Sprach-Leere 1: Narrativ, das
Die EU sucht seit Jahren danach, die CDU hat den ganzen Wahlkampf lang danach gefahndet, und für eine mögliche neue Ampelkoalition wird schon jetzt in diversen Talk-Shows auf die Notwendigkeit hingewiesen: ein Narrativ muss her! Für Fremdwort-Verweigerer und Nicht-Humanisten kann man alternativ auch von einer Erzählung sprechen. Bislang sind aber bestenfalls Schlagworte zu hören: Klima-Koalition, Zukunfts-Koalition, Fortschritts-Koalition oder Reform-Koalition.
Der Duden erklärt das mittlerweile inflationär gebrauchte Substantiv so: ein Narrativ ist eine verbindende, sinnstiftende Erzählung. Homers Odyssee soll möglicherweise für die griechische Antike, die Nibelungensage für deutschnationale Ambitionen eine solche Funktion gehabt haben. Das Narrativ vom Tellerwäscher, der zum Millionär wird, bildete die Legitimation des US-amerikanischen Ellbogen-Kapitalismus.
Bei nüchternen und harten Koalitionsverhandlungen wäre aber heute mehr politische Rationalität am Platze. Den Narrativ-Aposteln geht es vor allem um die Verhinderung einer negativ konnotierten Bewertung, nämlich der vom „faulen Kompromiss“. Dabei ist der Kompromiss ein Wesenselement der Konkurrenzdemokratie, er steht leider im Widerspruch zu den Glücksversprechungen im vorausgegangenen Wahlkampf.
Insofern ist mit einem gewissen Grimm brüderlich davor zu warnen, dass zu viel Erzählungen im politischen Diskurs letztlich in das Reich der Märchen führen!
Sprach-Leere 2: Spaltung der Gesellschaft, die
Ein weit verbreitetes Motiv in politischen Kommentaren ist die Klage über die Spaltung von Gesellschaften oder gesellschaftlich relevanten Gruppen. Präsident Trump spaltet die USA, England ist gespalten über das Ja oder Nein zum Brexit, die SPD ist gespalten in der Frage einer Fortführung der Großen Koalition. Dabei wird aber übersehen, dass diese Zustände das ganz normale Ergebnis einer Konkurrenzdemokratie sind: in den USA hat sich ein knappe Mehrheit für den derzeitigen Präsidenten entschieden, in England hat eine knappe Mehrheit für den Ausstieg aus der EU gestimmt, in der SPD hat eine knappe Mehrheit für den erneuten Einstieg in eine Große Koalition gestimmt.
Wenn es gemäß der politikwissenschaftlichen Theorie stimmt, dass Wahlen und Abstimmungen in einer Demokratie nicht nur der Legitimation und der Kontrolle der Regierenden sondern auch der Integration der Wähler in das politische System dienen, dann müsste die unterlegene Minderheit mit der getroffenen Entscheidung Frieden schließen und auf die nächste Möglichkeit warten, die Verhältnisse zu ändern. Dies erfordert freilich ein hohes Maß an Abstraktionsfähigkeit und politischer Rationalität, die in einer permanent erregten Gesellschaft kaum noch zu erreichen ist.
Hinter der Warnung vor der Spaltung steckt leider auch ein latent antidemokratischer Wunsch nach Einheit und Harmonie, eventuell sogar nach einem starken Führer, unter dem die Einheit der Gesellschaft - jenseits von den Zänkereien der Parteien - wiederhergestellt wird. Wer diesem autoritativem Irrglauben nicht anhängen will, muss akzeptieren, dass Streit und damit auch Spaltung ein konstitutives Merkmal demokratischer Gesellschaften ist.
Davon unabhängig ist es freilich zulässig, die Methoden des politischen Streits zu analysieren und gewisse zivilisatorische Standards einzufordern. Weiterhin bietet das Instrumentarium demokratischer Verfahren auch Regelungen an, die eher dem Ideal der Konsensdemokratie verpflichtet sind: etwa die rechtliche Vorschrift, das gewisse Entscheidungen nur mit einer qualifizierten Mehrheit (etwa einer Zweidrittel-Mehrheit) durchgeführt werden können. Dies wäre im Falle des britischen Brexit-Dramas eine befriedende Vorsorge gewesen.