorwiegend zum Umfallen. Die Bühne (Harald B. Thor) besteht schließlich aus fünf Backstein-Bauteilen, die zusammen das Wort "Smile"(!) ergeben und viele Auftritts- sowie Abgangstüren enthalten. Die Schauspieler dürfen in manchen Dialogen und Monologen scheinbar frei paraphrasieren und zu kühnen Wortspielen (wie beim Einführungskurs auf der Schauspielschule) ausholen. Inhaltliche Neuschöpfungen wie die Einführung eines Obdachlosen als Spielzeug der zwei jüngeren Mädchen weisen verdächtig in die Richtung Dekonstruktion oder gar Lehrhaftigkeit. Dass trotz dieser recht gewollten Regie-Marotten der ursprüngliche Spaß nicht ganz versandet, ist erstaunlich. Dass trotz einer äußerst länglichen Exposition und mancher schwadronierenden Exkurse das Publikum den gut dreieinhalb Stunden (die Verfilmung von 1960 dauerte knackige 90 Minuten!) überwiegend amüsiert folgt, ist den spielfreudigen und präzisen Akteuren zu verdanken. Zum Ende bleibt dann nur noch die tiefsinnige Frage, ob dieser Käfig voller Narren wirklich am Bühnenrand endet.

 

http://www.burgtheater.at/Content.Node2/home/spielplan/event_detailansicht.at.php?eventid=966466358